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Gedächtnis: Verkümmert unser Gehirn durch KI-Tools und das Internet?

Das Internet bietet einen enormen Wissensschatz, KI-Tools wie ChatGPT übernehmen für uns Denkaufgaben. Verlernen wir dadurch, selbst zu grübeln und uns zu erinnern?
Eine Frau schaut direkt in die Kamera. Die rechte Gesichtshälfte ist mit digitalen Binärcodes und kleinen Bildern überlagert, die Technologie und Vernetzung symbolisieren. Die Bilder zeigen verschiedene Szenen, darunter Landschaften und technische Geräte. Das Bild vermittelt das Thema der digitalen Transformation und Integration von Mensch und Technologie.
Künstliche Intelligenz begegnet uns überall im Alltag – von Sprachassistenten auf dem Smartphone über personalisierte Empfehlungen beim Onlineshopping bis hin zu Navigations-Apps, die den schnellsten Weg berechnen.

Adrian Ward steuerte sein Auto neun Jahre lang souverän durch Austin im US-Bundesstaat Texas. Doch im November 2024 verfuhr er sich. Sein Handy hatte den Geist aufgegeben, weshalb er nicht mehr auf Apple Maps zurückgreifen konnte. Plötzlich fand Ward nicht einmal mehr den Weg zum Haus eines guten Freundes. Ihm wurde damit schlagartig klar, wie sehr er sich in der Vergangenheit auf Technologie verlassen hatte. »Ich hatte immer die Navigation angeschaltet und folgte ihr einfach«, sagt er.

Wards Erfahrung spiegelt eine weit verbreitete Befürchtung wider: Schadet das Internet unserem Gedächtnis? Dass viele Menschen diese Sorge teilen, haben mehrere Umfragen in den vergangenen Jahren gezeigt. Ein Begriff dafür, Informationen zu vergessen, weil man weiß, dass sie irgendwo gespeichert sind, lautet digitale Amnesie. Vergangenes Jahr gab die Oxford University Press bekannt, dass ihr Wort des Jahres »brain rot«, also Hirnfäule sei. Es beschreibt den geistigen Verfall bei Menschen, die häufig belanglose Onlineinhalte konsumieren.

»Es gibt jede Menge düsterer Vorhersagen über digitale Amnesie, etwa dass wir unser Erinnerungsvermögen verlieren werden, weil wir es nicht mehr benutzen«, sagt der Gedächtnisforscher Daniel Schacter von der Harvard University in Cambridge. Studien zeichnen ein komplexes Bild: Einige deuten darauf hin, dass das Internet und digitale Technologien unsere Leistung bei bestimmten Lern- und Gedächtnisaufgaben beeinträchtigen oder anderweitig verändern. So können sich Menschen, die GPS-Geräte zum Navigieren nutzen, beispielsweise schlechter an Routen erinnern.

Adrian Ward ist Psychologe an der University of Texas. Eine seiner Studien zeigt: Wer häufig Informationen googelt, hat oft ein überhöhtes Selbstvertrauen in das eigene Wissen. Doch es gibt keine Beweise dafür, dass die Technologie generell unser Gedächtnis beeinträchtigt, sagen Fachleute. Behauptungen wie »Google macht uns dumm« sind übertrieben, meint auch Elizabeth Marsh, Gedächtnisforscherin an der Duke University in Durham, North Carolina.

Doch die KI-Revolution wirft viele neue Fragen auf. Große Sprachmodelle (LLMs) wie ChatGPT sind bereits in Suchmaschinen und anderer Software integriert und gehören für die meisten Menschen bereits zum Alltag. Sie könnten Lernen und Gedächtnis viel stärker beeinflussen als die bisherige Internetnutzung. Forscher vermuten, dass Chatbots und andere KI-Tools Menschen kognitiv träge machen und ihnen sogar falsche Erinnerungen einpflanzen können.

