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Biologische Vielfalt: Landwirtschaft zum Wohl der Riffe

Kubas nachhaltige Landbewirtschaftung könnte sich als ein Erfolgsrezept zur Wiederherstellung der weltweit ums Überleben kämpfenden Korallenriffe erweisen.
Nassau-Zackenbarsch

Während eines Tauchgangs im Dezember 2017 fand sich der Meeresbiologe und Fotograf Octavio Aburto plötzlich inmitten einer Gruppe von acht Karibischen Riffhaien (Carcharhinus perezii) wieder. Der Wissenschaftler kannte die Unterwasserwelt zahlreicher Korallenriffe der Erde gut genug, um in jenem Augenblick, als die faszinierenden Lebewesen ihn umkreisten, zu begreifen, an welch besonderem Ort er sich gerade befand.

Der Nationalpark Jardines de la Reina (zu Deutsch: die Gärten der Königin) wird von vielen als eines der intaktesten Meeresökosysteme der Karibik gepriesen. Die weiträumige und äußerst vielfältige Unterwasserwildnis befindet sich in etwa 100 Kilometer Entfernung von der Südostküste Kubas und beherbergt Wälder aus Elchgeweihkorallen (Acropora palmata), steil emporragende Riffe, Echte Karettschildkröten (Eretmochelys imbricata) und Riesenzackenbarsche (Epinephelus itajara) in Kleinwagengröße. Aburto, der als Wissenschaftler an der Scripps Institution of Oceanography der University of California in San Diego tätig ist, hat im Rahmen seiner Forschungsarbeiten schon eine Reihe von Riff- und Mangrovenökosystemen des amerikanischen Kontinents besucht und ihren Zustand dokumentiert. »Was ich in den Jardines de la Reina gesehen habe, ist wirklich beeindruckend«, stellt der Forscher voller Begeisterung fest.

Das außergewöhnlich gesunde und artenreiche Kronjuwel der Karibik, wie das aus Barriereriffen, Koralleninseln und Mangrovenwäldern zusammengesetzte Archipel zuweilen bezeichnet wird, stellt einen seltenen Lichtblick in einer sonst erbarmungslosen Flut von schlechten Nachrichten dar, die von kranken und sterbenden Korallenriffe in allen Weltmeeren berichten.

»Eine gesunde Riffumgebung wirkt sich auf die Vertreter aller Arten innerhalb des Korallenriffs aus, die wiederum die Bestände ihrer Artgenossen in weiter ›stromabwärts‹ gelegenen Regionen aufstocken«Daria Siciliano

Angesichts der hohen Artenvielfalt, die die Riffe vor der kubanischen Küste aufweisen, steht hier aber auch einiges auf dem Spiel. Mehr als die Hälfte der in der Karibik endemischen marinen Arten lebt in den küstennahen Mangrovenwäldern, Feuchtgebieten und Gewässern der Insel Kuba, und diese Lebensräume stellen zugleich wichtige Laichgründe für wirtschaftlich bedeutsame Fischarten wie etwa den Mutton-Schnapper (Lutjanus analis) dar. Darüber hinaus dienen die kubanischen Meeresgebiete Haien, Seekühen und anderen Tieren, die zwischen dem Golf von Mexiko und dem Atlantischen Ozean hin- und herziehen, als Wanderungskorridore.

Gesunde Mangroven | In vielen Teilen der Erde wurden Mangroven abgeholzt, weil man Land brauchte oder Garnelenzuchtteiche einrichtete. Auf Kuba ist dies (noch) nicht der Fall – sie schützen die Küste und sind ein Hort für viele Tierarten.

»Eine gesunde Riffumgebung wirkt sich auf die Vertreter aller Arten innerhalb des Korallenriffs aus, die wiederum die Bestände ihrer Artgenossen in weiter ›stromabwärts‹ gelegenen Regionen aufstocken«, bemerkt Daria Siciliano, eine Korallenexpertin vom Institute of Marine Sciences der University of California in Santa Cruz. In den ausgedehnten Riffgebieten vor der kubanischen Küste leben nämlich Korallenlarven und eine Vielzahl anderer Organismen, die wegen der herrschenden Strömungsverhältnisse weiter in Richtung Norden getrieben werden und dort zur »Aufforstung« von stark dezimierten Populationen beitragen, erläutert die Wissenschaftlerin.

