Langeweile: Der Monotonie entfliehen
Langeweile nervt. Wie eine Stubenfliege. Wir tun alles, um sie zu verscheuchen. Wenn das nicht hilft, fliehen wir vor ihr, stürzen uns in Arbeit oder Zerstreuung, checken das Smartphone im Minutentakt. Aber viele Ablenkungsstrategien nutzen sich bald ab – und der ungebetene Gast leistet uns erneut Gesellschaft. Erst recht in Corona-Zeiten, in denen wir durch Abstandsregelungen und Ausgangssperren manchmal regelrecht zu Langeweile verdonnert werden.
Langeweile ist ein Zustand des Wartens, ohne recht zu wissen, worauf eigentlich. Zu warten sei eine Zumutung, ja, ein Zustand, bei dem etwas weh tut, schreibt die Journalistin Andrea Köhler in ihrem Buch »Lange Weile«. Besonders bedrückend sei er, wenn er uns von außen auferlegt werde. Das erleben derzeit viele. Die Abneigung gegen die Corona-Langeweile rührt auch daher, dass uns das Gefühl beschleicht, jemand sperre uns aus, zwinge uns zum Nichtstun, enthalte uns Strategien vor, mit denen wir sonst nach Zerstreuung suchen, und nähme uns weg, was uns gehört – nicht zuletzt die Autonomie, über unsere Zeit selbstständig und frei zu verfügen.
»Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.« Der Satz des französischen Philosophen Blaise Pascal stammt aus dem 17. Jahrhundert und ist doch brandaktuell. Man muss nur mal das Wort »Zimmer« durch »Homeoffice« ersetzen! Pascals Gedanke: Wir alle suchen unser Glück in der Zerstreuung. Damit vermeiden wir, an die eigene Sterblichkeit denken zu müssen, an Leid und Elend und weitere Abgründe. Denn diese kämen uns unweigerlich in den Sinn, stellten wir uns im stillen Kämmerlein wirklich unserer Einsamkeit. Deshalb könnten wir das leere Zimmer nicht aushalten, so Pascal. Diesen Gedanken greift Martin Heidegger in seiner Existenzialphilosophie wieder auf und formuliert: »Ist es am Ende so mit uns, dass eine tiefe Langeweile in den Abgründen des Daseins wie ein schweigender Nebel hin- und herzieht?«
Auch Tiere langweilen sich. Jeder hat schon einmal ein Raubtier dabei beobachtet, wie es im Käfig seine Runden zieht. In seinem berühmten Gedicht »Der Panther« hat Rainer Maria Rilke (1875–1926) die fade Trauer eines eingesperrten Tiers thematisiert, in dem durch die Gefangenschaft, wie er schreibt, »betäubt ein großer Wille« ist, der sich nicht entfalten darf. In einer 2012 veröffentlichten Untersuchung tendierten zum Beispiel Nerze, die in einem leeren Käfig gehalten wurden, dazu, länger untätig wach zu sein und mehr zu fressen als Artgenossen mit Spielmöglichkeiten. Außerdem interessierten sie sich stärker für diverse Objekte (wie eine Plastikflasche oder Zahnbürste), was dafür spricht, dass es den Tieren tatsächlich langweilig war und sie nicht unter einer Apathie (Gleichgültigkeit) oder einer Anhedonie (Freudlosigkeit) litten.
Der Psychologe John D. Eastwood von der York University in Toronto nennt die Langeweile einen »aversiv erlebten mentalen Status«. Aversiv meint, dass man den Zustand nur mit Widerwillen erträgt. Im Französischen ist die Bedeutung schon im Wort für Langeweile enthalten: »ennui«. Das Verb »s'ennuyer« heißt sich langweilen – und gleichzeitig lästig sein, unangenehm sein. Der entscheidende Unterschied zwischen einer Depression und Langeweile ist ein konkreter Auslöser für die gedrückte Stimmung: das Erleben von Monotonie.
