Kwarup: Ein Ritual gegen das Corona-Trauma
Schwer, leicht, schwer, leicht, im immer gleichen Rhythmus trippeln die zwei Männer durchs Dorf, dröhnt es heiser aus ihren Flöten. Schwer, leicht, schwer, leicht. Tiefe Töne, begleitet von spitzen Schreien und Gesang. Dunkelrot glänzt die Urucum-Farbe auf den Körpern. Auch die drei Mädchen, die sich an ihre Schultern hängen, tanzen den Takt. Sie rufen das Dorf in eine Zeit, in der es noch keinen Tod gab.
Im Dorf Uyapiuku, im Quellgebiet des Xingu in Zentralbrasilien, ist alles bereit für die letzte Phase des Kwarups. Das große Abschiedsfest soll die Trauer vertreiben, die seit Mai 2022 über dem Dorf der Mehinako liegt.
»Ich hoffe sehr und bete, dass dies das letzte Kwarup sein wird, das wir wegen des Coronavirus begehen«, sagt Igor Souza. »Viele Familien trauern noch. Die Töchter der Verstorbenen, Watatakalu und Ana Terra, sind noch in Trauer, aber am Sonntag wird das vorbei sein.« Der Lehrer kennt die Menschen im Dorf der beiden genau, seit sechs Jahren unterrichtet er hier die Kinder.
Die Corona-Pandemie hat im Oberlauf des Flusses Xingu unverhältnismäßig viele Opfer gefordert. Eines davon war ebenjene Frau, die ich selbst vor 22 Jahren kennen gelernt hatte, als ich in Uyapiuku meine Feldforschung machte. Aber nicht nur ich: Jeder hier kannte ihren Namen, weit über die Grenzen des Dorfs hinaus. Doch erst nach dem Ritual darf dieser Name wieder ausgesprochen werden.
Mit ihrem Bruder Aiuruá war ich über die Jahre in Kontakt geblieben. Er lebt mit seiner Familie in der Hauptstadt Brasilia. Er war es auch, der mich vom Tod seiner Schwester benachrichtigte und mich einlud. Nun wollte ich nicht nur beim Ritual dabei sein, sondern auch die genauen Umstände ihres Todes erfahren. Ich befragte ihre Familie, ich sprach mit dem lokalen Gesundheitspersonal und fuhr in die Hauptstadt, um mit Robson Santos da Silva zu reden. Er war der Leiter des Sondersekretariats für Indigene Gesundheit (SESAI) während der Pandemie. Expräsident Jair Bolsonaro hatte den unerfahrenen Oberstleutnant der Reserve auf diesen Posten gesetzt.
Ein Paradies der biologischen und kulturellen Vielfalt
Es ist Mitte August 2022, Ende der Trockenzeit, Zeit für die Totenfeste. Das Kwarup ist das Fest der Feste. Xinguano zu sein, bedeutet Kwarup zu feiern.
Obgleich sie unterschiedliche Sprachen sprechen, haben die Xinguanos, die Bewohner der Oberen-Xingu-Region, ihre Kulturen aneinander angeglichen. Sie heiraten nach den gleichen Regeln, bauen ihre Häuser und Dörfer nach demselben Schema und bemalen sich mit den gleichen Mustern und teilen ein reiches Repertoire an mythischen Geschichten.
Selbstbeherrschung ist wichtig für sie. Wut, Hass, Gefühlsaufwallung, all das muss man kontrollieren. Anstatt sich zu bekriegen, tauschen die Xinguanos Salz gegen Tongefäße, Muschelketten oder Bögen aus schwarzem Holz. Und laden sich gegenseitig zu Festen ein.
An diesem Wochenende sind die Kuikuru dran. Nächstes Wochenende dann die Mehinako. Eine Woche bleibt ihnen noch für die Vorbereitung. Das Dorf muss blitzen für das große Totenfest und seine etwa 40 weißen und mindestens 2000 indigenen Gäste.
Die Region, in der sie leben, ist ein Paradies der biologischen und kulturellen Vielfalt, eine Insel im Meer aus Sojafeldern und Rinderweiden. Außerhalb davon erinnert nur noch der Name des Bundesstaats an sein einstiges grünes Selbst: Mato Grosso, dichter Wald.