Während globale Erwärmung, Versauerung der Ozeane, Schadstoffbelastung, Überfischung und eine Reihe weiterer Gefahren die Korallenbestände auf der ganzen Welt gerade in verstärktem Maß bedrohen, nehmen Kubas Riffe eine Sonderstellung ein. Natürlich wäre es ein Leichtes, die Jardines de la Reina einfach als eine wunderbare Laune der Natur abzutun – ein mysteriöses Ökosystem, das allein auf Grund seiner Entfernung vom Festland besonderen Schutz genießt.

Rifffreundliche Landwirtschaft auf Kuba

Meeresforscher verweisen jedoch auf den ebenfalls relativ guten Gesundheitszustand vieler küstennaher Riffe in dieser Region, insbesondere an der Südküste Kubas. Zu den potenziellen Faktoren, die laut wissenschaftlichen Untersuchungen zu dieser Entwicklung beigetragen haben, zählen unter anderem auch die auf Kuba praktizierten Landwirtschaftsmethoden, die neuesten Erkenntnissen zufolge mit den vor Leben strotzenden Gewässern des Inselstaats in einem engen Zusammenhang stehen.

Gewiss ist es einigen Riffen besser ergangen als anderen, doch in jüngster Zeit konnten Wissenschaftler auf Expeditionen entlang der kubanischen Küste nur geringfügige Anzeichen einer großflächigen Korallenbleiche oder von Krankheiten und Zerstörungen feststellen, die Riffe von den Florida Keys bis zum australischen Great Barrier Reef auf geradezu verheerende Weise verwüstet haben. Das Wissen um die Gründe, warum so viele Korallenriffe vor Kuba blühend gedeihen, während sie andernorts stark dezimiert wurden, könnte sich als ein Schlüssel im Kampf um die Erhaltung dieser Wunder der Meere herausstellen – hier in der Karibik und auf der ganzen Welt.

Haie als Begleiter | Zahlreiche Riff- und Seidenhaie (Carcharhinus falciformis) kreisten über Aburto und seinen Begleitern, während die Forscher zu den Gärten der Königin tauchten.
Neulandgewinnung | Mangroven schaffen sich ihren Lebensraum teilweise selbst. Zwischen den Wurzeln einzelner Ableger sammelt sich Schlick an, der wiederum die Ansiedlung weiterer Bäume erleichtert.

Eine Kombination verschiedener Faktoren hat, bedingt durch schicksalhafte Fügungen und als Folge bewusster Entscheidungen, zum Schutz der Korallenriffe Kubas beigetragen. Zum einen betreibt die kubanische Regierung seit Beginn der 1990er Jahre eine verstärkt auf den Umweltschutz ausgerichtete Politik. Selbst wenn die bislang auf Kuba initiierten Naturschutz- und Erhaltungsmaßnahmen als unzureichend bewertet werden und die rechtliche Durchsetzung einiger Schutzzonen zuweilen mit Schwierigkeiten verbunden war, sind seit 1995 immerhin fast ein Viertel der kubanischen Meeresregionen von der Regierung als Nationalparks und Naturschutzgebiete ausgewiesen worden.

Blockade der USA mit ausnahmsweise positiven Folgen

Auch die von den USA verhängte Handels-, Wirtschafts- und Finanzblockade gegen Kuba hat höchstwahrscheinlich eine großräumige Erschließung der Küstenregionen weiter verzögert und die damit verbundene Umweltbelastung und ihre schädlichen Auswirkungen auf die marinen Lebensräume verhindert. Seit seinem Erlass und seiner weiteren Verschärfung in den frühen 1960er Jahren hat das von den Kubanern als »el bloqueo« bezeichnete Embargo die Entwicklung des Landes stark gedämpft, wenngleich Wissenschaftler argumentieren, dass auf Grund des eingeschränkten Zugangs zu Darlehen und Technologien aus dem Ausland auch die Entwicklung von Umweltforschung und ‑management auf Kuba erheblich beeinträchtigt wurde.

