Liebe: Küssen ist mindestens 1000 Jahre älter als gedacht
Schon vor 4500 Jahren küssten sich Liebespaare in Mesopotamien und mutmaßlich in vielen anderen Gesellschaften. Das schließen Troels Pank Arbøll von der Universität von Kopenhagen und Sophie Lund Rasmussen von der University of Oxford aus Erwähnungen solcher romantischer Küsse auf Keilschrifttafeln aus Mesopotamien, die bis zu 4500 Jahre alt sind. Bisher galten Kussbeschreibungen in indischen Texten aus der Zeit um 1500 v. Chr. als die weltweit ältesten Belege für das romantisch-sexuelle Küssen. Dass auch Keilschrifttexte in sumerischer Sprache Küsse als Teil erotischer Akte beschreiben, war bisher noch wenig erforscht, weil das Studium dieser Texte ein relativ spezialisiertes Fach ist.
In ihrer jetzt erschienenen Veröffentlichung in »Science« widersprechen die Autoren deswegen einer kürzlich verbreiteten Hypothese, laut der sich der romantische Kuss erst vor rund 5000 Jahren in einer einzelnen geografischen Region entwickelt haben soll. Diese Vermutung war 2022 nach Genanalysen von Herpesviren aufgekommen. Die Daten deuteten darauf hin, dass die Diversität moderner Herpesviren in Europa ihren Ursprung vor rund 4700 Jahren hat – damals hatten neue Virusvarianten großflächig die älteren Herpeslinien verdrängt, die die Menschheit schon seit ihrer Entstehung begleiten. Ursache sei gewesen, dass die neue Kusspraxis die Ausbreitung oral übertragener Krankheitserreger wie eben Herpes zu dieser Zeit dramatisch verändert hatte, schlussfolgerte die Genetikerin Christiana Scheib von der University of Cambridge.
Dass die frühesten bekannten Hinweise auf solche Küsse mit 3500 Jahren recht jung waren, schien dieses Szenario zu stützen. Womöglich, so die Idee, sei das romantische Küssen rund 1500 Jahre zuvor bei einer jener Völkergruppen aufgetaucht, die damals großräumige Wanderungen nach Europa unternommen hatten. Mit der Knutscherei seien auch die neuen Herpesviren verbreitet worden.
Die Keilschrifttafeln aus Mesopotamien beschreiben jedoch schon um etwa 2500 v. Chr. – fast gleichzeitig mit der mutmaßlichen Herpesausbreitung – regelmäßig romantische Küsse. Das deutet darauf hin, dass der vermutete zeitliche Zusammenhang zwischen beiden nicht passt. Troels Pank Arbøll und Sophie Lund Rasmussen argumentieren, dass romantisches Küssen schon lange zuvor weit verbreitet gewesen sein muss, um sich in den gefundenen Quellen niederzuschlagen. Demnach ist die Praxis sehr viel älter, als es die Hypothese über die Ausbreitung der neuen Herpesvarianten erfordert.
Die beiden Fachleute vermuten, dass der romantische Kuss schon lange vorher an unterschiedlichen Orten unabhängig voneinander entstand. »Indizien deuten darauf hin, dass Küssen eine gängige Praxis im Altertum war und einen anhaltenden Einfluss auf die Ausbreitung oral übertragener Mikroorganismen hatte«, schreiben sie. Es erscheine deswegen unwahrscheinlich, dass es zu dieser Zeit als neues Verhalten in einer einzelnen Gesellschaft auftauchte und unbeabsichtigt die Übertragung von Krankheiten begünstigte.
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