Kulturtechniken: Wie der Mensch aufs Küssen kam
Busseln, knutschen, abschmatzen – das Küssen ist nicht nur eine artenreiche und bisweilen geräuschvolle Angelegenheit, sondern auch eine der bedeutsamsten Gesten der Menschheitsgeschichte. Wir küssen zum Zeichen der Liebe, des Respekts, des Verlangens, der Freundschaft oder der Versöhnung. Ein Kuss kann metaphorisch für Verrat stehen wie der Judaskuss, religiöse Verehrung demonstrieren oder, wie der legendäre Bruderkuss zwischen Leonid Breschnew und Erich Honecker, Brüderlichkeit symbolisieren.
Ein einziger Kuss versetzt Verliebte durch einen Cocktail aus Dopamin, Serotonin, Adrenalin und Oxytozin in einen regelrechten Rausch. Kein Wunder also, dass er zentrales Thema von Literatur und Kunst ist – vorausgesetzt, die Muse küsst einen.
Doch so allgegenwärtig die Kulturtechnik des Küssens heute scheinbar ist, so wenig weiß man, wie, wann oder warum sie entstand. Etwas Licht ins Dunkel hat 2022 eine Studie im Fachmagazin »Science Advances« gebracht. Demnach könnte der Siegeszug des Küssens mit einer wenig romantischen Infektion in Verbindung stehen: der Ausbreitung des Herpesvirus HSV-1, das heute etwa zwei Drittel der Weltbevölkerung in sich tragen.
Mit dem Küssen kam auch Herpes
Forschende um die Genetikerin Christiana Scheib von der University of Cambridge durchsuchten rund 3000 vorgeschichtliche und historische DNA-Analysen von menschlichen Zähnen, doch nur in vier Fällen stießen sie auf genetische Spuren des Herpesvirus. An den Überresten eines Mannes, der vor 1500 Jahren in der russischen Uralregion bestattet wurde, fanden sich die ältesten DNA-Reste von HSV-1. Zuvor reichte der älteste Gennachweis ins Jahr 1925 zurück. Die Forschenden verglichen anschließend das Erbgut des alten Herpesvirus mit Genproben von modernen Versionen, um die Mutationsrate des Erregers zu berechnen. Auf diese Weise konnten sie die Evolution von HSV-1 rekonstruieren.
»Jede Primatenart hat eine Form von Herpes. Daher gehen wir davon aus, dass [das Virus] bei uns vorkommt, seit unsere eigene Art Afrika verlassen hat«, erklärt Christiana Scheib in einer Pressemitteilung. Doch in der Zeit vor etwa 5000 Jahren veränderte sich der genetische Stammbaum. Es »geschah etwas, das es einem Herpesstamm ermöglichte, alle anderen zu überholen. Möglicherweise gab es eine Zunahme der Übertragungen, die mit dem Küssen in Verbindung stehen könnte.«
Um jene Zeit, um 2800 v. Chr., erlebte Europa eine Umbruchphase. Aus den Steppen nördlich des Schwarzen Meers wanderten Reiternomaden ein und brachten neue Geräte, Waffen und Sitten mit. Und nicht nur die Lebenskultur veränderte sich; auch die Einwanderer – archäologisch als Schnurkeramiker bekannt – hinterließen ein deutliches genetisches Signal, das alle Eurasier bis heute in sich tragen. Unabhängig davon vermutet die Forschergruppe um Scheib nun, dass die Migranten auch die Praxis des Küssens nach Europa gebracht haben – gemeinsam mit den Herpesviren.
Nur: Warum begann der Mensch überhaupt, seine Lippen auf die seines Gegenübers zu drücken?
Küssen ist eine »ritualisierte Mund-zu-Mund-Fütterung«
Theorien gibt es dazu diverse, gesicherte Beweise dagegen wenige. Ein altbekannter Ansatz sieht eine Verbindung zwischen dem Küssen und der Weitergabe von Nahrung. Jahrtausendelang haben Menschen ihrem Nachwuchs die Nahrung vorgekaut und über die Lippen weitergegeben. Nach dem Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt (1928–2018) sei ein Kuss folglich nichts anderes als eine »ritualisierte Mund-zu-Mund-Fütterung«.
Die Technik des Vorkauens wird auch heute noch praktiziert. Doch wo vorgekaut wird, wird deshalb nicht zwingend geküsst. Im Kongo etwa war die Praxis lange vor dem Kuss bekannt. Und den brachten erst die Europäer mit.
