Langlebigkeit: »Die Daten sind durch Betrug, Irrtum und Wunschdenken vernebelt«
Von den Schwimmgewohnheiten toter Forellen bis hin zur Erkenntnis, dass einige Säugetiere durch ihr Hinterteil atmen können – bei der 34. jährlichen Verleihung des Ig-Nobelpreises am Massachusetts Institute of Technology wurden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geehrt, die hinter diesen und weiteren skurrilen Entdeckungen stehen. Die Ig-Nobelpreise (nicht zu verwechseln mit den eigentlichen Nobelpreisen!) würdigen Entdeckungen, die »Menschen erst zum Lachen und dann zum Nachdenken bringen«.
»The Conversation« sprach mit einem der Preisträger von 2024, Saul Justin Newman, der am Centre for Longitudinal Studies des University College London arbeitet. Seine Forschung deutet darauf hin, dass die meisten Behauptungen über Höchstbetagte falsch sind.
Wie haben Sie von Ihrer Auszeichnung erfahren?
Nachdem ich mich durch den Verkehr und den Regen in die Arbeit geschleppt hatte, nahm ich einen Anruf von einem Kerl aus Cambridge an. Er erzählte mir von dem Preis. Das Erste, woran ich dachte, war die Dame, die Rotz von Walen gesammelt hatte, und die Geschichte mit dem schwebenden Frosch (Anm. d. Red.: frühere Forschungen, die mit einem Ig-Nobelpreis prämiert wurden). Ich sagte: »Natürlich will ich unbedingt zu diesem Klub gehören!«
Wie war die Preisverleihung?
Die Zeremonie war toll. Sie fand in einem großen, schicken Saal statt. Man kann es sich so vorstellen, als würde man die ernsthafteste Zeremonie nehmen, die man sich vorstellen kann, und sich über jeden Aspekt davon lustig machen.
Aber Ihre Arbeit ist eigentlich unglaublich ernst.
Ich begann, mich für dieses Thema zu interessieren, als ich in den 2010er Jahren einige »Nature«- und »Science«-Artikel über extremes Alter auseinandernahm. Ganz generell sind Behauptungen zur maximalen Lebensdauer von Menschen nicht stichhaltig. Ich habe 80 Prozent der Menschen, die weltweit vermeintlich über 110 Jahre alt sind, ausfindig gemacht (die anderen 20 Prozent stammen aus Ländern, die man nicht sinnvoll analysieren kann). Fast keiner von ihnen hat eine Geburtsurkunde. In den USA gibt es über 500 dieser Menschen; sieben können ihre Geburtsurkunde vorweisen. Dazu kommt, dass nur etwa zehn Prozent jener Menschen, die höchstbetagt verstorben waren, eine Sterbeurkunde hatten.
Der Inbegriff dafür sind die so genannten »blauen Zonen«. Das sind Regionen, in denen die Menschen angeblich bemerkenswert oft mehr als 100 Jahre alt werden. Seit bald 20 Jahren vermarktet man das Phänomen in der Öffentlichkeit. Blaue Zonen sind Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Arbeiten, einer beliebten Netflix-Dokumentation, unzähliger Kochbücher über Dinge wie die Mittelmeerdiät und so weiter.
»Das Geheimnis, 110 Jahre alt zu werden, bestand darin, seinen Tod nicht zu melden«
Okinawa in Japan ist eine dieser Zonen. 2010 stellte die japanische Regierung in einer Untersuchung fest, dass 82 Prozent der über 100-Jährigen in Japan tot waren. Das Geheimnis, 110 Jahre alt zu werden, bestand darin, seinen Tod nicht zu melden.
Japan führt seit 1975 eine der größten Ernährungserhebungen der Welt durch. Damals bis heute hat Okinawa den schlechtesten Gesundheitszustand im Land. Menschen in der Region haben am wenigsten Gemüse gegessen, und der durchschnittliche Alkoholkonsum ist sehr hoch.
Wie sieht es an anderen Orten aus?
Das Gleiche gilt im Prinzip für alle anderen blauen Zonen. Eurostat erfasst die Lebenserwartung auf Sardinien, der italienischen blauen Zone, und auf Ikaria in Griechenland. Als die Behörde 1990 mit den Aufzeichnungen begann, befand sich Sardinien bei der Lebenserwartung von 128 Regionen in Europa am 51. Platz und Ikaria lag auf dem 109. Platz. Es ist erstaunlich, welche kognitive Dissonanz hier vorherrscht. Bei den Griechen waren nach meinen Schätzungen mindestens 72 Prozent der 100-Jährigen tot, vermisst oder im Wesentlichen Fälle von Rentenbetrug.
Wie erklären sich Ihrer Meinung nach die meisten der fehlerhaften Daten?