Der Google-Effekt

Schon seit Jahrhunderten nutzen Menschen Technologien zur Gedächtnisstütze – von der Druckerpresse bis hin zu Fotos und Videokameras. Die Idee, dass das Internet das menschliche Gedächtnis aushöhlt, gewann unter anderem durch eine Studie der Psychologin Betsy Sparrow an Bedeutung. Sie zeigte 2011 in einem ersten Experiment: Personen, denen schwierige Fragen gestellt wurden, dachten instinktiv an das Internet und an Computer, um sie zu beantworten. In anderen Tests wurden Probanden gebeten, Notizen in einen Computer einzugeben. Sie konnten sich schlechter an diese Aufzeichnungen erinnern, wenn ihnen gesagt worden war, dass das Gerät sie speichern und nicht löschen würde. Zudem konnten sie sich besser an den Speicherort der Notizen als an die Informationen selbst erinnern. Die Studie machte den Begriff »Google-Effekt« populär: Menschen nutzen das Internet als externes Gedächtnis und schwächen dadurch ihr eigenes Erinnerungsvermögen.

Einige Forscherteams zweifelten später an den Ergebnissen des ersten Experiments von Sparrow, da es ihnen nicht gelang, sie zu reproduzieren. Unterschiede, die laut Betsy Sparrow unter anderem auf methodische Abweichungen zurückzuführen sein könnten. Zudem weist sie darauf hin, dass sich die Internetnutzung seit dem ursprünglichen Experiment 2006 stark verändert habe. Doch auch in einem zweiten Versuch ließen sich die ursprünglichen Ergebnisse nicht bestätigen. »Google-Effekte sind plausibel und haben viel Aufmerksamkeit erregt«, sagt Guido Hesselmann, der den zweiten Replikationsversuch unternahm. Der Psychologe von der Psychologischen Hochschule Berlin regt an, dass bei der Erforschung dieser Theorien ein höherer Standard angelegt werden sollte.

Adrian Ward war Doktorand bei einem der Koautoren der ursprünglichen Studie, Daniel Wegner von der Harvard University. Er ist nach wie vor von den Ergebnissen von 2011 überzeugt. Sie stützen das weithin akzeptierte Konzept des »transaktiven Gedächtnisses«, das Wegner in den 1980er Jahren formulierte. Es besagt, dass wir deshalb mit anderen Menschen Informationen teilen, damit wir uns selbst weniger merken müssen – etwa mit dem Ehepartner oder Kollegen. Übernimmt jedoch das Internet diese Partnerrolle, fühlen wir uns womöglich davon entbunden, überhaupt viel wissen zu müssen. »Warum soll ich mir das merken, wenn ich ein Smartphone habe und eine Google-Suche manchmal schneller ist als die Suche im eigenen Kopf?«, sagt Ward. Es ist eine Form der kognitiven Entlastung.

Menschen verwenden alles Mögliche – von Listen über Kalender bis hin zum Telefon – um die Anforderungen an ihr Gehirn zu verringern. Einige der aussagekräftigsten Daten, die das Prinzip der kognitiven Entlastung stützen, stammten aus einer Studie von 2010, so Carey Morewedge von der Boston University. Die Teilnehmer fuhren in einem Fahrsimulator eine Strecke entweder mit oder ohne GPS-Unterstützung und sollten dieselbe Route später aus dem Gedächtnis fahren. Die GPS-Nutzer konnten genauso schlecht navigieren wie diejenigen, die die Strecke überhaupt nicht gefahren waren. Eine weitere Untersuchung legt nahe, dass sich das räumliche Gedächtnis bei intensivem GPS-Gebrauch eher verschlechtert als bei geringer Nutzung. Zudem konnten Studien zeigen, dass in manchen Situationen das Fotografieren die Erinnerung an die aufgenommenen Objekte schmälert.

Das kognitive Auslagern ist nach Ansicht von Fachleuten durchaus nützlich: Es setzt die begrenzten Kapazitäten des Gehirns für andere Aufgaben frei. Eine Studie von Forschern der University of California in Santa Cruz hat diesen Effekt nachgewiesen. Sie baten Studenten, ein Dokument mit Wörtern zu studieren. Einige von ihnen sollten es abspeichern. Diejenigen, die die erste Datei speichern durften, konnten sich die Wörter einer zweiten Datei besser merken.