Langeweile, Depression und Flow
Was spielt sich im Gehirn ab, wenn wir uns langweilen? Die wenigen Untersuchungen, die es bisher zum Thema gibt, haben Hirnareale identifiziert, die bei Langeweile aktiv sind und deren Aktivitätsmuster sich eindeutig von denen einer Depression unterscheiden: Die Forscher beobachteten dabei Erregungszustände im so genannten Default Mode Network. Dieses Netzwerk an Arealen ist aktiv, wenn wir uns erinnern, fantasieren, tagträumen, nachdenken oder grübeln. In den Experimenten wurde die Langeweile vor allem mit ihrem Gegenspieler verglichen, dem »Flow«. So bezeichnet man den Zustand, wenn Menschen völlig in ihrem Tun aufgehen. Ein Team um Martin Ulrich vom Universitätsklinikum Ulm fand ein spezifisches Aktivitätsmuster in der Amygdala seiner Probanden, während sie langweilige Rechenaufgaben lösten. Diese Hirnregion spielt bei der Entstehung von negativen Emotionen wie Angst eine wichtige Rolle. Das Muster war bei spannenderen Aufgaben, die »im Flow« erledigt wurden, schwächer ausgeprägt, was darauf hinweisen könnte, dass Langeweile mit einer gedrückten Stimmung einhergeht.
Bis heute ist es schwer zu sagen, wo Langeweile beginnt und wo sie aufhört. Sie zu untersuchen ist deshalb schwierig, weil es an objektiven Messmethoden mangelt. Bisher hat man sie nahezu ausschließlich über Fragebogen erfasst, was methodische Probleme mit sich bringt. So sind Selbstdarstellungen von Personen häufig geschönt oder verzerrt.
Die Bedeutung dieses Gefühls rückt zunehmend in den Fokus der psychiatrischen Forschung, denn viele psychisch erkrankte Menschen geben an, verstärkt oder sogar permanent unter Langeweile zu leiden, zum Beispiel Personen mit einer Hyperaktivitätsstörung. An der Universitätsklinik Mainz hat der Mediziner Johannes Seiler in seiner Dissertation, die 2021 veröffentlicht wird, einen einfachen Verhaltenstest entwickelt, der erstmals Langeweile gezielt als psychisches Problem erfasst. Mit Hilfe des Tests, der inzwischen auch praktisch überprüft und in Anwendung ist, kann künftig ermittelt werden, ob ein übersteigertes Langeweile-Empfinden vorliegt.
Johannes Seiler erklärt, wie der Test funktioniert: »Das Prinzip basiert auf der Definition von Langeweile als einem aversiven Zustand, der vermieden wird.« Die Probanden sollen mehrmals einen von zwei Knöpfen drücken. »Bei einem der beiden Knöpfe erscheint nur ein einziges, sich wiederholendes Bild, beim anderen werden abwechselnd verschiedene Bilder gezeigt.« Etwa ein Baguette, ein Ast, ein Klebestift oder eine Wanduhr. »Man hat so die Möglichkeit, sich mit jedem Knopfdruck zwischen monotoner und abwechslungsreicher Reizung zu entscheiden«, so Seiler.
Nun könnte man vermuten, dass Menschen im Test ausschließlich den Knopf für wechselnde Bilder drücken. Dem ist aber nicht so. Ab und an wählen Probanden durchaus die Taste mit dem bekannten Bild. Der Effekt, dass eine Vertrautheit von Umweltreizen auch anziehend sein kann, ist in der Psychologie durch die Arbeiten des US-amerikanischen Psychologen Robert Zajonc (1923–2008) seit Langem bekannt. Menschliches Verhalten bewegt sich somit zwischen der Suche nach Vertrautheit auf der einen Seite und der Vermeidung von Wiederkehrendem auf der anderen.
Langeweile ist bis zu einem gewissen Grad nicht nur unvermeidlich, sondern sogar hilfreich
In Seilers Untersuchungen nutzten die Teilnehmer die Taste für das sich wiederholende Bild jedoch eher selten, wobei das Ausmaß der Monotonievermeidung die erlebte Langeweile widerspiegelte. Anders ausgedrückt: Je öfter jemand den Knopf mit dem immer gleichen Bild vermeidet und den mit den abwechslungsreichen Bildern betätigt, umso stärker ist er gelangweilt. Und umso wahrscheinlicher ist es, dass ein psychisches Problem vorliegt. Der Test kann also herausfiltern, welche Personen besonders schnell Langeweile erleben, was ein Risikofaktor für eine psychische Störung zu sein scheint.