Sigmund Freud glaubte, dass der Drang zu küssen noch etwas früher entstehe – beim Gestilltwerden. Das der Mutterbrust beraubte Kind suche laut Freud sein Leben lang durch Daumenlutschen und andere Verhaltensweisen die positiven Empfindungen seiner ersten Lebensphase wiederzugewinnen. In seinen »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« schreibt er: »Die Minderwertigkeit dieser zweiten Stelle [des Daumens] wird es später mit dazu veranlassen, die gleichartigen Teile, die Lippen, einer anderen Person zu suchen.« Dass Ungeborene bereits im Mutterleib an ihrem Daumen lutschen, konnte Freud damals noch nicht wissen.
Kann man sich riechen, küsst man sich?
Eine zweite Hypothese richtet den Blick zur Nase. Der Lippenkuss sei demnach durch seinen Verwandten, den Riech- oder Schnüffelkuss, entstanden. In vielen frühen Kulturen begrüßten Menschen einander, indem sie ihre Nasen aneinander rieben oder an die Wangen des Gegenübers legten und tief einatmeten. Ähnliche Bräuche existieren heute noch bei den Maori, den Jakuten Sibiriens, in China, Lappland und bei den kanadischen Inuit – die einen »kunik« übrigens nicht durch das Aneinanderreiben der Nasen geben, sondern indem sie die Nase auf die Haut ihres Gegenübers drücken und diese durch tiefes Einatmen einsaugen. Die Kulturwissenschaftlerin Ingelore Ebberfeld (1952–2020) sah in der engen Verbindung zwischen Geruchssinn und Sexualität den Ursprung des Nasen- und Lippenkusses: »Das Beschnüffeln bei den Säugetieren, das ja vorwiegend der Fortpflanzung Tribut zollt, scheint tatsächlich auf eine der wahren Ursachen des Küssens hinzudeuten.«
Die Forscherin und Autorin Sheril Kirshenbaum, die ein Sachbuch zum Küssen publiziert hat, führt noch eine dritte Erklärung ins Feld: Der Lippenkuss, schreibt Kirshenbaum, könnte durch eine Verbindung zwischen der Fähigkeit, Farben zu sehen, sexuellem Verlangen und der Evolution der menschlichen Lippen entstanden sein. Letztere würden nämlich zwei auffällige Merkmale auszeichnen: Sie sind, anders als bei Tieren, nach außen gewölbt, und sie fallen durch ihre Farbe auf. Evolutionär sei das menschliche Gehirn darauf getrimmt, die Farbe Rot schnell wahrzunehmen, etwa um reife Früchte zu entdecken.
Rot sei aber auch ein Marker für Sexualität: Bei weiblichen Bonobos etwa zeigt eine rote Schwellung in der Gesäßregion die Empfängnisbereitschaft an. »Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass, als unsere Vorfahren aufrecht standen, ihre Körper viele damit verbundene Veränderungen durchliefen. Dazu gehört auch eine Verschiebung der markanten Sexualsignale«, vermutet Kirshenbaum.
Der älteste bekannte Kuss kommt aus Indien
Die ersten historischen Quellen, die das Küssen dokumentieren, reichen etwa 3500 Jahre zurück. Um 1500 v. Chr. beschreiben vedische Sanskrittexte aus Indien einen Akt des Riechens mit dem Mund. Einige Forscher und Forscherinnen gehen davon aus, dass hier eine Form des Küssens gemeint sein könnte. Explizitere Hinweise finden sich im hinduistischen »Satapatha Brahmana«: Darin legen Liebende den »Mund an den Mund«. Der zärtliche Kuss mit den Lippen wird sodann im berühmten Hindu-Epos »Mahabharata« beschrieben, das wohl erstmals zwischen 400 v. Chr. und 400 n. Chr. niedergeschrieben wurde.
»Die ganze Nachbarschaft küsst dich … Schon deswegen war es nicht wert [nach Rom] zurückzukehren«Martial, römischer Dichter, 1. Jahrhundert n. Chr.
Der Brauch des Küssens blieb nicht auf Indien beschränkt. »Nehmen wir das ›Enuma Elish‹, eine babylonische Schöpfungsgeschichte, deren Text uns in einer Version vorliegt, die auf Steintafeln aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. aufgezeichnet wurde – obwohl die Legenden, die ihr zu Grunde liegen, viel, viel älter sind«, erklärt Kirshenbaum. »Diese Schöpfungsgeschichte enthält Hinweise auf mehrere Küsse, darunter einen Kuss zur Begrüßung.«
In der Antike findet sich die Sitte dann häufiger – als Kuss von Mann zu Frau oder Mann zu Mann, wie griechische Vasenbilder zeigen. Homer schildert ihn in seiner »Ilias« und »Odyssee«. Und der griechische Geschichtsschreiber Herodot aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. beschreibt, wie die Perser sich je nach Status der Person unterschiedlich küssten. Ebenso berichtet er, dass sich die Ägypter angeblich weigerten, Griechen auf den Mund zu küssen, weil diese Kühe, ein für die Ägypter heiliges Tier, verspeisten.
