Krieg in der Ukraine: Realitätscheck für die Raumfahrt
Es gab eine Zeit, da schien alles möglich auf der Internationalen Raumstation ISS – jenem Ost-West-Gemeinschaftsprojekt, das in 400 Kilometer Höhe um die Erde kreist: Als die US-Raumfahrtbehörde NASA im Mai 2014 Angehörige und Berichterstattende zum Start des deutschen Astronauten Alexander Gerst ins kasachische Baikonur flog, verteilte sie weiß laminierte Kofferanhänger. Die Reisegruppe wurde daraufhin allen Ernstes ermuntert, die ISS für den Friedensnobelpreis zu nominieren – wegen ihrer Verdienste für die Völkerverständigung.
Zwei Monate zuvor hatten russische Truppen die ukrainische Halbinsel Krim überfallen, doch das interessierte in Baikonur kaum jemanden. Auf die geopolitische Lage angesprochen, umarmte Gerst demonstrativ seinen russischen und seinen US-amerikanischen Kollegen. Raumfahrt, so die Botschaft, überwinde Grenzen. Sie schwebt über den Dingen, über der Politik. Sie ist einflussreicher als alle irdischen Diplomatinnen und Diplomaten zusammen.
Acht Jahre und eine russische Invasion später ist die vermeintlich völkerverbindende Zusammenarbeit in der Raumfahrt gescheitert: Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 ist bei der Eroberung des Weltalls nichts mehr, wie es war. Doch während sich die USA – nicht zuletzt als Reaktion auf die Annektierung der Krim – immer unabhängiger gemacht haben von Russland, ist die langjährige enge Zusammenarbeit für Europäerinnen und Europäer nun problematisch. Noch sind viele Fragen offen, die Situation ist äußerst dynamisch. Doch schon jetzt ist klar: Es muss sich etwas ändern.
Ein wesentliches Projekt ist zweifelsohne die ISS. Zwei Russen, ein Deutscher und vier US-amerikanische Raumfahrende befinden sich derzeit an Bord des orbitalen Außenpostens. Einer von ihnen, NASA-Astronaut Mark Vande Hei, soll Ende März 2022 mit einer russischen Sojus-Kapsel sogar zurück zur Erde fliegen. Es gibt dazu keine Alternative.
Ohne Russland funktioniert die ISS nicht
Ost und West sind auf der ISS eng miteinander verbunden. Ohne den anderen geht es nicht. Der westliche Teil, betrieben von den USA, Kanada, Japan und zehn europäischen Ländern, erzeugt den größten Teil der Stromversorgung. Das russische Segment mit seinen angedockten Raumkapseln ist dafür verantwortlich, die Umlaufbahn der Station von Zeit zu Zeit anzuheben, schließlich verliert die ISS durch Reibung mit Luftmolekülen kontinuierlich an Höhe.
Als praktizierte Völkerverständigung ist diese gegenseitige Abhängigkeit stets gepriesen worden, als eine seit Langem bewährte Partnerschaft. Nüchtern betrachtet ist sie zumindest eine Zweckgemeinschaft, aus der sich keiner so leicht lösen kann.
Entsprechend verhalten fielen vergangene Woche die ersten Reaktionen aus. US-Präsident Joe Biden verhängte am Freitag zwar weit reichende Sanktionen, um »die russische Luft- und Raumfahrtindustrie, einschließlich des Raumfahrtprogramms zu schwächen«, nannte aber die ISS nicht explizit. Und die NASA verschickte an US-Medien die Nachricht, dass der Betrieb der ISS wie geplant weitergehe.
Die USA sind jedoch in einer vergleichsweise komfortablen Situation. Der russische Überfall auf die Krim hatte 2014 selbst die letzten Zweifelnden im US-Kongress davon überzeugt, ein eigenes kommerzielles Programm zum Transport von Menschen ins All zu finanzieren. Mit Erfolg: Waren die USA seit dem Ende der Spaceshuttle-Flüge im Juli 2011 auf russische Sojus-Kapseln angewiesen, um die ISS zu erreichen, übernehmen diese Aufgabe seit knapp zwei Jahren die Dragon-Raumschiffe von SpaceX. Auch die Atlas-V-Rakete, ein wichtiges Vehikel zum Start amerikanischer Spionagesatelliten, allerdings angewiesen auf russische Triebwerke, wird ersetzt. Ihre Nachfolgerin, die Vulcan Centaur aus rein amerikanischer Produktion, soll nach vielen Verzögerungen dieses Jahr erstmals starten.