Malocas heißen die palmgedeckten Großhäuser, in denen die Mehinako leben. Ein knappes Dutzend reiht sich um einen zentralen Platz, jedes für sich ein kleines Universum im Urwald. Mit 10 Meter Höhe, bis zu 40 Meter Länge und 15 Meter Breite haben sie stattliche Ausmaße. Im vorderen Bereich jedes Hauses ist so viel Platz, dass dort mehr als 100 Menschen gleichzeitig tanzen können.
Im hinteren Teil geht es familiärer zu. Dort baumeln die Hängematten, glühen Feuerstellen – und immer steht ein Topf mit frischem Mingão, einem Maniokgetränk, für die Familie bereit. Der Hinterausgang zeigt zum Wald. Dort, wo die Bäume Schatten spenden, braten die Frauen Maniokfladen auf großen Tonplatten und rösten Fische über dem Feuer. Oder sie stellen Schnüre, Perlenketten oder Tongefäße her, die sie untereinander tauschen. Während des Kwarups werden Gäste von weither erwartet, deshalb flechten und töpfern sie auch für den Verkauf.
Ein Traktor kommt angefahren. Das Palmdach der Malocas braucht viel Pflege, bei dreien ist es mit großen Plastikplanen abgedichtet, einem weiteren ist nicht mehr zu helfen. Es ist zusammengebrochen. Die alte Maschine räumt das Hausgerippe aus der Sicht. Wenige Wochen später gibt sie ihren Geist auf.
Das Fest der Feste
Ein Kwarup ohne Gäste ist unvorstellbar. Je mehr, desto bedeutender die verstorbene Person. Botschafter werden in die Nachbardörfer geschickt, wo sie sehr förmlich zur Teilnahme bitten und Geschenke überbringen. Das Fest soll eine große Hommage an die Toten werden. Es bietet aber auch Anlass, sich wiederzusehen, zu plaudern, Neuigkeiten auszutauschen.
Jeden Tag treffen mehr Besucher ein. Sie kommen mit ihren Kindern und spannen ihre Hängematten hinter den Häusern auf. Eine Familie hat sogar ihren zahmen Sperlingspapagei dabei. Für die näheren Verwandten und nicht indigenen Gäste hat Assalu eine provisorische Holzkonstruktion aufgestellt. Mindestens 40 Hängematten haben hier Platz. Wegen der Plastikplane, die Assalu über das Gerüst gespannt hat, ist es hier tagsüber fast unerträglich heiß. Nachts, wenn der Himmel über der Plane sternenklar ist, frösteln wir bei zehn Grad.
Die Corona-Pandemie traf den Xingu mit aller Wucht
Lange konnte sich das Dorf der Mehinako während der Pandemie isolieren. »Die Verstorbene hat damals bei uns gelebt. Dann hat sie Angst gekriegt und ist nach Canarana, in die Stadt, gegangen. Dort hat sie sich angesteckt«, sagt Yaluité Mehinako. Er ist der Krankenpfleger des Dorfs und ein Neffe der Verstorbenen.
Ende Mai 2020 brach Sars-CoV-2 mit voller Wucht in den Oberen Xingu ein. Irgendjemand hatte sich infiziert. Der steckte dann beim gemeinsamen Fischfang alle an. »Das war wie eine Explosion«, sagt Yaluité. Bald waren die Krankenhäuser der Region überfüllt.
»Ich habe damals rund um die Uhr gearbeitet«, erinnert er sich, »wir benutzten Azithromycin, ein sehr starkes Antibiotikum, und Dexamethason, ein Kortikosteroid, das Entzündungen lindert.« Bei niemandem seien die Lungen stark entzündet gewesen, weil sie ein vorbeugendes Mittel angewendet hatten, ihre Wurzelmedizin. »Aber wer Gesundheitsprobleme hatte wie mein Großvater, der hat nicht standgehalten.« Neben seinem Großvater verlor Yaluité seine Tante und eine weitere Verwandte an das Virus. Yaluité berichtet das alles mit dem gemäßigten Temperament der Xinguanos.