Langeweile ist im Grunde ein ambivalentes Gefühl. Bis zu einem gewissen Grad ist dieses Stadium der Reizarmut nicht nur unvermeidlich, sondern sogar hilfreich, um in Kontakt mit sich selbst zu treten. Es löst fruchtbare Suchprozesse aus, die zu Neuem führen. So gesehen ist es eine Bedingung für Kreativität, Tatendrang und Neugier. Das Problem entsteht, wenn der Zustand nicht sporadisch auftaucht, sondern anhält. Denn dann nutzen Menschen verschiedene Methoden, um ihn zu verscheuchen – und die sind nicht unbedingt gesund.
Die Ablenkungsversuche sind das Problem
Seiler unterscheidet extrinsische und intrinsische Strategien, um dem ungeliebten Befinden zu entkommen. Erstere zielen darauf ab, die Langeweile durch äußere Reize zu vertreiben, letztere versuchen das durch die Beschäftigung mit sich selbst. Konstruktiv können beide sein. Gesunde extrinsische Methoden sind etwa, sich eine Ausstellung anzusehen, die Natur auf sich wirken zu lassen, Musik zu hören, zu stricken und zu lesen. Den eigenen Gedanken und Erinnerungen nachzuhängen, Pläne zu schmieden, nachzudenken, tagzuträumen oder zu dösen sind dagegen hilfreiche intrinsische Techniken. Dafür muss man allerdings etwas mit sich anzufangen wissen, sich gut mit sich selbst beschäftigen und den eigenen Gedanken nachhängen können.
Die Langeweile wird dann zu einem Problem, wenn Menschen ganz und gar schädliche Formen wählen, um sie zu bewältigen – schädlich für sie selbst und andere. Das mag sich zum Beispiel im Konsum von Alkohol oder anderen Drogen äußern, in riskantem Verhalten oder Regelverletzungen. Auch intrinsische Strategien können problematisch sein, dazu zählen Grübeln, Apathie und Antriebslosigkeit.
Im jährlichen Global Drug Survey, der größten Onlineumfrage zum Thema, beantworteten während der Corona-Pandemie im Mai und Juni 2020 weltweit über 55 000 Menschen Fragen zu ihrem Alkohol- und Drogenkonsum; knapp die Hälfte kam aus Deutschland. Zu diesem Zeitpunkt herrschten hier zu Lande Kontaktbeschränkungen – Geschäfte, Restaurants, Cafés und Kneipen waren überwiegend geschlossen.
Das Ergebnis: Mehr Leerlauf, mehr Zeit, mehr Langeweile, aber auch mehr Einsamkeit wirkten sich eindeutig negativ aus. Es wurde insgesamt deutlich mehr gekifft und getrunken. Fast 40 Prozent der Befragten gaben an, häufiger als üblich alkoholische Getränke zu sich zu nehmen. Ein ähnlich großer Anteil trank allein zu Hause (zuvor: 30 Prozent) und begann zu einer früheren Uhrzeit damit.
Immer wieder wurde auch über eine Zunahme häuslicher Gewalt seit Beginn der Pandemie berichtet. Hierbei scheint Langeweile ebenfalls eine Rolle zu spielen. Einen Zusammenhang entdeckte bereits 1997 Kathleen M. Heide von der University of South Florida. Sie untersuchte auf Grundlage von Fallberichten die Motive junger Gewaltverbrecher. »Die Unfähigkeit, mit Langeweile als negativer Emotion umzugehen«, ist laut der Kriminologin einer der Faktoren, die zu den von ihr beleuchteten Tötungsdelikten durch jugendliche Straftäter in den USA geführt hatten. Tatsächlich gaben einige von ihnen in Interviews sogar an, die Verbrechen aus Langeweile begangen zu haben.
Mehr Zeit, Leerlauf, Langeweile und Einsamkeit wirkten sich negativ aus: Es wurde mehr gekifft und getrunken
Ein Team um Samantha K. Brooks vom King's College London hat Anfang 2020 in einer Überblicksarbeit analysiert, welche Folgen für die Psyche eine Quarantäne haben kann – etwa vermehrte Gefühle von Wut und Ärger sowie posttraumatische Stresssymptome. Insbesondere eine längere Isolierung, die Angst vor Ansteckung, dürftige Informationen, unzureichende Vorräte, Frustration und Langeweile erzeugten Stress. Die Langeweile schien dabei ein gesonderter psychischer Belastungsfaktor zu sein, der mit dem Gefühl einhergeht, eingesperrt, isoliert und abgeschnitten vom Rest der Welt zu sein.