Das variiert. In Okinawa sagt ein Indikator sehr gut vorher, wo man die 100-Jährigen findet – nämlich dort, wo die Archive während des Zweiten Weltkriegs von den Amerikanern bombardiert wurden. Zwei Faktoren spielen hier eine Rolle. Wenn die Person stirbt, ist sie womöglich in den Büchern eines anderen nationalen Registers weiterhin als unverstorbene Person vorhanden. Oder während sie noch am Leben ist, gehen die Daten an eine Besatzungsregierung, die eine andere Sprache spricht und womöglich nach einem anderen Kalender arbeitet. Und in dem Prozess wird ihr Alter verfälscht.
Nach Angaben des griechischen Ministers, der die Renten verteilt, sind mehr als 9000 der über 100 Jahre alte Menschen tot und beziehen zugleich noch eine Rente. In Italien wurden 1997 etwa 30 000 »lebende« Rentenempfänger als tot eingestuft.
Am häufigsten werden Menschen vermeintlich in jenen Regionen 100 bis 110 Jahre alt, in denen der Druck am größten ist, Rentenbetrug zu begehen. Dort findet man auch die schlechtesten Datengrundlagen. Der beste Ort, um in England 105 Jahre alt zu werden, ist demnach Tower Hamlets. Hier gibt es mehr registrierte 105-Jährige als in allen anderen reichen Orten Englands zusammen. Dicht darauf folgen die Innenstädte von Manchester, Liverpool und Hull. Zugleich haben diese Gebiete die geringste Anzahl von 90-Jährigen und werden vom Vereinigten Königreich zu den widrigsten Orten für alte Menschen gezählt.
Der älteste Mann der Welt, John Tinniswood, der angeblich 112 Jahre alt ist, stammt aus einer sehr rauen Gegend von Liverpool. Die einfachste Erklärung ist, dass jemand irgendwann sein Alter falsch aufgeschrieben hat.
Die meisten Menschen verlieren ihr Alter aber nicht aus den Augen …
Da wären Sie erstaunt! Wenn man sich die Daten der britischen Biobank ansieht, wissen selbst Menschen in der Lebensmitte regelmäßig nicht mehr, wie alt sie sind oder wie alt sie waren, als sie ihre Kinder bekamen. Es gibt ähnliche Statistiken aus den USA.
Was bedeutet das alles für die menschliche Langlebigkeit?
Die Daten dazu sind durch Betrug, Irrtum und Wunschdenken so vernebelt, dass wir es einfach nicht wissen. Ein Weg aus dem Dilemma wäre, Fachleute einzubeziehen, um ein Maß für das menschliche Alter zu entwickeln, das nicht von Dokumenten abhängt. Auf dieser Grundlage können wir dann Metriken entwickeln, die uns helfen, das wahre Alter zu bestimmen.
Statistiken über die Langlebigkeit werden für Prognosen über die künftige Lebenserwartung verwendet. Anhand dieser Daten wird also etwa der Rentensatz für alle festgelegt. Es geht um Billionen von Dollar an Rentengeldern. Wenn die Daten Schrott sind, dann sind es auch die Hochrechnungen. Das bedeutet wiederum, dass wir die falschen Geldbeträge für Krankenhäuser bereitstellen, um alte Menschen in der Zukunft zu versorgen. Auch Versicherungsprämien basieren auf diesen Daten.
Was beeinflusst Ihrer Meinung nach tatsächlich die menschliche Lebenserwartung?
Langlebigkeit ist sehr wahrscheinlich mit Wohlstand verknüpft. Reiche Menschen treiben viel Sport, haben wenig Stress und essen gut. Ich habe gerade einen Preprint veröffentlicht, der UN-Daten der letzten 72 Jahre zur Sterblichkeit analysiert. Die Länder, in denen Menschen am ehesten 100 Jahren alt werden, sind demnach Thailand, Malawi, die Westsahara (die keine Regierung hat) und Puerto Rico – wo Geburtsurkunden 2010 komplett abgeschafft wurden, weil es dort so viele Rentenbetrüger gab. Diese Daten stinken einfach zum Himmel.
»Wenn sie ihre Fehler zu meinen Lebzeiten nicht eingestehen, werde ich wohl jemanden bitten, so zu tun, als ob ich noch am Leben wäre, bis sich das ändert«
Glauben Sie, dass der Ig-Nobelpreis dazu führt, dass Ihre Wissenschaft ernster genommen wird?
Ich hoffe es. Doch selbst wenn nicht, wird zumindest eine breite Öffentlichkeit darüber schmunzeln und nachdenken, auch wenn die wissenschaftliche Gemeinschaft immer noch etwas trotzig und defensiv ist. Wenn sie ihre Fehler zu meinen Lebzeiten nicht eingesteht, werde ich wohl jemanden bitten, so zu tun, als ob ich noch am Leben wäre, bis sich das ändert.
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