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Krieg in der Ukraine: »Ich dachte, ich hätte diesen Horror vergessen«

In der Ukraine herrscht wieder Krieg. Einige Forscher und Studierende suchen Schutz, andere bewaffnen sich, um zu kämpfen. »Wir denken nicht an die Forschung«, sagt einer. Berichte von vor Ort.
Ein Freiwilliger der Territorialverteidigung kommt aus einem mit Molotowcocktails gefüllten Graben, der entlang einer Allee gegenüber dem nationalen Fernsehen in Kiew ausgehoben wurde. (1. März 2022)

»Ich habe das schon vor acht Jahren überlebt«, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Illya Khadzhynov. »Ich komme aus Donezk.« Als Khadzhynov und die Welt am 24. Februar 2022 erfuhren, dass Russland in die Ukraine, einschließlich der Hauptstadt Kiew, einmarschiert war, sah sich die ukrainische Bevölkerung gezwungen, unmögliche Entscheidungen zu treffen: bleiben und Schutz suchen, versuchen zu fliehen oder für ihr Land kämpfen.

Noch immer wird gekämpft. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte, russische Panzer hätten das Atomkraftwerk Saporischschja beschossen. Ein dortiger Brand soll wieder gelöscht sein. Die Hafenstadt Mariupol gilt als von russischen Truppen eingeschlossen. Auch in Kiew und Charkiw gibt es Gefechte.

Wie lange der Krieg andauern wird, ist unklar. Russland und die Ukraine haben zwar schon zweimal miteinander verhandelt, es soll jedoch eine dritte Verhandlungsrunde geben. Was sie derzeit in ihrer Heimat erleben, haben ukrainische Forscher dem Magazin »Nature« geschildert.

Einige Wissenschaftler berichten, ihre Kollegen und Studenten haben sich bewaffnet, um ihr Land zu verteidigen. Andere seien für ihre Familien in den Städten geblieben und lebten nun inmitten der Verwüstung, die der russische Beschuss von Wohn- und Universitätsgebäuden angerichtet hat. »Wir denken nicht an die Forschung«, sagt Khadzhynov.

Die Luftangriffe in der Ukraine dauern an

Khadzhynov ist Vizerektor für wissenschaftliche Arbeit an der Vasyl' Stus Donetsk National University. Im Jahr 2014 zog die Universität nach Winnyzja um, da sie durch den Konflikt in der Region Donbas, die zum Teil von Separatisten beansprucht wird, vertrieben wurde. »Sie zog nach Winnyzja um, ohne Ressourcen, ohne Gebäude. Sie erlebte eine Wiedergeburt«, sagt Khadzhynov.

Khadzhynov erinnern die Ereignisse der vergangenen Woche an jene Zeit, als er gezwungen war, seine Heimatstadt nach 35 Jahren zu verlassen. »Es ist das zweite Mal in meinem Leben, dass dies geschieht. Ich dachte, ich hätte diesen ganzen Horror vergessen. Leider wiederholt er sich jetzt.«

»In Donezk gab es keinen Luftalarm, sie haben einfach angefangen zu schießen«
Illya Khadzhynov, Wirtschaftswissenschaftler

Als Russland am 24. Februar 2022 angriff, saß Khadzhynov gerade im Zug nach Kiew. Er erhielt eine SMS von seinem Bruder: Die Invasion habe begonnen, hieß es. Khadzhynov stieg an der nächsten Haltestelle aus und fuhr zurück nach Winnyzja. Die Vorlesungen an der Universität wurden sofort online übertragen. Das Wohlergehen der Studierenden hatten Priorität.

»Wir denken zuerst an unsere Studenten und Mitarbeiter – was sollen wir tun und was sollen wir ihnen sagen«, sagt er. »Das Wichtigste ist, psychologische Hilfe und Unterstützung für ihre geistige Gesundheit zu geben.« Khadzhynov hatte keine russischen Streitkräfte in Winnyzja gesehen, als er am 2. März 2022 mit »Nature« sprach, und war jeden Tag zur Arbeit an seine Universität gefahren. Er sagte jedoch, dass die Luftangriffswarnungen andauern würden. »Der Luftalarm hilft uns. In Donezk gab es keinen Luftalarm, sie haben einfach angefangen zu schießen.«

Viele Studentinnen und Studenten an Khadzhynovs Universität haben sich der Territorialverteidigung angeschlossen, die allen Erwachsenen, die bereit sind, das Land zu verteidigen, Waffen aushändigt; etwa 18 000 Waffen wurden ausgegeben. Die Ukraine hat die Einberufung aller Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren angekündigt, aber Studierende und Personen, die an Universitäten oder in wissenschaftlichen Positionen lehren, sind davon ausgenommen, sagt Khadzhynov.

Russischer Angriff | In Kiew sind Wohnhäuser zerstört, einige Bewohner wurden verletzt. Andere hatten die Nacht in einem Schutzraum der nahe gelegenen Schule verbracht.