Igor Souza, dem Lehrer aus dem Nachbardorf der Yawalapiti, steigen immer wieder die Tränen in die Augen. »Das war ein kollektiver Schrecken«, sagt er. »Das Gesundheitsteam war physisch und psychisch nicht mehr in der Lage, den Leuten zu helfen. Sie sahen so viele Todesfälle und konnten nichts tun. Medikamente gab es nur über private Hilfskampagnen.«
An den Statistiken lässt sich das Wüten des Virus unter den Indigenen nicht ablesen. Vor allem fehlen Daten über indigene Personen, die außerhalb der offiziell anerkannten indigenen Territorien leben, wie die Verstorbene.
Im Dorf wimmelt es inzwischen von Fotografen. Das Kwarup ist in den vergangenen Jahren zur Attraktion geworden. Es liefert exotische Bilder von »echten« Indigenen mit Körperbemalung, nur mit Perlenketten und Muscheln oder Baumwollgürteln bekleidet. Es wird um das beste Motiv gerangelt. Einer scheucht ein Kind aus dem Bild, weil es die Komposition stört. Auch die solarbetriebenen Fernseher oder Kühlschränke in manchen Malocas werden von vielen lieber weggeschnitten.
Watatakalu versuchte, das Leben ihrer Mutter zu retten
»Wir holten meine Mutter nach Canarana, wo ab Februar 2021 die Impfungen begannen«, erzählt Watatakalu Yawalapiti, die Tochter der Verstorbenen. Sie ist Umweltaktivistin und Mitgründerin der indigenen Frauenorganisation ANMIGA. Auch ihr war klar, dass ihre Mutter – ungefähr 50 Jahre alt und Diabetikerin – zur Gruppe der besonders Gefährdeten gehört.
Als sie hörte, dass Indigene, die wie ihre Mutter in der Stadt gemeldet sind, keinen Anspruch auf Impfung hatten, war sie empört. »Ich habe gedroht, das Gesundheitspersonal zu fesseln, bis alle Verwandten geimpft wären.« Das Chaos sei so groß gewesen, dass sogar SESAI-Sondersekretär Robson Santos da Silva habe kommen müssen.
Bei unserem Gespräch in Brasilia verweist Santos da Silva auf die gesetzlichen Vorgaben der Regierung. »Wenn wir nicht von der Gesetzgebung ausgehen, dann wird es schwierig. Und die besagt, dass sich die Bundesregierung um die ›aldeados‹ (die Indigenen in den anerkannten indigenen Gebieten, d. Red.) kümmert. Punkt.«
Studien zeigen allerdings: Indigene sind anfälliger für grippale Infekte als der Durchschnittsbrasilianer. Sie leben auch enger mit den Angehörigen zusammen – egal ob auf dem Land oder in der Stadt. Die indigene Bevölkerung im städtischen Umfeld war einer Untersuchung zufolge dem Virus sogar besonders stark ausgesetzt. Der Anteil der infizierten Indigenen lag um 87 Prozent höher als bei den Weißen in derselben Ortschaft.
Dennoch schloss die SESAI all jene Indigenen, die in der Stadt lebten, von der Impfpriorisierung aus. Die Bundesstaaten und Gemeinden hätten schlicht keine Informationen darüber, wer indigen sei und wer nicht, sagt Robson Santos da Silva: »Da kann ja jeder kommen.«
An dieser diskriminierenden Praxis hielt die SESAI selbst dann noch fest, als der brasilianische Bundesgerichtshof ein Ende dieser Ausgrenzung forderte. Die indigene Abgeordnete Joênia Wapichana hatte ein entsprechendes Urteil im April 2021 erstritten. Es änderte nichts.
Watatakalus Mutter erhielt die erste Dosis des chinesischen CoronaVac im Februar 2021 in Canarana. Doch für die Auffrischung sei sie hingehalten geworden, erzählt die Tochter. Erst 60 Tage später gab es die zweite Spritze – 30 Tage wären laut Empfehlungen der Impfkommission angebracht gewesen. »Hätte sie diese einen Monat früher bekommen, wären ihre Überlebenschancen sehr viel größer gewesen«, sagt Watatakalu. »Das hier passiert nur, weil wir Indigene sind! Ihr kennt unsere Realität nicht!«, habe sie den Leuten von der SESAI entgegengerufen.