»Die ganze Nachbarschaft küsst dich«
Zurzeit des Römischen Reichs zeichnen antike Autoren das Bild einer überaus lebendigen Kusskultur – auch wenn der Brauch wohl nicht bei jedem gern gesehen war. Der römische Dichter Martial etwa stellte im 1. Jahrhundert n. Chr. empört fest, als er nach 15 Jahren nach Rom zurückkehrte: »Die ganze Nachbarschaft küsst dich, es drückt dich der haarige Bauer mit bocksgeruchigem Mund; von hier droht der Weber, von dort der Tuchwalker, von hier der Schuster, der gerade noch Leder geküsst hat, von hier der Dominus mit dem gefährlichen Kinn, von hier auch der Schielende, von dort der Triefäugige sowie der Fellator und Cunnilingus, die gerade fertig sind. Schon deswegen war es nicht wert zurückzukehren« (Epigramm XII 59).
Martial war mit seiner Abneigung gegen das allgegenwärtige Küssen nicht allein. Der römische Kaiser Tiberius (42 v. Chr.–37 n. Chr.) untersagte den Brauch, womöglich um die Ausbreitung einer Pilzerkrankung zu verhindern. Denkbar, aber nicht gesichert ist, dass es sich um das Herpesvirus gehandelt hatte.
Mit der Ausbreitung des Christentums wurde auch die Rolle des Kusses neu verhandelt: In der Bibel findet sich der Kuss zwar an etlichen Stellen; dennoch, so fürchteten Priester, könnte er der Auftakt zu weiteren sündhaften Aktivitäten sein. Um das zu verhindern, durften Männer und Frauen bald keinen Friedenskuss in der Kirche mehr austauschen.
Süße englische Küsse
Damit war die Sitte natürlich nicht aus der Welt geschafft. Ein Brief des niederländischen Gelehrten Desiderius Erasmus aus dem Jahr 1499 verdeutlicht das. Begeistert berichtet er seinem Freund Faustus von seiner Englandreise: »Es gibt eine Mode, die nicht genug gelobt werden kann. Wo auch immer du hinkommst, wirst du geküsst, und wenn du wieder gehst, wirst du mit Küssen verabschiedet; du kommst zurück, die Süßigkeit wird wiederholt. (…) Oh Faustus, wenn du einmal gekostet hättest, wie süß und duftend sie sind, würdest du in der Tat wünschen, ein Reisender zu sein, (…) dein ganzes Leben lang, in England.«
Etwa 150 Jahre später war von dieser Praxis in England wohl nur noch wenig übrig: Bedingt durch die Pest verlor das Küssen um 1655 seine Popularität. Stattdessen winkten sich die Menschen zur Begrüßung nun zu, knicksten, verbeugten sich oder neigten ihre Hüte. Das Küssen überstand aber auch diese Zeit.
Das Küssen ist kein universelles Phänomen unter Menschen
Als Europäer zu neuen Kontinenten aufbrachen, zeigte sich, dass der mittlerweile in Europa etablierte Lippenkuss keine universelle menschliche Geste war. Überrascht stellten Entdecker wie der Brite William Winwood Reade (1838–1875) fest, dass er in anderen Teilen der Welt vollkommen unbekannt war oder gar abgelehnt wurde. Aus dieser Erkenntnis entwickelten Gelehrte allerdings ein rassistisches Menschenbild. So sei das Küssen auf die Lippen »zivilisiert«, der Riechkuss hingegen »primitiv« oder »barbarisch«.
Tatsache ist, der Lippenkuss ist weitaus weniger verbreitet, als wohl viele Menschen der westlichen Welt meinen. Anthropologen um William Jankowiak von der University of Nevada durchsuchten dazu ethnografische Quellen. Wie sie im Fachblatt »American Anthropologist« schreiben, analysierten sie 168 Kulturen, ob bei diesen der Kuss als »Lippe-an-Lippe-Kontakt« existiert. Ihr Ergebnis: Bei 77 Kulturen kommt er vor, also bei rund 46 Prozent, doch den übrigen 91 ist diese Art von Zuneigungsgestus fremd. Demnach ist das Küssen unter Menschen offensichtlich kein universelles Phänomen.
»Westlichen Ethnozentrismus« vermuten die Forschenden als Ursache für diese Sichtweise. Vermutlich weil die westliche Welt den Kuss mit allerlei positiven Gefühlen verknüpft, hat sie ihn zum menschlichen Merkmal erkoren. Dabei kam er anfangs wohl mit weniger erfreulichen Nebeneffekten nach Europa – zusammen mit dem Herpesvirus.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.