Pilotprojekt: Lastwagen an der Leine
Auf der A 1 nördlich von Reinfeld in Schleswig-Holstein und auf der A 5 südlich des Frankfurter Flughafens bietet sich Autofahrern demnächst ein ungewöhnliches Bild: Vom Dach der Zugmaschine eines Sattelzugs auf der rechten Spur hebt sich ein Metallgestell und drückt in voller Fahrt Aluminiumschienen gegen zwei Oberleitungen gut fünf Meter über der Fahrbahn. Wer das Gefährt gerade mit offenen Fenstern überholt, wird vielleicht sogar hören, was dann passiert. Der Dieselmotor geht aus, und der Lastwagen klingt nun ein wenig wie eine Straßenbahn: ein Surren, das beim Beschleunigen wie eine ansteigende Melodie immer höher wird. Es ist das typische Geräusch eines großen Elektroaggregats.
Anfang Februar 2017 hat die Bundesregierung den Startschuss für ein Projekt gegeben, das den Güterverkehr auf der Straße elektrifizieren soll: Umweltstaatssekretär Jochen Flasbarth übergab in einem Logistikzentrum bei Reinfeld den Förderbescheid für die sechs Kilometer lange Oberleitung auf der A 1. Ab Ende 2018 sollen Lastwagen hier die elektrische Energie für die Fahrt zum Lübecker Hafen saugen können. Die restlichen 19 Kilometer pro Strecke legen sie konventionell mit Dieselantrieb zurück. Umschalten zwischen den beiden Antriebsarten können die Fahrzeuge in voller Fahrt. Das Projekt soll aber auch eine noch ehrgeizigere Technik testen: Lkw mit großen Batterien laden ihre Energiespeicher während der Fahrt so weit auf, dass sie knapp 40 Kilometer vom Ende der Oberleitung zum Hafen und zurück elektrisch fahren können. Insgesamt etwa 35 Millionen Euro investiert das Umweltministerium bis 2021 in die beiden Feldversuche.
Autobahnen mit Oberleitungen zu überspannen, das klingt erst einmal wie das nächste scheiternde Großprojekt – eine Kombination aus Lkw-Maut und Berliner Flughafen. Doch ein solches Netz könnte Stück für Stück entstehen, angefangen mit ausgewählten Pendelstrecken, sagen Planer. Und sogar im europäischen Verbund: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat darüber Ende Januar 2017 mit dem schwedische Premier Stefan Löfven gesprochen und ein Abkommen unterzeichnet (pdf). Die Spedition Bode in Reinfeld, auf deren Verkehr zum Hafen der Feldversuch in Schleswig-Holstein ausgerichtet ist, verlädt bereits Sattelzugauflieger auf spezielle Züge gen Stockholm. Dort, auf der E 16 nördlich der schwedischen Hauptstadt, spannen sich bereits Fahrdrähte über eine Fernstraße; das zwei Kilometer lange Teilstück wurde im Sommer 2016 eröffnet (pdf).
Eine Million Euro pro Kilometer Oberleitung
Die Kosten allerdings sind hoch, ein Kilometer Oberleitung kostet rund eine Million Euro, die beiden Feldversuche von jeweils sechs Kilometern in zwei Fahrtrichtungen also jeweils zwölf Millionen Euro. Vier Speditionen mit zehn Fahrzeugen machen zunächst mit. Damit sich später der Regelbetrieb auch für andere lohnt, bräuchte man Oberleitungen auf wenigstens 1000 der 12 000 Kilometer deutscher Autobahnen, schätzt Flasbarths Ministerium. Das wären Investitionskosten von zwei Milliarden Euro. Genug Lkw-Verkehr hätten etwa 5000 Kilometer der Fernstraßen.
Fachleute versprechen sich viel von dem Versuch. Das Umweltbundesamt hat im vergangen Jahr in einem Gutachten festgestellt: "Die im Betrieb wirtschaftlichste und effizienteste Technik für den Fernverkehr ist der Oberleitungs-Hybrid-Lkw, auch unter Berücksichtigung des hohen Aufwands für die Infrastruktur." Die Autoren der Studie geben den elektrischen Lastwagen damit den Vorzug vor einem System, das erneuerbaren künstlichen Diesel erzeugt. Dazu würden Anlagen unter Verwendung von überschüssigem Strom per Elektrolyse Wasser spalten. Der entstehende Wasserstoff könnte mit Kohlendioxid chemisch in synthetisches Erdgas oder flüssigen Treibstoff verwandelt und an Tankstellen verkauft werden – allerdings unter großen Energieverlusten. Den Strom direkt in Elektromotoren zu verwenden, wäre deutlich effizienter.
Es könnte schon heute der Umwelt nützen, wo sich Wind- oder Sonnenstrom im Netz mit Braunkohlestrom mischt. Fabian Bergk vom Heidelberger Ifeu-Institut, der an der Studie mitgearbeitet hat, ergänzt: "Wir kommen für das Jahr 2050 auf Einsparungen von 51 Peta-Joule im Straßengüterverkehr. Dies entspricht einer Minderung des Endenergieverbrauchs um 12 Prozent." Dafür müssten allerdings 80 Prozent der geeigneten Autobahnen mit Oberleitungen überspannt werden und 80 Prozent der Sattelzüge Stromabnehmer haben.
