Zeichentalent: Künstler sehen die Welt mit anderen Augen
Um die Welt wirklichkeitsgetreu nachzuzeichnen, braucht es besondere Fähigkeiten. Eine Forschungsgruppe der City University of New York hat mit umfangreichen Tests untersucht, worin genau dieses Talent besteht. Demnach handelt es sich um zwei Arten der Wahrnehmung: den Blick für die Feinheiten und den Blick fürs große Ganze – beides beherrschen Künstlerinnen und Künstlern besonders gut.
Für die Versuchsreihe hatte das Team um die Psychologin Jennifer Drake 40 Studierende einer privaten Kunsthochschule in New York sowie rund 40 Studierende anderer Disziplinen angeworben. Alle absolvierten zunächst mehrere kognitive Tests, die ihre Fähigkeiten erfassten, visuelle Informationen »lokal« (detailfokussiert) und »global« (das Gesamtbild und seine Struktur betreffend) zu verarbeiten. Zu diesem Zweck sollten sie unter anderem einfache Formen in einem komplexen Muster entdecken und das Gesamtbild hinter unscharfen Formen oder verstreuten Einzelteilen erkennen. Dann folgten die künstlerischen Aufgaben: ein Stillleben und ein Gesicht realitätsgetreu zu zeichnen sowie komplexe Strichzeichnungen möglichst genau nachzumalen.
Die Künstlerinnen und Künstler waren den übrigen Studierenden nicht nur im Zeichnen überlegen, sondern auch darin, komplexe visuelle Informationen in Einzelteile zu zerlegen und Fragmente zu einem Ganzen zu verbinden. Für beide Gruppen galt: Je besser sie in diesen kognitiven Tests abschnitten, desto genauer ihre Zeichnungen. Außerdem kam es darauf an, was sie zuerst zeichneten. Wer mit der Gesamtstruktur begann, hatte am Ende ein genaueres Bild. Zwar tendierten beide Gruppen zu dieser Strategie, die Kunstgruppe jedoch ganz besonders.
Gestützt auf vorherige Studien glauben die Fachleute, dass Künstler ausgesprochen flexibel zwischen lokaler und globaler Informationsverarbeitung wechseln, was sich zum Beispiel in den Augenbewegungen zeige. Demnach unterscheiden sie sich von Amateuren nicht auf der Ebene der sensorischen Wahrnehmung, sondern in ihrer Aufmerksamkeitssteuerung. Ein gutes visuelles Gedächtnis könnte ebenfalls dazu beitragen.
Unklar ist freilich, was Ursache und was Wirkung ist. Sind die kognitiven Talente der Grund dafür, dass manche Menschen besonders gut zeichnen? Das muss nicht so sein. Denkbar wäre auch, dass künstlerische Tätigkeiten die Aufmerksamkeit und das Gedächtnis schulen – oder dass beide zusammenwirken: Talente und Training.
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