Um die negativen Auswirkungen einer Quarantäne abzumildern, raten die Forscher zu folgenden Maßnahmen: Betroffenen erklären, warum und wie lange sie sich isolieren sollen; ihnen sinnvolle Aktivitäten für die Zeit zu Hause anbieten; eine Grundversorgung mit Produkten für den täglichen Bedarf und stabile Kommunikationsmöglichkeiten sicherstellen; den Wert der Befolgung für die Gemeinschaft betonen.
Wenn es um die Bewältigung geht, beobachten Wissenschaftler zunehmend schädliche extrinsische Formen. Die erhöhte Corona-Langeweile verlockt viele zum Regelverstoß – nicht nur notorische »Querdenker«. Ein interdisziplinäres Team um den Konstanzer Sportwissenschaftler Wanja Wolff hat 2020 untersucht, welchen Einfluss die empfundene Langeweile und die Selbstkontrolle einer Person darauf haben, ob sie sich an die Abstandsregeln hält. Wer schnell zu Langeweile neigte, der missachtete die Anweisungen eher. Im Gegensatz dazu hielten sich Menschen mit einer hohen Selbstkontrolle vermehrt daran. Auch Wolff und seine Kollegen kommen zu dem Schluss, dass es entscheidend ist, Strategien zu erarbeiten, die den Betroffenen dabei helfen, ihre Langeweile zu reduzieren und ihre Selbstkontrolle zu stärken. Sie lassen jedoch offen, wodurch dieses Ziel erreicht werden kann.
Einen guten Umgang lernen
Was können wir selbst tun, um die Langeweile schätzen zu lernen und eventuell von ihr zu profitieren? Natürlich geht es in der aktuellen Pandemie darum, weiterhin Kontakt mit jenen Menschen zu pflegen, die uns wichtig sind, sei es über das Telefon oder Chatgruppen. Aber es geht auch um einen produktiven Umgang mit der neuen Lage. Dazu gehört es zu lernen, sich der Langeweile auszusetzen. Wenn wir sie als Innehalten wahrnehmen, als Phase der Sammlung, als Ausholbewegung zu neuen Taten, dann kann uns der Zustand sogar dienen. Friedrich Nietzsche schrieb einst von der »Windstille der Seele« – und Andrea Köhler formulierte in ihrem Buch: »In der Latenz der Seelenflaute lauert die gute Idee.«
Langeweile auszuhalten, heißt erst einmal, geduldig zu sein und bereit, sich mit sich selbst und seinen Gefühlen zu konfrontieren. Das ist nicht immer einfach. Langeweile ist eine Zeitspanne des Suchens – und über kurz oder lang stößt man unvermittelt auf etwas. Die Reizempfänglichkeit für unsere Außenwelt wird heruntergefahren, bis wir sie plötzlich mit neuen Augen betrachten. Hermann Hesse (1877–1962) äußerte einmal, wer stundenlang in Ruhe verharren könne, dessen Aufmerksamkeit beschäftige sich bald mit scheinbar geringen Gegenständen: »Gesetze des Mückenflugs, Rhythmik der Sonnenstäubchen, Melodik der Lichtwellen.«
Es geht im Umgang mit der Langeweile allerdings nicht nur darum, etwas wahrzunehmen, was man sonst übersehen hätte, sondern in diesem Zustand Ruhe und Zufriedenheit zu finden, statt ihn als Mangel zu erleben. Meditation kann beispielsweise dabei helfen. Sie ist die Kunst, der Langeweile das Unangenehme zu nehmen, sich in der Leere so einzurichten, dass man sie als etwas Leichtes und Befreiendes erlebt und damit von ihr profitiert.
Vielleicht lässt sich die Langeweile besser überstehen, wenn wir nicht vor ihr weg-, sondern ihr entgegenlaufen. Es kann helfen, sich dabei klarzumachen, dass der Zustand in der Regel vorübergeht. Wenn das gelingt, fällt es uns leichter, uns mit ihm anzufreunden – ein bisschen wenigstens.
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