Langwieriger Rückbau: Wie man Atomkraftwerke abreißt
»Ganz vorsichtig«, sagt Jörg Meyer, reiße man ein Atomkraftwerk ab. Dann spricht der Nuklearexperte von brachialer Gewalt, vom Hämmern, Sägen, Meißeln, Aufstemmen, Strahlen, Schrubben und Ätzen. Denn allein ein Kernkraftwerk abzuschalten, reicht nicht. Man muss es zusammen mit seinem Inventar abbauen. Und das unter größtmöglichem Arbeitsschutz. An 30 Kernkraftwerken soll Anfang 2023 dieser Spagat zwischen Vorsicht und Gewaltakt gelingen.
Einige Betreiber haben mit dem Rückbau schon begonnen. Grundsätzlich klingt der Plan einfach. Als Erstes müssen die hochradioaktiven Brennelemente so weit abklingen, dass sie in Castoren verpackt in Zwischenlager transportiert werden können. Das dauert bis zu fünf Jahre. Dann wird das gesamte Kernkraftwerk abgebaut und abgerissen. Vorher allerdings messen die Betreiber die Radioaktivität sämtlicher Teile aus dem direkten Betrieb – dem Kontrollbereich. Alles aus diesem Bereich wird dafür in kleine handliche Stücke zerteilt – auch der Reaktordruckbehälter und das Gebäude selbst.
Vom Bürostuhl bis zu Elektromotoren, Kontrollständen, Kabeln, Generatoren, Regalen, Pumpen, alles muss in etwa 120 mal 80 Zentimeter große Boxen passen. Denn schlussendlich muss das gesamte Kernkraftwerk durch eine kleine Freimessanlage geschleust werden. Sie sieht aus wie ein Gepäckscanner auf dem Flughafen. Nur dass hier nicht auf Waffen oder Flüssigkeiten gescannt, sondern die restliche Radioaktivität gemessen wird. Oberflächlich anhaftende Kontamination wird zuvor aufwändig entfernt.
Das Kraftwerk wird zerkleinert
Hier wird dann die Entscheidung getroffen, wo der Abfall landet. Je nach verbleibender Strahlendosis sortiert man die Teile: fürs Endlager, für die Deponie, in den Bauschutt oder fürs Recycling. Die Freigabe erteilen die Behörden. Was wo landet, folgt den Vorgaben des Zehn-Mikrosievert-Konzepts: Als nicht radioaktiv werden Materialien definiert, wenn die zusätzliche Dosis für Einzelpersonen in Deutschland unter zehn Mikrosievert bleibt.
Wie Kontamination entsteht
Eine Form der radioaktiven Kontamination entsteht durch den direkten Kontakt des Kühlwassers mit den Radionukliden im Reaktorkern. Durch Haarrisse treten meist Spaltprodukte wie Cäsium oder Strontium aus. Betroffen sind davon Pumpen oder Rohrleitungen, die Kontakt mit dem Wasser des Primärkreislaufs haben. Radionuklide, die sich durch die Luft oder durch ausfließendes Wasser ausbreiten, kontaminieren die Oberflächen des Gebäudes und der Anlagen. Der zweite Mechanismus ist die Aktivierung von Material selbst durch radioaktive Strahlung. Neutronen aus der Kernspaltung dringen durch den Druckbehälter hindurch und erzeugen je nach Material neue radioaktive Isotope im Beton oder in anderen Teilen.
Der Aufwand sei immens, denn ein Kernkraftwerk sei keine »Marmeladenfabrik«, sagt Jörg Meyer, verantwortlich für den Abriss des KKW Greifswald. Hier, ebenso wie in den anderen Anlagen, befinden sich radioaktive Flüssigkeiten in Rohrleitungen, sind gegen Betonwände gespritzt oder in Ritzen versickert. Auch radioaktiver Stahl erschwert die Arbeiten. Es ist ein Gewaltakt, der je nach Reaktorblock mehr als eine Milliarde Euro, aber auch das Doppelte, kosten kann und oft Jahrzehnte dauert – meist länger als geplant. Und eigentlich gibt es keinen Abrissplan. Nur einen Leitfaden, denn jeder Kraftwerkstyp ist an anderen Stellen und mit unterschiedlichen Stoffen kontaminiert.