Ein dritter bedeutsamer Faktor, der sich laut Meinung einiger Forscher zu Gunsten der Korallen in kubanischen Gewässern ausgewirkt haben könnte, war ein dramatischer Rückgang von stickstoff- und phosphorhaltigen Abwässern aus der Landwirtschaft mit Beginn der 1990er Jahre. Während des vorangegangenen Jahrzehnts hatte – dank billigen Düngers aus der damaligen Sowjetunion – die Menge des in die Umwelt eingetragenen Stickstoffs auf Kuba einen weltweiten Spitzenwert erreicht. Auf der karibischen Insel stieg der Verbrauch von anorganischem Dünger in der Zeit von 1961 bis zum Erreichen des Höchstwerts im Jahr 1989 um nahezu 800 Prozent.

Feuchtgebiet von internationaler Bedeutung | Der Nationalpark Ciénaga de Zapata im Süden Kubas ist Biosphärenreservat, RAMSAR-Gebiet und einer der größten Sümpfe der Karibik. Dort leben rund 200 Vogelarten; mehrere darunter sind vom Aussterben bedroht.

Niederschläge haben diese enormen Düngermengen aus dem Erdboden gewaschen und in Entwässerungskanäle gespült, aus denen Bäche und Flüsse gespeist wurden, die schließlich ins Meer mündeten. Eine derartige Nährstoffbelastung kann ein explosionsartiges Wachstum von Phytoplankton und schädlichen Algen auslösen, was unter anderem zur Folge hat, dass ganze Riffe von diesen Algen überwuchert werden. Das Absterben und die anschließende bakterielle Zersetzung der Algen führen zu einer vermehrten Sauerstoffzehrung im Ozean und lassen irgendwann so genannte Todeszonen entstehen, in denen nahezu kein Leben mehr möglich ist.

Zusammenbruch der Fischerei-Industrie

Zwar liegen nur wenige Studien vor, die sich mit dem Gesundheitszustand der kubanischen Riffe in der Zeit vor 1990 befassten, doch Bestandsaufnahmen aus den 1990er Jahren und zu Beginn des neuen Jahrtausends dokumentierten kranke Korallen und schwindende Korallenbestände in zahlreichen Meeresgebieten des Landes, insbesondere in der stark verschmutzten Bucht von Havanna und den angrenzenden Gewässern.

Der Fall des Ostblocks Anfang der 1990er Jahre hatte jedoch ein unvermitteltes Zudrehen des Geldhahns für die bislang an Kuba geflossenen Zuckersubventionen zur Folge, und auch die regelmäßigen Lieferungen von Nahrungsmitteln, Kraftstoffen, landwirtschaftlichen Geräten, Kunstdünger und Pflanzenschutzmitteln blieben plötzlich aus. Im Zusammenspiel mit dem US-amerikanischen Handelsembargo, das andere Versorgungswege abschnitt, kam es schließlich zu einem Zusammenbruch der kubanischen Fischerei- und Zuckerrohrindustrie. Der Einsatz von Mineraldünger verringerte sich sprunghaft und wurde kurz darauf von einem Einbruch in der landwirtschaftlichen Produktion gefolgt, die innerhalb von nur fünf Jahren einen Rückgang von über 50 Prozent verzeichnete. In der darauf folgenden schwierigen Zeit, die die Kubaner euphemistisch als »el período especial« (»die besondere Zeit«) bezeichnen, sank die Pro-Kopf-Kalorienaufnahme in der Bevölkerung um mehr als ein Drittel.

Raubfische | Haie und Zackenbarsche kommen in Kubas Gärten der Königin zahlreich vor. Ihre Anwesenheit sowie die Menge an Pflanzen fressenden Fischen und Korallen sprechen für ein gesundes Ökosystem.
Hai | Die torpedoartige Körperform des Karibischen Riffhais (Carcharhinus perezii) und die verschlungene Matrix des Meeresfächers sind gute Beispiele wie die Anatomie der Funktion im Laufe der Evolution folgt.

Die kubanischen Bauern waren daher gezwungen, mit bedeutend weniger Mitteln auszukommen. Auf ihren zwangsläufig kleineren Feldern übernahmen Ochsen die Aufgaben der mittlerweile stillstehenden Traktoren, und biologische Anbaumethoden ersetzten die nicht mehr verfügbaren Kunstdünger und Pestizide. In den Jahren 1999 bis 2001 fiel der durchschnittliche Verbrauch von anorganischem Dünger, dessen Hauptanteil für die Zuckerrohrproduktion vorgesehen war, auf etwa 15 Prozent des im Jahr 1989 erreichten Maximums.