Für die Zeit nach der ISS sind weitere kommerzielle US-Raumstationen in Arbeit. Für die geplante Raumstation in einem Mondorbit, Gateway genannt, kommen die Amerikaner ohne Russland aus. Und selbst fürs Anheben der ISS haben die USA mittlerweile eine Alternative gefunden: Der Raumfrachter Cygnus könnte diese Aufgabe übernehmen; einen ersten Test gab es bereits 2018. Das Problem dabei: Die Rakete, mit der Cygnus bislang startet, stammt größtenteils aus ukrainischer Produktion. Zukunft völlig offen. Eventuell sind aber auch die Dragon-Kapseln in der Lage, die Bahnkontrolle zu übernehmen.
Ziehen sich Europa, die USA oder Russland aus der ISS zurück?
Rein technisch könnte es möglich sein, den westlichen Teil der ISS abzukoppeln. Es wäre aber weder einfach noch gefahrlos. Auch würde es nicht reichen, bloß ein paar Bolzen zu lösen, um sich in der internationalen Raumfahrt wirklich zu trennen. Was wäre in dem Fall mit der Crew? Eben noch eine Schicksalsgemeinschaft im All, dann politisch verordnete Feinde? Irgendwie undenkbar.
Wenn Ost oder West ein Zeichen setzen wollten, erscheint es wahrscheinlicher, dass sich einer der Partner aus der ISS zurückzieht. Oder dass die Kooperation übers Jahr 2024 hinaus, dem derzeit anberaumten Ende, nicht verlängert wird. Ein gezielter Absturz der ISS wäre dann die Folge – sofern sich die Partner wenigstens darauf einigen könnten.
Und wenn nicht? »Wer wird dann die ISS vor einem unkontrollierten Absturz auf die USA oder auf Europa bewahren«, wetterte Russlands Raumfahrtchef Dmitri Rogosin in einem Telegram-Post. Was Rogosin, im Westen mit Sanktionen belegt und bekannt für seine höhnischen Kommentare, damit ausdrücken wollte, weiß nur er. Es braucht aber nur wenig Fantasie, um darin eine versteckte Drohung für den Fall eines westlichen Rückzugs zu sehen: »Ihr habt so ein schönes Land. Wäre doch schade, wenn dem etwas passiert.«
Anders als die NASA hat sich Europas Raumfahrtagentur ESA bislang nicht von der russischen Weltraumorganisation emanzipiert und sich die Abhängigkeit stets mit dem Partnerschaftsargument schöngeredet. Entsprechend kleinlaut fielen erste Statements aus. »Ungeachtet des aktuellen Konflikts bleibt die Zusammenarbeit in der zivilen Raumfahrt eine Brücke«, twitterte ESA-Chef Josef Aschbacher am 25. Februar 2022 – wobei der beschönigende Begriff »aktueller Konflikt« für den russischen Angriffskrieg auch aus Russlands Staatsmedien stammen könnte.
Europas Zurückhaltung hat einen Namen: Exomars
Das passt ins Bild. Als die Russen im November 2021einen ihrer Satelliten abschossen und die Crew der ISS – einschließlich des deutschen ESA-Astronauten Matthias Maurer – in akute Gefahr brachten, bezeichnete der stets auf Diplomatie bedachte Aschbacher dies einerseits als »unverantwortlich«, verzichtete aber bewusst darauf, Russland zu erwähnen oder gar zu beschuldigen. NASA-Chef Bill Nelson war weit weniger zimperlich.
Der Grund für Europas Zurückhaltung hat einen Namen: Exomars. Die robotische Marsmission sollte ursprünglich ein Gemeinschaftsprojekt von NASA und ESA werden. Als sich die USA im Jahr 2011 zurückzogen und Europa nicht genug Geld hatte, um die mehr als eine Milliarde Euro teure Mission allein zu stemmen, sprang Russland ein. Im September soll Europas Exomars-Rover daher mit einer russischen Proton-Rakete zum Mars starten. So der Plan.