Kurz nach der zweiten Impfung erkrankte ihre Mutter. »Wir waren sehr verzweifelt. Zwei Tage lang mussten wir auf einen freien Platz im Krankenhaus warten. Den mussten wir selbst bezahlen«, sagt Watatakalu.
Keine Unterstützung
Mit jedem Tag steigern sich im Dorf die rituellen Tanzeinlagen. Ab Mittag hört man die Flöten. Immer geht es im Hinkeschritt. Weitere Männer und Jungen schließen sich an. Vor dem Grab der Verstorbenen bilden sie eine Reihe und stampfen hin und her. Bei jedem betonten Schritt breiten die Tänzer ihre Arme aus, als ob es Flügel wären, und lassen sie wieder hängen. Die Frauen bilden eine parallele Tanzreihe.
Als sich der Zustand ihrer Mutter verschlimmerte, bemühte sich Watatakalu um einen privaten Krankenhausplatz in São Paulo. In den Städtchen Querência und Canarana, die an den Xingu angrenzen, fehlte es an Ausrüstung. Doch sie bekam kein Ambulanzflugzeug. »Ich habe beim indigenen Gesundheitsdistrikt angerufen und gesagt: Leute, wir brauchen dringend Hilfe!« Aber das Ambulanzflugzeug kam nicht, obwohl es in Canarana eines gab, wie Watatakalu später erfuhr. »Der Pilot hatte seine Dienste angeboten, aber der Distrikt wollte ihn nicht beauftragen.«
Es fehlte wohl am Geld und am Willen. Expräsident Jair Bolsonaro hatte den Gesundheitsbehörden das Budget zusammengestrichen. 2019 um 16 Prozent, 2020 um weitere 21,7 Prozent. Während in Brasilien das Virus grassierte, sanken die Mittel zu seiner Bekämpfung um 78,8 Prozent.
Bei der SESAI löste der Präsident Ämter und Abteilungen auf und setzte unerfahrene Parteigänger an die Spitze der lokalen indigenen Gesundheitsdistrikte. Private NGOs wie Medicos sem fronteiras und Expedicionários da Saúde sprangen ein und halfen mit Sauerstoff und Medikamenten. Doch auch ihre Hilfe musste durch den Flaschenhals der SESAI.
»Meine Mutter war vom 4. bis zum 25. Mai 2021 im Krankenhaus in Querência. Am 25. starb sie. Während der zweiten Welle«, sagt Watatakalu. Ihre Stimme vibriert. Die Trauer über den Verlust vermischt sich mit Wut auf die Regierung. »Die Leute sterben eben, da kann man nichts machen«, habe ihr Robson Santos da Silva gesagt.
Die Heimkehr des Körpers
Als der Körper der Verstorbenen in ihrem Heimatdorf ankam, war er voller Injektionsnadeln und in Plastik eingewickelt, erzählt ihre Tochter. »Ich weiß nicht, woher ich die Kraft nahm, sie zu baden. Ich wollte, dass sie gut hier ankommt. Aber das ganze Dorf hatte Covid.« Die Leute konnten sich kaum aus der Hängematte erheben.
Die Tradition verlangt, die Verstorbene zu beweinen. »Doch wenn sie weinten, mussten sie noch mehr husten und die Krankheit verschlimmerte sich. Wir wollten, dass sie sich schonen, weil mit dieser Krankheit nicht zu spaßen ist. Wir waren sehr schwach«, erinnert sich Watatakalu.
Bestattet wurde ihre Mutter vor dem zentralen Männerhaus zwei Meter unter der Erde, in der Hängematte, als schlafe sie. Die Grabstelle wurde mit einem Quadrat aus kleineren Baumstümpfen umfriedet.
Zwei Schamanen stehen vor dem Grab, schwingen ihre Rasseln und singen. Einige Männer haben bereits kräftige Baumstämme in Anderthalb-Meter-Stücke gesägt und aus dem Wald herangeschafft. Es ist Holz vom Ume-Baum, dem »chefe« unter den Bäumen. Passend für eine »chefe«, eine Führungsperson der Mehinako. Ihre Brüder haben die Baumwollschnüre, den Federschmuck für Kopf und Ohren gebracht, mit dem sie den Stamm dekorieren. Dazu schälen sie seine Rinde im oberen Drittel ab und verzieren das Holz mit dem Fischgrätenmuster, der typischen Körperbemalung für Frauen. Die Verwandten singen Lieder dazu, sprechen mit dem Holzabbild und ehren es, als sei es die verstorbene Person.