Ist das KKW also einmal abgeschaltet, sind die Brennelemente fortgeschafft und ist die Stilllegung genehmigt, dann verwandelt sich ein Kernkraftwerk in seine eigene nukleare Abfallfabrik. Neue Dekontaminationsanlagen für die Mitarbeiter entstehen, Straßen werden gebaut, Wände für Durchgänge aufgestemmt oder neu errichtet, Lager aufgestellt, Aufzüge geplant und sichere Transportwege auf dem Gelände geschaffen. Denn alle Teile des Kraftwerkes durchlaufen dann das neu geschaffene Abfallbehandlungszentrum. Hier werden an mechanischen und chemischen Arbeitsstationen Metallteile gestrahlt, kleingesägt, thermisch oder chemisch behandelt, um die Kontaminationen an den Oberflächen loszuwerden. Dafür ist einiges an Platz erforderlich, der beim Bau des Atomkraftwerks nicht vorgesehen war.
Jeder Abriss ist ein Großversuch
Im KKW Greifswald in Lubmin ist der ausreichend vorhanden. Hier findet das weltweit größte Abrissvorhaben statt. Es sind gleich sechs Reaktorblöcke, die an der Ostseeküste wenige Kilometer vor der Urlaubsinsel Usedom stehen. Und es sind die ersten Atomkraftwerke, die abgerissen werden. »Wir standen als Pioniere da«, berichtet Jörg Meyer, zuständig in der Abteilung Technik für die Stilllegung der Druckwasserreaktoren sowjetischer Bauart. Fünf davon waren in Betrieb. Abgeschaltet wurden sie schon 1990, der Rückbau 1995 genehmigt.
Hier wird seit fast drei Jahrzehnten gestemmt, geschweißt, gestrahlt, geschrubbt, chemisch geätzt, thermisch behandelt, mit Wischlappen, Stemmeisen und Sandstrahlern hantiert, oder es werden reinigende Chemikalien durch Rohrleitungen mit kontaminiertem Inhalt gepumpt. Das sei Knochenarbeit, sagt Meyer, wenn die Arbeiter zwei Stunden unter Atemschutz arbeiteten und sogar ein drittes Paar Handschuhe übergezogen hätten, um sich vor kontaminiertem Staub zu schützen. Und Spülwasser und Strahlmittel müssen dann auch selbst wieder gereinigt werden. Fertig sind sie in Lubmin noch lange nicht. Mal hieß es, 2028 sei der Rückbau fertig, jetzt sei es eher die »zweite Hälfte der 2030er Jahre«, sagt Kurt Radloff, Leiter der Pressestelle.
Die Pioniere in Lubmin haben einen Vorteil. Bevor sie anfingen, »ganz vorsichtig« alles zu zerkleinern, konnten sie üben. Zwei weitere Reaktoren dienten als »Modellmontage«, so Radloff, sie waren nie im Betrieb und sind daher nicht verstrahlt. Hier entwickelten die Fachleute Rückbautechniken. Sie versuchten, die richtige Reihenfolge beim Abbau zu finden, damit Verschmutzungen nicht verschleppt werden oder Stäube und Flüssigkeiten unkontrolliert in die Umwelt gelangen. Erst dann wagten sie sich an die radioaktiv verstrahlten Gebäude.
Doch bis heute gibt es stets aufs Neue Überraschungen. Im Film »Atomkraft forever« aus dem Jahr 2020 erhält Jörg Meyer einen Anruf von seinem Strahlenschutzmeister, der gerade mal wieder ein neues verstecktes Rohr mit kontaminierter Flüssigkeit entdeckt hat. »Der hat leuchtende Augen bekommen«, merkt Meyer trocken an. An manche Teile des Kernkraftwerks wagen sie sich allerdings bis heute nicht. Einige Reaktordruckbehälter sind so stark verstrahlt, dass sie komplett mit ihren Einbauten in Halle 7 lagern – einige davon werden sie erst Anfang der 2060er Jahre angehen können.
Der Rückbau ist auch Forschungsthema
Doch selbst wenn die Betreiber den Reaktordruckbehälter zerlegen können – wie zum Beispiel in Würgassen an der Weser –, ist der Prozess kompliziert und meist Handarbeit. Hier zu arbeiten, ist am aufwändigsten, da die Neutronenstrahlung das Material bis in die Tiefe stark radioaktiv gemacht hat. Der Druckbehälter wird zum Schutz vor der Strahlung in einem Becken komplett mit Wasser geflutet. Um die Einbauten und den Druckbehälter zu zerlegen, steuern die Mitarbeiter vom Beckenrand aus die unterschiedlichsten Sägen und Schneidwerkzeuge.