»Im Grunde genommen taten die Kubaner gezwungenermaßen das, was die Menschen in Vermont jetzt aus freiem Willen tun wollen«Joe Roman

Auf vielen staatseigenen Zuckerrohrplantagen und anderen landwirtschaftlichen Betrieben habe jener Mangel an Finanzmitteln und Chemikalien ganz automatisch zu weniger umweltbelastenden Anbaumethoden geführt, erklärt Margarita Fernandez, die geschäftsführende Direktorin des gemeinnützigen Vermont Caribbean Institute, das sich für die Förderung von nachhaltiger Agrarökologie und ökologischer Landwirtschaft einsetzt. Joe Roman, ein Naturschutzbiologe von der University of Vermont, der ebenfalls auf Kuba tätig ist, ergänzt: »Im Grunde genommen taten die Kubaner gezwungenermaßen das, was die Menschen in Vermont jetzt aus freiem Willen tun wollen.«

Jenes kleinräumige Modell eines ökologischen Landbaus, das die Bauern zunächst aus reiner Notwendigkeit übernahmen, entwickelte sich jedoch recht bald zu einem festen Bestandteil des kubanischen Lokalethos. Das Prinzip ist seither von Landwirten, Politikern und Forschern verfochten worden und hat auf internationaler Ebene viel Beifall von Agrarwissenschaftlern aus aller Welt geerntet. Ungeachtet der anhaltenden Diskussion um die Nahrungsmittelsicherheit auf der karibischen Insel sind viele Experten der Ansicht, dass der Wandel in der kubanischen Landwirtschaft tatsächlich erfolgreich funktioniert. Neben anderen positiven Aspekten hat sich die Pro-Kopf-Kalorienaufnahme von ihrem niedrigsten Wert im Jahr 1993 bis heute nahezu verdoppelt.

Meeresmuschel | Zahlreiche farbenprächtige Muscheln wie die Art (Lima scabra) bedecken die felsigen Riffe vor der kubanischen Ciénaga de Zapata.

Während seiner schmerzvollen, aber letztlich doch effektiven Umstellung auf den ökologischen Landbau ist Kuba auch zu einem großen Experiment geworden, das verdeutlicht, wie eine Abkehr von der industriellen Landwirtschaft terrestrische und marine Lebensräume beeinflussen kann. Auf der langen und schmalen Insel »hat jede an Land getroffene Entscheidung unmittelbare Auswirkungen auf das Meer«, unterstreicht Roman.

Mehr Papageifische, gesündere Riffe

Ein Zustands- und Entwicklungsbericht der karibischen Korallenriffe von 1970 bis 2012 legt nahe, dass in diesem Zeitraum mehr als die Hälfte der Korallen auf Grund der diversen von Land und Meer ausgehenden Gefährdungen vernichtet wurde. Auf den Riffen vor Kuba begann sich allerdings der Schwund an lebenden Korallen Mitte der 1990er Jahre umzukehren. Trotz des spärlichen Datenmaterials stellten Wissenschaftler fest, dass die offensichtliche Erholung der Korallenriffe mit einer leichten Zunahme in der Biomasse von Papageifischen und Zackenbarschen zusammenfiel, zwei Schlüsselindikatoren des Gesundheitszustands von Riffen. Papageifische fressen beispielsweise die auf den Korallen wachsenden Algen und verhindern dadurch ein übermäßiges Wuchern dieser pflanzlichen Konkurrenten. Als Folge begann sich der durchschnittliche prozentuale Anteil des Algenbewuchses auf den kubanischen Riffen zu verringern.

Atlantische Spatenfische | Obwohl die Riffe in der kubanischen Schweinebucht leichter zugänglich sind und stärker befischt werden, beherbergen sie noch immer eine eindrucksvolle Artenvielfalt und Menge an Fischen wie diese Atlantischen Spatenfische (Chaetodipterus faber).
Fischreichtum | Die Mangroven bieten vielen Fischen Zuflucht, Nahrung und sichere Kinderstuben. Wo sie intakt sind, finden sich noch zahlreiche Tiere.