Nach einem Krisentreffen der ESA-Mitgliedsstaaten ließ die Agentur am 28. Februar 2022 indes verlauten: Ein Start im Jahr 2022 sei »sehr unwahrscheinlich«. Die Europäer schreckten allerdings davor zurück, die Zusammenarbeit mit Russland umgehend aufzukündigen. Möglicherweise will die ESA auf Zeit spielen in der Hoffnung, dass eine Zusammenarbeit bis zur nächsten Startmöglichkeit in gut zwei Jahren wieder vertretbar ist. Den Rover auf eine eigene Rakete zu setzen, ist jedenfalls keine Lösung: Auch die Landeeinheit des Gefährts stammt aus Russland.
ESA-Generaldirektor @AschbacherJosef:
— ESA auf Deutsch (@ESA_de) February 28, 2022
"Wir bedauern die tragischen Ereignisse in der Ukraine [...] Viele schwierige Entscheidungen werden jetzt bei der ESA getroffen, unter Berücksichtigung
der von den Regierungen unserer Mitgliedstaaten verhängten Sanktionen" https://t.co/lX8oIHihwm
In Kourou hätte die ESA sich klar gegen Putin positionieren können
Und dann ist da noch der europäische Raketenbetreiber Arianespace. Dieser bietet seit 2011 Starts mit preisgünstigen Sojus-Raketen an, die dafür in Russland eingekauft werden. Diese Sojus-Starts sollen die Lücke schließen zwischen der kleinen europäischen Vega-Rakete und der Ariane 5, die mittlerweile für die meisten kommerziellen Missionen zu groß geworden ist. 9 der 15 Arianespace-Starts im Jahr 2021 erfolgten mit einer Sojus, eine wichtige Einnahmequelle.
In Kourou in Französisch-Guayana haben die Europäer dafür sogar eine Kopie der Sojus-Startrampe errichtet, angepasst an die Verhältnisse des südamerikanischen Dschungels. Für Anfang April 2022 war dort der nächste Start geplant, mit zwei Satelliten des europäischen Navigationssystems Galileo. Am Wochenende kündigte Rogosin jedoch an, sämtliches Personal aus Kourou abzuziehen und die Sojus-Starts zu stoppen – wegen der europäischen Sanktionen, so seine Begründung, und nicht, weil Europa darauf bestanden habe.
Abermals haben die Verantwortlichen der ESA damit eine Chance verpasst, ein klares Zeichen gegenüber Wladimir Putin und seinen Angriffskrieg zu setzen. Als realistische Alternativen für den Start von Satelliten jener Größenordnung bleiben nun die Raketen von SpaceX, was einen ungeliebten Konkurrenten unterstützen würde. Oder es bleibt das Warten auf Europas neue Ariane-6-Rakete. Nach vielen Verzögerungen ist es allerdings unwahrscheinlich, dass diese vor Ende 2022 abheben wird.
Auch Deutschlands Raumfahrt könnte künftig Probleme bekommen. Am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) pflegen insbesondere die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Raumfahrtmedizin sowie Robotik enge Verbindungen zu russischen Instituten. Wie viele Projekte mit Russland betrieben werden und wie es nun weitergehen soll, will das DLR auf Nachfrage nicht sagen. Man stehe »in engem Kontakt« mit den Partnern.
Hart treffen die Folgen des russischen Angriffs auch eROSITA: Das deutsche Röntgenteleskop, 80 Millionen Euro teurer, ist Mitte 2019 auf einem russischen Satelliten ins All gestartet; die gesamte Kommunikation läuft über Moskau. Nachdem das Bundesforschungsministerium am Freitag anordnete, sämtliche Zusammenarbeit mit Russland zu unterbrechen und kritisch zu überprüfen, sei das Teleskop am Wochenende in eine Art Dämmerzustand versetzt worden, heißt es beim eROSITA-Team. Eine offizielle Bestätigung des Max-Planck-Instituts für extraterrestrische Physik, das das Teleskop betreibt, stand am Montagabend, 28. Februar 2022, noch aus.
Ohnehin stellt sich eine viel größere Frage bezüglich der europäischen Raumfahrt: Wenn künftig Aufrüstung Priorität haben soll und ein eigener europäischer Zugang zum All, wie viel Geld wird dann noch für die wissenschaftliche Erkundung des Weltraums bleiben? Die Fragen, was Russland Präsident als Nächstes beschließt, für wen die Ukraine jemals wieder eine Heimat sein kann und wie sich der Krieg auf die Zukunft Europas auswirkt, stehen derweil über allem.
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