»Beim Rückbau erfolgen noch viele Arbeiten manuell«Helena Möller, Leiterin des Fachgebiets Rückbauforschung an der GRS
Doch wie zerlegt man am sichersten, wie misst man am besten, wie am wirtschaftlichsten? Einige Betreiber sagen, sie hätten dafür schon Lösungen gefunden. Die Lubminer hatten einen »Übungsreaktor«, und auch in Würgassen wurde vieles neu entwickelt. Forschungsbedarf gibt es aber immer noch, sagt Helena Möller. Als Leiterin des Fachgebiets Rückbauforschung beim Projektträger Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) koordiniert sie die Umsetzung des Forschungsprogramms FORKA (Forschung für den Rückbau kerntechnischer Anlagen). Ihr Auftraggeber ist das BMBF, es fördert seit den 1980er Jahren Forschung zum Rückbau – und seit 2017 eben FORKA mit jährlich rund acht Millionen Euro.
Gelder für Projekte, die neue Techniken für den Rückbau entwickeln, erhalten Betreiber, Universitäten, Unternehmen und Forschungsgesellschaften. Ein Problem ist, dass nur ein kleiner Teil der Arbeiten automatisiert ist. »Beim Rückbau erfolgen noch viele Arbeiten manuell«, erklärt Möller. Außerdem ist vieles bislang nicht Standard. Denn vollständig abgerissen sind in Deutschland bislang nur drei Prototypreaktoren. Ziel von FORKA ist es, die Sicherheit für die Mitarbeiter zu verbessern, die Effizienz und die Wirtschaftlichkeit zu erhöhen und die Menge an radioaktiven Reststoffen zu minimieren.
ROBBE (ROBotergestützte BEarbeitung von Baugruppen) heißt eines der Projekte. Ein Fraunhofer-Institut und RWE haben ein Verfahren entwickelt, um Menschen einen Teil der schweren Dekontaminationsarbeit von Bauteilen zu ersparen. Ein Roboter scannt automatisch die Form eines oberflächlich kontaminierten Stückes in einem geschützten Raum, um dann gezielt mit Ultrahochdruck-Wasserstrahltechnik anhaftende radioaktive Partikel zu entfernen. Ende 2022 soll ROBBE In Biblis eingesetzt werden.
Es dauert Jahrzehnte
Allein an diesem Standort werden 15 000 Tonnen beschichtete Stahlteile anfallen. In einem anderen Projekt namens AZURo wurde eine Unterwasser-Robotertechnik entwickelt, mit der Teile des gefluteten Reaktordruckbehälters fernüberwacht zerlegt werden können. Entgegen ersten Hoffnungen funktioniert der Roboter allerdings nicht automatisch – Versuche in Brunsbüttel zeigten, dass viele Arbeitsschritte noch ferngesteuert erledigt werden müssen.
Nach 30 Jahren sind im KKW Greifswald die Gebäude in den Kontrollbereichen fast komplett ausgeräumt. »Jetzt kommt die Deko dran«, sagt Jörg Meyer – die Dekontamination des Gebäudebetons. Durch feine Öffnungen ist radioaktive Flüssigkeit in den Beton eingedrungen. »Man sollte es nicht für möglich halten, in welche Risse, Fugen und Löcher mit Wasser radioaktive Kontamination meterweit in die Tiefe gedrungen ist«, berichtet er. Und nicht nur oberflächlich, sagt Meyer, »da bauen wir in die Tiefe ab. Sprich: mit dem Stemmhammer.« Denn wenn das Gebäude einmal als Bauschutt enden soll, muss alles an Kontaminationen entfernt worden sein.
Das ehemalige KKW Würgassen hat die »Deko« schon hinter sich. Im Gebäudeinnern sieht es fast so aus wie in einer Art »Lost Place«. Der Leiter der Anlage, Markus Wentzke, und seine Mitarbeiter haben alles an Inventar entfernt. Dann maßen sie an jedem Fleck an der Oberfläche die Radioaktivität. Auf den Betonwänden sind noch die farbigen Buchstaben und Zahlen des Messrasters zu sehen. Die aufgerissenen Betonwände zeigen, wie die Arbeiter Spalten hineinhämmerten, um auch hier in der Tiefe zu messen.