In Anbetracht des labilen Gesundheitszustands zahlreicher karibischer Korallenriffe könne ein Versagen der Naturschutzbemühungen auf Kuba schwer wiegende Folgen für die gesamte regionale Wirtschaft haben, gibt Jorge Angulo-Valdés, Leiter der Arbeitsgruppe Meeresschutz am Centro de Investigaciones Marinas der Universidad de La Habana, zu bedenken. Die größte Schwierigkeit bestehe in der Festlegung einer Strategie, mit deren Hilfe man die Ernährungssicherheit auf Kuba weiter verbessern und zugleich den Kollateralschaden für die Umwelt möglichst gering halten könne, räumt der Wissenschaftler ein. »Wir müssen ja trotz allem unseren Lebensunterhalt bestreiten«, ergänzt Angulo-Valdés, »und die Menschen hier brauchen schließlich etwas zu essen.«

Die Jardines de la Reina liefern ein Beispiel, wie man diesem Ziel ein Stück näher kommen könnte: durch Stärkung der lokalen Wirtschaft bei gleichzeitiger Verringerung der Umweltbelastung. Veranstaltern von Tauch- und Schnorchelausflügen und Organisatoren von Angeltouren für Sport- und Freizeitfischer, ihren jeweiligen Zulieferern sowie den Besitzern nahe gelegener Hotels bietet der viel besuchte Nationalpark gute Beschäftigungsmöglichkeiten. Im Gegenzug stellt die Tourismusindustrie Finanzmittel für regelmäßige Patrouillenfahrten zur Verfügung, um illegale kommerzielle Fischereiaktivitäten zu unterbinden. Indem man die Ortsansässigen an den wirtschaftlichen Erträgen des Parks beteiligt, »erkennen die Menschen die Vorteile, die sie aus dem Naturschutz ziehen können«, konstatiert Angulo-Valdés.

»Dieser Korallenbohrkern liefert uns Langzeitaufzeichnungen früherer Umweltbedingungen, die auch die damaligen Klimaverhältnisse umfassen«Daria Siciliano

Den Beleg für eine direkte Verbindung zwischen Landnutzungsentscheidungen und der Gesundheit von Korallen zu erbringen, ist dagegen weitaus kniffliger, doch vielleicht zeichnen sich schon bald deutlichere Zusammenhänge ab. Im Februar 2015 ist es nämlich einem Team aus kubanischen und US-amerikanischen Wissenschaftlern auf einer gemeinsamen Forschungsexpedition erstmalig gelungen, an einem Riff vor der Küste Kubas einen langen Bohrkern aus einer Koralle zu gewinnen. Ähnlich wie die Wachstumsringe eines Baums stellen die aufeinanderfolgenden Schichten im Kalziumkarbonatskelett von Steinkorallen eine Art Chronik der lokalen Umgebungsbedingungen vergangener Zeiten dar. »Dieser Korallenbohrkern ist für uns unglaublich interessant«, erklärt die ebenfalls an der Expedition beteiligte Daria Siciliano, »denn er liefert uns Langzeitaufzeichnungen früherer Umweltbedingungen, die auch die damaligen Klimaverhältnisse umfassen.«

Spitzkrokodil | Tauchen in den Mangroven kann auch Überraschungen liefern. Hier wirbelt ein Spitzkrokodil (Crocodylus acutus) Sediment auf, um sich im Schutz der Schwaden gefahrlos zurückziehen zu können.

Mit Hilfe eines an eine Tauchflasche angeschlossenen handgeführten Druckluftbohrers entnahmen die Wissenschaftler einen langen Bohrkern aus einer mächtigen Sternkoralle, die sich an einem Fleckenriff im Golfo de Ana María zwischen der Küste Kubas und den Jardines de la Reina befand. In dieser Zeitkapsel, die in etwa den Durchmesser eines Kaffeebechers und die Länge eines Besenstiels aufwies, waren Wachstumsschichten eingeschlossen, die bis ins späte 18. Jahrhundert zurückreichen – eine Zeit, in der Sklaven noch auf den nahe gelegenen Zuckerrohrplantagen der kubanischen Provinz Camagüey schufteten.

