News: Langsamer Wandel im Osten
"Wir – Psychologen, Pädagogen, Soziologen und Politikwissenschaftler – haben über mehrjährige Zeiträume hinweg sehr differenzierte Einzelstudien betrieben", erläutert Silbereisen das DFG-Programm, "insgesamt sind aber vier grundlegende Tendenzen erkennbar." Erstens nehmen junge Menschen in Ostdeutschland die sozialen Transformationsprozesse besonders dann offen und konstruktiv an, wenn sie davon auch in ihrer Lebenswelt erreicht wurden. Dies sei etwa in Schule und Beruf der Fall. Berufswünsche zeigten sowohl die Aufgeschlossenheit gegenüber den neuen Verhältnissen im Wirtschaftsleben, aber auch das Streben nach Sicherheit, etwa im öffentlichen Dienst.
Zweitens sind nicht alle Ostdeutschen gleichermaßen von sozialem und institutionellem Wandel betroffen, und sie gehen auch sehr unterschiedlich damit um. Alter, Bildung und Geschlecht haben sich als Differenzierungskriterien herauskristallisiert. Der Wandel grundsätzlicher Wertvorstellungen sei zwar in gang gekommen, so Silbereisen, mache sich aber vor allem erst in der jüngeren Generation bemerkbar: "Wer jetzt noch in der Schule ist oder gerade die Ausbildung abschließt, wird in der Regel neue Leitvorstellungen wie Selbstverantwortlichkeit oder die berufliche Wettbewerbssituation viel besser annehmen und erfolgreicher für den individuellen Lebensweg umsetzen."
Drittens besteht in den neuen Bundesländern immer noch eine stärkere Tendenz, das Gemeinwesen für das persönliche Schicksal verantwortlich zu machen. Rund zwei Drittel sehen den Staat in der Verantwortung, wenn es um die Bewältigung von Problemen wie Arbeitslosgkeit geht, nur ein Drittel denkt dabei an die mögliche eigene Rolle. In Westdeutschland hingegen ist das Verhältnis umgekehrt.
"Das ist ein zweischneidiges Schwert", erläutert der Psychologe Silbereisen. "Einerseits erwächst daraus natürlich ein psychischer Schutzmechanismus, der die sozialen Konsequenzen hoher Arbeitslosigkeit – wie die Zerrüttung familiärer Verhältnisse, Alkoholmißbrauch oder Kriminalität – abfedert." Die Folgen von Arbeitslosigkeit der Eltern wirke sich damit auch weniger auf die psychische Gesundheit und Entwicklung ihrer Kinder aus. Andererseits haben es natürlich gerade diejenigen, die sich selbst als Opfer empfinden, besonders schwer, aus eigenem Antrieb initiativ zu werden und wieder auf dem Arbeitsmarkt Tritt zu fassen.
Viertens findet die Adaption der gesellschaftlichen Transformationen teilweise ungleichzeitig statt. Während zum Beispiel im Arbeitsleben schon zögerlich Wege in klein- und mittelständisches Unternehmertum beschritten werden, nimmt der familiäre Bereich noch eher die Funktion eines traditionell orientierten Refugiums ein. Selbst bei Scheidungen findet man ungeachtet geänderter rechtlicher Verhältnisse und stärkerer wirtschaftlicher Belastung manche psychosozialen Folgen nicht, die aus dem Westen bekannt sind, wie der frühere Auszug aus dem Elternhaus bei Mädchen aus Scheidungsfamilien.
"Unsere Untersuchungen haben ein sehr differenziertes Bild ergeben von der ostdeutschen Umbruchsituation und wie sie verkraften wird", resümiert Silbereisen. "Wer allerdings aus Änderungen in öffentlich beeinflußten Bereichen wie Schule oder Beruf auf unmittelbare Änderungen der psychosozialen Befindlichkeit aller schließt, handelt falsch und fahrlässig." Silbereisen fordert, die vergleichende Transformationsforschung in Deutschland weiterzuführen und auch mit anderen postsozialistischen Ländern zu vergleichen. "Sonst werden wir nicht erfahren, ob der politische Sonderweg Deutschlands sich auch hinsichtlich seiner psychosozialen Folgen für die junge Generation von anderen Ländern unterscheidet."
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