Das Projekt in Schleswig-Holstein und Hessen fällt nicht vom Himmel. Der Elektrokonzern Siemens hat die Technik einige Jahre lang zusammen mit dem Lkw-Hersteller Scania auf einer Teststrecke bei Groß-Dölln in Brandenburg erprobt. Auf dem ehemaligen russischen Militärflugplatz der Schorfheide fuhren oft mehrere Laster gleichzeitig. Zwei Bronzefahrdrähte hingen an verzinkten Masten 5,15 Meter über der Straße: Im Gegensatz zur Eisenbahn mit ihren Stahlrädern und den leitenden Schienen müssen die Lastwagen mit ihren isolierenden Reifen Plus- und Minuspol in der Oberleitung haben. Die Spannung ist deutlich geringer als bei der Eisenbahn, beträgt aber immerhin 600 Volt. Elektrische Überschläge, also Blitze zwischen Fahrdraht und Stromabnehmer, gebe es angesichts der relativ geringen Spannung auch bei Regen nicht, versichert man bei Siemens. Kohleleisten auf den Aluminiumschienen leiten den Strom ins Fahrzeug. Sie sind als Verschleißteile leichter zu wechseln als ein abgeschliffener Fahrdraht. Der Stromabnehmer wird ständig per Laser überwacht und kann sich so der Oberleitung auch dann anpassen, wenn diese eine Kurve macht oder sich unter einer Schilderbrücke duckt. Der ganze Dachaufbau machte bei den Siemens-Prototypen ständig leichte Bewegungen nach links und rechts, damit die Kohleleiste unter dem schnurgerade gespannten Fahrdraht gleichmäßig abnutzte.
Technik koppelt beim Überholen automatisch ab
Sobald der Fahrer des Lastwagens zum Abbiegen oder Überholen den Blinker setzte, holte die Elektronik den Stromabnehmer ein, verriegelte ihn hinter einem Spoiler und startete den Diesel. Dieses in der Eisenbahnersprache "Abbügeln" genannte Manöver passierte auch, als ein Lkw plötzlich die Spur verließ. Die Elektronik bügelte erst wieder an, als der Laster erneut direkt unter der Oberleitung fuhr. Das alles passierte automatisch noch beim Tempo von 90 Kilometern pro Stunde. Nach Aussagen der Firma soll diese Technik auch bei den Feldversuchen genutzt werden. "Mit diesem System könnten wir den Energieverbrauch der Lastwagen halbieren und den CO2-Ausstoß sogar um 95 Prozent senken, wenn wir Strom aus erneuerbaren Energien benutzen", sagte Martin Birkner von Siemens. Sein Arbeitgeber rechnet vor, dass Spediteure mit einem deutschen 40-Tonner pro 100 000 Kilometer an der Oberleitung Treibstoff für 20 000 Euro sparen können. Bei den in Schweden zugelassenen 60-Tonnern seien es sogar 37 500 Euro auf der gleichen Strecke.
Lastwagen mit Oberleitung, das gab es in Deutschland zuletzt vor fast 70 Jahren. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts nutzen einige Orte "gleislose Bahnen"; in der Sächsischen Schweiz, bei Leipzig, im Rhein- und Sauerland schleppten elektrische Zugmaschinen Anhänger mit Fracht. Die Strecken waren kurz, sie verbanden zum Beispiel eine Mine mit dem Bahnhof, ein Netz gab es nicht. Die meisten wurden bald aufgegeben; am längsten in Betrieb war die Hafenschleppbahn im Hamburger Stadtteil Altona, die vom Hafen zum 30 Meter höher gelegenen Industrieviertel Ottensen führte. Sie wurde 1949 endgültig stillgelegt.
Das Ziel der Siemens-Initiative ist nach Angaben des Konzerns nicht, der Bahn Kunden abzujagen. Das würde auch den wirtschaftlichen Interessen des Konzerns zuwiderlaufen, schließlich verdient er mit Lokomotiven und Leittechnik Geld, ist bei Lastwagen aber ein Neuling. Allerdings sollen sich die Frachtmengen bis 2050 mehr als vervierfachen, erwartet das International Transport Forum. Der Anteil des Straßenverkehrs könnte dabei noch von sechs auf zehn Prozent steigen (85 Prozent der gesamten Menge sind Schiffstransporte). Zugmaschinen würden dreimal so viel CO2 ausstoßen wie heute, selbst wenn Dieselmotoren effizienter werden. Mit den Feldversuchen wollen die Entwickler wenigstens in Ansätzen auch testen, ob die Lastwagen beim Bremsen Energie ins Netz zurückspeisen können. Bei Reinfeld und Frankfurt werden jeweils sechs Kilometer Autobahn in beide Fahrtrichtungen elektrifiziert. Die Teststrecke in der Schorfheide hatte nur eine Richtung. Kann die Energie zwischen Oberleitung und Fahrzeug hin- und herfließen, hätte das besonders im Gebirge Vorteile: "Stellen sie sich Gefällestrecken auf der Autobahn vor", so Martin Birkner. "Auf der einen Seite bremsen alle, und der erzeugte Strom fließt sofort auf die andere Seite, wo die Lastwagen an der Steigung gerade mehr Leistung brauchen." Allein dieser Austausch spare fünf bis zehn Prozent Energie. Allerdings: So richtig hügelig ist es weder an der A 1 noch an der A 5.
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