In Kiew: »Wir hören jeden Tag Granatenbeschuss«

»Wahrscheinlich kommt es zum nächsten russischen Bombardement«, sagte Maksym Strikha, Physiker an der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität Kiew, am 1. März 2022 in seiner Wohnung im Zentrum von Kiew. »Wir hören jeden Tag Granatenbeschuss.«

Die Frontlinie war laut Strikha zum Zeitpunkt des Gesprächs etwa 30 Kilometer entfernt, und kleine Gruppen russischer Soldaten versuchten immer wieder, in die Stadt einzudringen, seien aber bisher von ukrainischen Soldaten aufgehalten worden. Viele jüngere Studenten an seinem Institut haben sich ebenfalls entschlossen zu kämpfen. »Sie befinden sich entweder auf dem Schlachtfeld oder unterstützen die Armee«, sagt er. Kollegen in seinem Alter und älter – Strikha ist 60 – seien zu alt, um zu kämpfen.

»Ich kann keine Pläne machen«, sagt Strikha. »Gestern habe ich Kollegen den Entwurf meines Handbuchs über Festkörperphysik in der Ukraine geschickt.« Sollte er dazu nicht mehr in der Lage sein, »kann vielleicht jemand dieses Handbuch bearbeiten und veröffentlichen«.

»Wir befinden uns während der Bombardierungen und in der Nacht in Luftschutzkellern«
Yuriy Danko, Wirtschaftswissenschaftler

Östlich von Kiew, 30 Kilometer von der nordöstlichen russischen Grenze entfernt, liegt die Nationale Agraruniversität Sumy. Yuriy Danko, Wirtschaftswissenschaftler und Vizerektor für wissenschaftliche Arbeit am Institut, berichtet, dass Wohnheime und Universitätsgebäude beschossen und beschädigt wurden. »Alle Fenster sind zerbrochen, alle Türen sind zerbrochen, alle Böden sind zerstört.« Und: »Es gibt Opfer. Darunter viele unter der Zivilbevölkerung.«

Einige Studierende hätten die Stadt verlassen, sagt der Wirtschaftswissenschaftler weiter, die meisten aber seien geblieben. »Studenten und Wissenschaftler haben heute zu den Waffen gegriffen.«

Am 1. März 2022 war Danko an der Universität, um den etwa 400 Studierenden zu helfen, die noch keine Zeit hatten, die Stadt zu verlassen, und sich noch in den Studentenwohnheimen aufhielten. Darunter sind 170 Studenten aus anderen Ländern, etwa China, Indien und Nigeria. »Es ist derzeit unmöglich, sie fortzubringen. Wir befinden uns während der Bombardierungen und in der Nacht in Luftschutzkellern.«

Koordinierte Hilfe für Forschende und Studierende in der Ukraine

Von Riga aus koordiniert Sanita Reinsone, Forscherin für digitale Geisteswissenschaften an der Universität von Lettland, die Bemühungen zur Unterstützung der ukrainischen Wissenschaftler. Am 26. Februar 2022 richtete sie einen Twitter-Account mit dem Hashtag #ScienceforUkraine ein, der inzwischen rund 4500 Follower hat.

Zunächst boten Institute, Universitäten und Forschungsorganisationen weltweit moralische Unterstützung an. Doch innerhalb weniger Tage lieferten viele dann detaillierte Informationen über Stipendien und boten sogar an, Gehälter für ukrainische Forscher zu zahlen. »Ich hatte nicht erwartet, dass die Aufrufe zur Unterstützung so umfangreich sein würden«, sagte Reinsone. »Bislang habe ich 50 Organisationen zusammengestellt, aber es könnten weltweit mehr als 100 sein.« Es sind Angebote von Chile bis Japan eingegangen.

Reinsone übernahm die Aufgabe, die Angebote zu organisieren, nachdem sie das Gefühl hatte, nicht tatenlos zusehen zu können, wie ein Nachbarland unter der russischen Aggression zu leiden hatte. »Es war eine persönliche Angelegenheit für mich«, sagt sie. Ein Spezialist für Informationstechnologie aus ihrer Abteilung half, eine Website zu erstellen, die eine Karte mit Universitäten in aller Welt und deren Unterstützungsangeboten zeigt. »Ukrainische Stipendiaten haben nicht die Zeit, diese Angebote einzeln zu durchsuchen, deshalb wollen wir alle Details an einem Ort zusammenfassen«, sagt sie.

Einen Kontinent weiter, in Lexington, Massachusetts, erinnert die Situation in der Ukraine den Physiker George Gamota an seine Kindheit. Im Alter von fünf Jahren floh er 1944 mit seiner Familie aus der Ukraine und kam 1949 in den Vereinigten Staaten an. Nach einer Karriere in den Bell Labs, im Pentagon und als Institutsleiter an der Universität von Michigan half er der Ukraine nach ihrer Unabhängigkeit viele Jahre lang bei der Entwicklung ihres Wissenschaftssystems, unter anderem als Mitglied eines von der ukrainischen Regierung eingesetzten neunköpfigen internationalen Ausschusses.

»Vor sechs Monaten war ich begeistert, dass junge Menschen in Labors arbeiten und Abteilungen leiten, was sehr ungewöhnlich war«, sagt Gamota. »Was jetzt passieren wird, kann man nur vermuten«, sagt er. In einem Szenario könnte Russland einen Regimewechsel herbeiführen und eine kremlfreundliche Regierung einsetzen. »Das wäre eine Tragödie, denn dann würden noch mehr junge Menschen fliehen, und die Chancen der Ukraine, sich wirklich zu entwickeln, würden zunichtegemacht.«

Was, wenn es in der Ukraine zu einem Regimewechsel kommt? Für Khadzhynov ist die Antwort klar: »In diesem Fall werde ich ins Ausland gehen.«

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