Kwarups werden nicht für jeden ausgerichtet. Aber für jede verstorbene Person wird ein Holzstamm geschmückt und bemalt. Neben der Mutter von Watatakalu wird diesmal noch einer Freundin der Verstorbenen und eines Babys gedacht.
Jede Gabe erfordert eine Gegengabe
Nichtindigene zu empfangen, ist seit Langem eine Praxis im Xingu. Nicht alle Weißen halten sich an den offiziellen Genehmigungsprozess (noch vor Abreise musste ich der Indigenen-Schutzbehörde unter anderem schriftlich versprechen, keine Informationen zu verbreiten, die gegen die Autonomie und die Ehre der Einzelnen verstoßen). Aber alle bringen Geld mit.
Wie viel, ist Verhandlungssache. Den Fisch und die Mengen an Maniokmehl, die die Gäste während der Festtage verspeisen, steuert die Familie der Verstorbenen bei. Doch das Benzin für die Anreise der insgesamt neun Nachbardörfer, die Duschinstallation und den Bau des Gerüsts, unter dem wir schlafen – das könnten sie ohne das Geld der Weißen nicht zahlen.
Im Xingu ist alles ein Geben und Nehmen. Für seine Festbemalung verschenkt Aiuruá, der Bruder der Verstorbenen, einen wertvollen großen Keramiktopf. Auch die Tänzer und die Flötenspieler werden jeden Abend mit Fisch, Maniok und Wassermelonen belohnt.
Fische fehlen im Netz
Es ist vier Uhr morgens, noch stockfinster und eisig kalt. Das ganze Dorf ist schon auf den Beinen, nur einige Weiße schaffen es noch nicht so früh aus der Hängematte. Wir brechen auf zum kollektiven Fischfang an der Lagune. Bevor die Fischer das 20 Meter lange Netz ins Wasser bringen, müssen sie sich mit Flammen und Rauch reinigen. Dazu zünden sie trockene Palmwedel an und halten sich gegenseitig an ihren Füßen, bis das Gegenüber zu hüpfen und zu schreien anfängt. Das ist ein riesiger Spaß. Auch die Frauen lassen mal die Männer springen, und die weißen Gäste kommen ebenfalls dran.
Derweil zieht ein Schamane, der vor dem langen Netz sitzt, an seiner Tabakzigarre und fällt in Trance. »Kupate!«, ruft er, »Fische!« Viele sieht er ins Netz gehen. Mit den ersten Sonnenstrahlen ziehen die Fischer in einer langen Reihe und unter spitzen Schreien mit dem Netz ins Wasser. Sie spannen es bis zum anderen Ufer und waten dann die Lagune hinauf. Als sie das Netz zusammenziehen, brodelt das Wasser. Die Fische versuchen zu entkommen und springen über die Netze. Am Ufer warten Frauen und Kinder, um den Fang einzusammeln und nach Hause zu bringen.
Es sind noch drei Tage bis zum rituellen Höhepunkt und Ende des Festes. Die Woche in Uyapiuku, dem Dorf der Mehinako, ist schnell vergangen. Inzwischen sind alle Gäste mit der blauschwarzen Farbe der Jenipapo-Frucht bemalt, an Armen und Beinen. Trotz Duschen und Baden wird sie mindestens zwei Wochen halten.
Die Nacht der Tränen
Wie man Kwarup feiert, hat den Xinguanos der Schöpfergott Kuamute vorgemacht. Er konnte die Verstorbenen auferstehen lassen, indem er Baumstämme schmückte und besang. Ein paar vorwitzige Menschen wollten dabei zusehen und störten den Gott, die Verwandlung ging schief. Seitdem müssen die Menschen sterben. Es ist ein bisschen wie die Geschichte von Eva mit dem Apfel – nur ohne Sünde.