Hunderttausende Tonnen Schrott
Viele große Löcher und Stolperstellen zeugen vom Abbruch von kontaminierten Betonstücken. Wentzke hat dafür die Wände abkratzen lassen und gefräst, Risse frei gelegt, Fugen frei gekratzt, in den Beton bohren lassen. Die Schienen der Gleise wurden entfernt, der metallene Trittschutz der Treppenstufen herausgebrochen, um auch unter dem Metall zu messen. In einem Tordurchgang ist der Beton bis auf die Stahlarmierung abgeschlagen. Markus Wentzke vermutet, dass hier vielleicht kontaminiertes Material gegengespritzt ist. Auch fand er einbetonierte Rohrleitungen mit radioaktivem Inhalt, die er sorgsam hat freibohren lassen.
Den Aufwand zeigen exemplarisch einige Zahlen. Insgesamt wurden in Würgassen 550 Räume dekontaminiert, 34 000 Materialproben untersucht und 196 000 Labormessungen im KKW durchgeführt. Auf dem Gelände lagern 363 000 Tonnen Material, 195 000 Tonnen wurden bereits auf Radioaktivität gemessen. Übrig geblieben sind 5 400 Tonnen schwach- und mittelradioaktiver Abfall, der noch im Trockenlager liegt.
Damit liegen sie in Würgassen etwas über dem Schnitt. Je Leichtwasserreaktor können rund 4000 Tonnen Abfall anfallen. Mit Verpackung sind das rund 5000 Kubikmeter Abfallgebinde – zusätzlich zu den Brennelementen. Das ist so viel, wie in zwei olympische Schwimmbecken passt, und macht meist rund zwei bis drei Prozent des gesamten Abfalls aus. Doch alles ist letztendlich abhängig vom Reaktortyp und den »Überraschungen«. In Rheinsberg zum Beispiel ist die Menge höher, ein Reaktorblock kommt hier auf das Zehnfache mit 40 000 Tonnen radioaktivem Müll.
Auch wenn die neueren Kernkraftwerke weniger Zeit und Kosten brauchen und weniger Müll produzieren sollten, kommt einiges aus den 30 Reaktoren in Deutschland zusammen, die sich in den verschiedenen Stadien der Stilllegung befinden. Auch in Europa sind bald mehrere Anlagen fällig. Die insgesamt 183 KKW (Stand 2019) in Europa sind im Mittel 35 Jahre alt. Erst vier davon wurden vollständig stillgelegt, 104 sind »nur« abgeschaltet. Und nicht nur in der EU sieht Helena Möller einen Zukunftsmarkt für Rückbauunternehmen. Rückbaukompetenz aus Deutschland sei gefragt. »Das ist ein wachsender Markt. Die Anlagen altern ja überall auf der Welt«, und für viele gebe es auch noch gar kein Entsorgungskonzept.
Eine Welt voller alter Reaktoren
Denn auch der weltweite Atomkraftwerkspark beginnt zunehmend zu veralten. So sind Anfang 2022 laut der Internationalen Atomenergie-Organisation IAEA auf der ganzen Welt 439 Kernkraftwerke mit einem Durchschnittsalter von 31 Jahren in Betrieb. Abgeschaltet wurden zwar schon 203, doch komplett stillgelegt sind bislang erst 20 Reaktoren.
Darunter fasst die IAEA aber auch kleinere Versuchs- und Demonstrationsreaktoren. In Russland etwa sind im April 2022 noch acht RBMK-Reaktoren in Betrieb – der gleiche Typ wie der Unglücksreaktor von Tschernobyl, wenn auch mit nachträglichen Sicherheitsverbesserungen. Auch sie sollen einmal abgeschaltet werden. In Großbritannien sind Mitte 2022 insgesamt 34 Anlagen – teilweise auf Grund von Rissen im Graphitkern – früher als geplant vom Netz genommen worden. Dort wird nicht zurückgebaut, sondern erst mal sicher eingeschlossen – unter einem Namen wie von einer Pflegestation: »Care and Maintenance«.
Und dann beginnt das letzte Kapitel – Endlagerung für die radioaktiven Stoffe für eine Million Jahre. Bisher gibt es kein Endlager in Deutschland. Ein Standort für den hochradioaktiven Müll soll 2031 gefunden worden und ab 2050 betriebsbereit sein. 2080 soll die Einlagerung abgeschlossen sein. So lange liegen die hochradioaktiven Brennelemente in Castoren in Zwischenlagern. Wie auch die schwach- bis mittelradioaktiven Metallteile, die Betonbrocken, die Schaltpulte, die Bürostühle, die nicht freigemessen wurden. Wenn alles klappt, sollen sie irgendwann ab 2027 im Endlager Konrad bei Salzgitter eingelagert werden – »unter Berücksichtigung aktuell bewertbarer Ungewissheiten«, so das Umweltministerium.
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