»Wir besitzen immer weniger internes Wissen und speichern immer mehr extern ab – und wir greifen darauf zu und haben das Gefühl, dass es unser eigenes ist«Adrian Ward, Psychologe

Andere Studien belegen, dass sich Menschen auf das Internet als Gedächtnisersatz verlassen – so sehr, dass sie es für ihr eigenes Wissen halten. So bat Adrian Ward Menschen, eine Reihe von Quizfragen mit Hilfe von Google oder allein zu beantworten. Die Google-Nutzer schätzten später ihr Gedächtnis als verlässlicher ein als diejenigen, die die Suchmaschine nicht benutzten. Die Onlinesuche hatte ihnen nicht ihre Unwissenheit offenbart. Im Gegenteil: Sie ließ sie glauben, dass das Onlinewissen schon immer ihr eigenes gewesen war.

»Ich glaube, wir besitzen immer weniger internes Wissen und speichern immer mehr extern ab – und wir greifen darauf zu und haben das Gefühl, dass es unser eigenes ist«, sagt Ward. Marsh meint, dass solches durch Suchmaschinen aufgebaute, falsche Selbstvertrauen »eine Erklärung dafür sein könnte, warum es uns so überrascht, wenn wir uns an etwas nicht erinnern können«. Laut ihren Experimenten hängt das Phänomen mit der Art zusammen, wie Suchergebnisse präsentiert werden: als eine Liste von Weblinks mit kurzen anreißenden Texten. Schaut man sie sich an und wählt eine Website davon aus, entsteht ein Gefühl der Vertrautheit mit dem Seiteninhalt, noch bevor man ihn liest. Diesen Effekt bezeichnen Psychologen als Priming. Er könnte dazu führen, dass Menschen ihr eigenes Wissen überschätzen. Noch ist unklar, ob sich die Fehleinschätzung verschlimmern könnte, wenn Suchmaschinen vermehrt KI-generierte Zusammenfassungen an den Anfang der Suchergebnislisten stellen, wie es jetzt schon teilweise geschieht.

Informationsflut und Überlastung

Daniel Schacter hat 2022 mehrere Studien zum Thema Technologienutzung und Gedächtnis ausgewertet. Sie belegen ihm zufolge überzeugend, dass das Internet und Technologie im Allgemeinen die Gedächtnisleistung bei bestimmten Aufgaben beeinträchtigen können, etwa wenn wir uns an Routen oder einen fotografierten Gegenstand erinnern wollen. Bisher gebe es aber nur sehr wenige Beweise dafür, dass diese Technologien unsere Gedächtnisleistung generell verschlechtern. »Die vorliegenden Daten stützen nicht die weit reichenden Behauptungen, dass das Internet oder Computer das Gedächtnis ›töten‹ oder ›ruinieren‹«, schreibt er. Wenn ihn jemand auf einer Party fragen würde, warum er sich an vieles nicht mehr erinnern kann, antwortet er, dass er eben älter wird. »Es gibt einen alterungsbedingten Effekt auf das Gedächtnis, den Leute mit den Auswirkungen von Technologien verwechseln könnten«, sagt Schacter. »Es könnte aber sein, dass sie im Vergleich zu Menschen im gleichen Alter trotzdem gut abschneiden.«

Menschen werden heutzutage mit großen Mengen an Informationen bombardiert. Das könne ihnen ebenfalls das Gefühl geben, dass sich ihr Gedächtnis verschlechtere, ergänzt Marsh. »Ich denke auch, dass wir uns mehr merken wollen als früher«, sagt sie. »Wenn man versucht, mehr Informationen zu behalten, wird man wahrscheinlich mehr von diesen ›Ups-Momenten‹ erleben – bei denen einem etwas gerade auf der Zunge liegt.«

Während einige Forscher darüber diskutieren, wie stark das Internet unser Gedächtnis und das Lernen beeinflusst, vermuten andere, dass der Aufstieg von KI-Tools weit größere Auswirkungen haben könnte. Doch Studien, die das untersuchen, stehen noch am Anfang, so Tali Sharot, Neurowissenschaftlerin am University College London. »Wir wissen fast nichts«, sagt sie.