Am Nachmittag räuchern auf meterlangen Holzgerüsten ordentlich nebeneinander aufgereiht Buntbarsche, Umberfische, Spindelsalmler, Gefleckte Welse und Rotbäuchige Piranhas. Der Fang war gut, aber nicht ausreichend. Die Mega-Haziendas, die an den Xingu herangewachsen sind, haben mit ihren Herden die Gewässer mit Kolibakterien und Pestiziden verschmutzt. Auch die zunehmende Trockenheit durch die Sojamonokulturen hat den Wasserspiegel der Flüsse empfindlich sinken lassen. Die Gastgeber müssen Fisch von den brasilianischen Fischern dazukaufen.
Der Ethnologe Antonio Guerreiro von der Universität im brasilianischen Campinas hat das Ritual in einem Aufsatz beschrieben: Der geschmückte Baum komme in einen Zustand, in dem er gleichzeitig auch ein Geist sei. Damit er freundlich bleibe, müsse er gefüttert werden.
Gleichzeitig sei der Holzstamm aber auch der Doppelgänger der geliebten Person, nach der sich die Menschen sehnen. So inszeniert das Kwarup eine letzte Begegnung der Verwandten mit der Verstorbenen. Sie können ihre Gegenwart noch einmal fühlen und ihr Weggehen beweinen. Erst dann wird die Bindung zwischen der Seele der Toten und der Lebenden endgültig durchtrennt.
In der Nacht vor dem feierlichen Abschluss des Festes können die Mehinako endlich nachholen, was bei der Ankunft des Körpers der Verstorbenen unmöglich gewesen war: ausgiebig weinen. Dazu hat sich die Familie in einem der Häuser versammelt. Das Wehklagen und Schluchzen dringt durch die Stille der Nacht. Erst als sich am nächsten Morgen die Sonne wieder zeigt, versiegen die Tränen.
Die Trauernden kommen bemalt und geschmückt aus dem Haus. Seit dem Tod seiner Schwester hatte sich Assalú Mehinako die Haare nicht mehr geschnitten. Jetzt ist auch er wieder im typischen Xingu-Topfschnitt-Look zu sehen. Er strahlt und sieht um Jahre jünger aus. »Es ist eine große Verantwortung, dieses Fest durchzuführen, man darf nichts falsch machen«, sagt er. Endlich ist die Trauer besiegt, und das Leben kann weitergehen. Und erst jetzt darf der Name der Verstorbenen wieder ausgesprochen werden: Yamoní.
Yamoní Mehinako. Sie war ein schöner Mensch, sagen ihre Töchter. Sie ermunterte uns und die Frauen dazu, uns selbst zu respektieren und uns gegenseitig zu unterstützen. Sie kannte die Welt der Weißen und als Schamanin die Kosmologie ihres Volks. Ich hatte sie als eine weise und lebenslustige Frau kennen gelernt, die traditionell und gleichzeitig modern dachte.
Doch Yamonís Tod taucht in den Statistiken zu Todesfällen unter Indigenen nicht auf. Dort stehen nur die, die in den Dörfern der offiziell anerkannten Schutzgebiete leben. Dabei ist für viele Indigene das Leben zwischen Dorf und Stadt zur Normalität geworden. Sie studieren in den Städten, arbeiten für indigene Organisationen oder im Gesundheitswesen. Laut Zahlen des brasilianischen Instituts für Geografie und Statistik lebte im Jahr 2010 fast jeder zweite der rund 900 000 Indigenen in städtischen Kontexten. Inzwischen dürften es wesentlich mehr sein. Dass keiner von ihnen, der an Corona starb, von der SESAI als Indigener gezählt wurde, werten Kritiker als Zeichen, dass die skandalöse Vernachlässigung der indigenen Bevölkerung verschleiert werden soll.
Das Rad ist der Höhepunkt des Festes
Am Sonntagmorgen strömen die Gäste aus den Nachbardörfern mit Booten, auf Lastwagen, Motorrädern herbei. Der Höhepunkt des Festes steht bevor: der gemeinsame Tanz, das »Rad«, und die Hukã-hukã genannten Ringkämpfe. Der Kazike der Mehinako begrüßt die anderen Anführer feierlich vor dem Männerhaus und beschenkt sie reichlich mit Fisch und Maniokfladen. Alle sind herausgeputzt und bemalt – schwarz, rot und weiß. Die meisten mit traditionellen Mustern der Boa constrictor und des Jaguars, der großen Raubtiere des Waldes. Die jüngeren Ringer sitzen auf Lastwagen, die Gesichter weiß und schwarz wie Totenköpfe. Sie lachen viel und eine Spur zu laut. Es geht um alte Rivalitäten der Dörfer und darum, eine gute Figur abzugeben. Alles muss stimmen, die Bemalung und die innerliche Vorbereitung auf den Kampf: Die Nacht zuvor haben sie nicht geschlafen, um keine schlechten Träume zu haben, und mussten enthaltsam sein.