Sicilianos Arbeitsgruppe interessiert sich zunächst für Daten, die Wassertemperatur und Salzgehalt betreffen, um anhand dieser Informationen die Klimabedingungen früherer Zeiten zu rekonstruieren. In der zweiten Projektphase werden die Forscher unter Einsatz eines hochmodernen Massenspektrometers – eines Geräts, das wie eine empfindliche Molekülwaage funktioniert – winzige Mengen des im Kalziumkarbonat eingeschlossenen Stickstoffs analysieren und dadurch etwaige Trends hinsichtlich der Menge und Zusammensetzung des in den Golfo de Ana María geflossenen Stickstoffs erfassen. Anhand des Verhältnisses zweier stabiler Formen dieses Elements, so genannter Isotope, ist die Technik in der Lage, Stickstoffquellen wie etwa Abwässer, organische Düngemittel oder Kunststoffe eindeutig voneinander abzugrenzen. Ein Vergleich des in der Vergangenheit stark schwankenden Düngereinsatzes mit dem entsprechenden Zustand des Ozeans und den Jahresringen der Korallen könnte möglicherweise dazu beitragen, einen kausalen Zusammenhang zwischen der Nährstoffbelastung des Wassers und dem Gesundheitszustand der Korallenriffe zu definierten Zeitpunkten nachzuweisen.

Unterdessen gewinnen Wissenschaftler weitere Erkenntnisse über die Auswirkungen einer erhöhten Stickstoffzufuhr auf das Ökosystem Korallenriff. Forscher der kalifornischen Stanford University entnahmen mit Hilfe einer ähnlichen Methode Bohrkerne von vier Korallen vor der Insel Bali in Indonesien, um den durch Abwässer verursachten Stickstoffeintrag ins Meer im Zusammenhang mit der Einführung des Kunstdüngers auf Bali vor nahezu 50 Jahren zu verfolgen. Die Ergebnisse dieser Studie deuten darauf hin, dass die Karbonatskelette der Korallen tatsächlich eine Aufzeichnung der Wasserqualität vergangener Jahrzehnte darstellten und die zunehmende Verwendung von Mineraldünger auf den balinesischen Reisfeldern für die Zerstörung einiger küstennaher Korallenriffe mitverantwortlich gewesen war.

Phosphor lässt sich im Bohrkern sehen

Im Jahr 2013 wandten australische Wissenschaftler ein anderes Verfahren an und analysierten an einem 60 Jahre umfassenden Korallenbohrkern aus dem Great Barrier Reef die Menge des enthaltenen Phosphors. Die Forscher konnten nachweisen, dass der Phosphoranteil im Korallenskelett in der Zeit von 1949 bis 2008 um das Achtfache gestiegen war. Da diese Zunahme mit einer erhöhten Zuckerrohrproduktion und einem verstärkten Düngereinsatz entlang eines nahegelegenen Flusses zusammenfiel, kamen die Wissenschaftler zu dem Schluss, dass die Wachstumsringe des Korallenbohrkerns den jährlichen Phosphoreintrag ins Meer quantitativ erfasst hatten.

In ähnlicher Weise könnte die von Siciliano gewählte Probennahmestelle, die sich in der Nähe der Mündungsstelle einiger kleiner Flüsse im Golfo de Ana María befindet, den Forschern neue Erkenntnisse über den zeitlichen Verlauf der dortigen Stickstoffbelastung verschaffen und es ihnen ermöglichen, die Folgen eines Nährstoffeintrags in die Gewässer vor der Küste Kubas abzuschätzen. Eine eindeutige Antwort auf die Frage, wie die weniger umweltschädlichen Landwirtschaftsmethoden zu einer Verringerung des Mineraldüngereintrags in die Meeresumwelt und einer Verbesserung der Gesundheit jener Ökosysteme geführt haben, erfordere allerdings eine Analyse weiterer Korallen an anderen strategisch günstigen Standorten, meint Siciliano. Vielleicht trägt ein engeres Verhältnis zwischen den USA und Kuba künftig dazu bei, dem Bedarf an fortgesetzten Kooperationen sowohl an Land als auch auf dem Meer gerecht zu werden. Und eine verstärkte Zusammenarbeit beider Länder könnte vielleicht sogar dazu führen, die Maßnahmen im Bereich des Korallenriff-Managements und der Riffsanierung im gesamten karibischen Raum und darüber hinaus erheblich zu verbessern.

Kubas natürliche Laboratorien gewähren uns einen seltenen Einblick in die Art und Weise, in der eine Begrenzung der von landwirtschaftlichen Abwässern verursachten Nährstoffbelastung die Erholung von Korallen fördern kann. Angesichts der zunehmenden Bedrohungen, denen Riffe auf der ganzen Welt gegenüberstehen, sind die Korallen mehr denn je auf jede erdenkliche Hilfe angewiesen.

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