Einig sind sich Fachleute darin, dass sich generative KI-Tools wie ChatGPT womöglich ganz anders auswirken könnten als bisherige Gedächtnisstützen. »Früher habe ich eine Telefonnummer in mein Adressbuch geschrieben, und wenn ich sie dann nachgeschlagen habe, habe ich meine Handschrift erkannt. Ich wusste daher, dass die Information authentisch war«, sagt Jason Burton, der am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin untersucht, wie Menschen Entscheidungen treffen. Aber die großen Sprachmodelle – die LLMs – funktionierten anders, wie er betont: Stellt man eine Frage, generieren sie einen Text und können dabei Fehler »halluzinieren«. Das macht sie zu einer potenziell unzuverlässigen externen Gedächtnisquelle und erhöht das Risiko, dass Menschen falsche Informationen speichern.

»Manche Technologien ermöglichen es, uns selbst und unser autobiografisches Gedächtnis auf völlig neue Weise zu sehen«Andrew Hoskins, Gedächtnis- und KI-Forscher

Etwas aufzuschreiben, hilft Menschen dabei, tiefgründig zu denken und neue Einsichten zu gewinnen. Geben Schüler oder Studenten solche Aufgaben aber an eine KI ab, laufen sie Gefahr, solche Fähigkeiten nicht zu erlernen. »Es gibt eine große Sorge in der akademischen Welt, dass Schüler KI nutzen, um Arbeiten zu schreiben und letztlich nichts dabei lernen – weil es die ultimative kognitive Entlastung ist«, sagt Marsh.

KI-Algorithmen würden bereits die Art und Weise verändern, wie wir und zukünftige Generationen uns an die Vergangenheit erinnern, erklärt Andrew Hoskins, Gedächtnis- und KI-Forscher von der University of Edinburgh. Google-Fotos etwa nutzt KI, um persönliche Bilder in Ereignisse oder ›Erinnerungen‹ zu ordnen. Diese Kategorisierung könnte jedoch beeinflussen, wie sich Menschen an ihr eigenes Leben erinnern. »Manche Technologien ermöglichen es, uns selbst und unser autobiografisches Gedächtnis auf völlig neue Weise zu sehen«, sagt er. »Es geht darum, eine Vergangenheit zu erschaffen, die wir nie erlebt haben.«

Ein extremes Beispiel sind KI-generierte, digitale Avatare von Verstorbenen, die aus Fotos, Videos und Audioaufnahmen erstellt werden. Familien können so nach dem Tod eines geliebten Menschen Gespräche mit der jeweiligen Person führen. »Es geht darum, eine Vergangenheit zu erschaffen, die wir nie erlebt haben«, sagt Andrew Hoskins. »Es klingt außergewöhnlich, aber einige Leute machen das bereits regelmäßig.« Es gebe sogar Firmen, die solche Deadbots für Familien erstellen, noch bevor ein Verwandter stirbt.

»Es geht darum, eine Vergangenheit zu erschaffen, die wir nie erlebt haben«Andrew Hoskins, Gedächtnis- und KI-Forscher

Dass generative KI das Potenzial hat, Lernen und Gedächtnis zu beeinflussen, zeigt laut Forschern, welch enormen Einfluss einige wenige Firmen wie etwa Google oder Open AI, die hinter derartigen Technologien stehen, haben könnten. »Es ist sehr einfach, ChatGPT so zu programmieren, dass es beeinflussen kann, wie Menschen denken und welche Überzeugungen sie haben«, erläutert Sharot, »und das ist ein bisschen beängstigend.«

Klar ist, dass Forscher erst damit anfangen, diese Themen rund um KI zu studieren. Und: »Es ist schwierig, das zu untersuchen«, sagt Sharot, »da sich KI so rasant verändert.«

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  • Quellen

Schacter, D. L. et al: Media, technology, and the sins of memory. Memory, Mind & Media, 2022

Sparrow, B. et al.: Google effects on memory: Cognitive consequences of having information at our fingertips. Science 333, 2011

Ward, A. F. et al.: People mistake the internet’s knowledge for their own. PNAS 118, 2021

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