Die Gastgeber bilden einen Kreis und ziehen im stampfenden Rhythmus, begleitet von spitzen Schreien, um den zentralen Platz. In dieses Rad reihen sich auch alle indigenen Besucher ein. Für einen Moment bewegen sich alle Xinguanos gemeinsam im gleichen Takt.
Dann öffnet sich das Rad zu einem Halbkreis. Die verzierten Körper von mehreren hundert Kämpfern glänzen in der Mittagssonne. Vor dem Männerhaus rufen die Gastgeber nun zehn ihrer besten Ringer aus und fordern die Gäste heraus. Ohne Pause geht es zur Sache. Unter den anfeuernden Rufen der umstehenden Männer versuchen die Ringer, sich zu fassen zu kriegen. Sie umkreisen sich, packen sich an den Schultern, fallen auf die Knie, tauchen ihre Hände in den Sand des Platzes, um am geölten Körper des Gegners nicht abzurutschen.
Wie geht man damit um, wenn der Präsident die Pandemie offenbar als Chance versteht, das eigene Volk zu zermürben? Eine parlamentarische Untersuchungskommission ergab im Jahr 2022, dass Jair Bolsonaro die Indigenen durch seine Corona-Politik systematisch schädigte. Er blockierte, sparte und drohte gar Gouverneuren, die versuchten, Feldlazarette und Beatmungsgeräte zu kaufen, mit Polizeieinsätzen. Gleichzeitig befeuerte er durch Duldung von illegalem Landraub, Bergbau und Holzeinschlag die weitere Zerstörung ihrer Lebensgrundlage.
Die Ringer knallen mit ihren Köpfen zusammen, stöhnen und versuchen sich an den Kniekehlen zu fassen oder einander umzuwerfen. Dann dürfen die jungen Ringer ran. Sie verwandeln den Platz in eine einzige Arena, in der es den Staub nur so aufwirbelt. Alle treten gegeneinander an, es wird gerungen, gestöhnt, die Zuschauer feuern ihre Kämpfer vom Rand des Platzes an. Schon nach 10 bis 20 Sekunden ist ein Kampf entschieden. Danach reichen sich beide die Hand. Der Gewinner lacht zufrieden, der Besiegte lacht beschämt. »Wer hat gewonnen?«, frage ich die Umstehenden. – »Unentschieden!«
Wer mit den Dorfbewohnern spricht, merkt: Das Kwarup gibt ihnen Halt, macht sie widerstandsfähiger, auch gegenüber der absichtsvollen Vernachlässigung der Regierung.
Und dann ist es geschafft. So plötzlich, wie sie kamen, verschwinden die Gäste wieder. Erst jetzt, wenn das Dorf wieder ruhig ist, endet der rituelle Prozess. Die Tote kann verabschiedet werden. Das hölzerne Abbild wird noch eine Weile weiter »gefüttert« und dann in die Lagune ins Wasser geworfen.
»Das Kwarup hilft uns, um wieder zurechtzukommen«, sagt Watatakalu. Wenn der Baumstamm im Wasser treibt, ist der Weg frei für die Rückkehr zur Freude.
Anm. d. Red.: Die Recherchen für diesen Beitrag wurden von der Riff freie Medien gGmbH aus Mitteln der Klaus Tschira Stiftung und von OXFAM Deutschland gefördert.
Der Traktor der Mehinako ist seit September 2022 defekt. In einer Spendenkampagne sammelt die Autorin Geld, um das Gerät wieder flottzumachen. Um den Bau der Häuser nachhaltig zu ermöglichen, soll auch die Anpflanzung der erforderlichen Bäume unterstützt werden.
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