Arzneimittel: »Lavalampen«-Effekt könnte Krebsmedikamente wirksamer machen
Pharmahersteller gehen seit Langem davon aus, dass sich Arzneimittelmoleküle gleichmäßig verteilen, wenn sie in eine Zelle gelangen. Aber, sagt Rick Young, »das könnte nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein«.
In einer Studie, die Young und seine Kollegen im Magazin »Science« veröffentlicht haben, zeigt das Team um den Biologen vom Whitehead Institute in Cambridge, Massachusetts, dass sich Krebs erregende Wirkstoffe an präzisen Stellen in den Zellen konzentrieren. Der Grund ist ein Phänomen namens Phasenseparation, durch das alle Zellen ihren Inhalt aufteilen.
Die Ergebnisse stellen grundlegende Annahmen über die Wirkung, Dynamik und Verteilung von niedermolekularen Therapeutika in Frage. Sie führen bereits zu neuen Strategien für die Medikamentenentwicklung im Kampf gegen das neue Coronavirus Sars-CoV-2. Außerdem könnten sie mit erklären, warum so viele Therapien, die in einer Laborschale wirken, letztlich am Menschen scheitern.
»Diese Studie bietet die Chance, unser Verständnis des Arzneimittelstoffwechsels und des Drug Targeting auf Zellen neu zu gestalten«, sagt Jonathon Ditlev, ein Zellbiophysiker am Hospital for Sick Children in Toronto, Kanada.
Mit biologischem Material lässt sich auf einfache Weise Ordnung in den Zellen herstellen. Wie Kleckse in einer Lavalampe oder in Öl, das in Wasser geschüttelt wird, können sich Proteine, RNA und andere Zellbestandteile selbst zu flüssigkeitsähnlichen Tröpfchen – Kondensate genannt – organisieren, die helfen, das Innere der Zelle abzuschotten.
Forscher haben bereits früher gezeigt, dass dieser Effekt bei natürlichen Molekülen auftritt. Die aktuelle Studie zeigt nun, dass synthetische Verbindungen auf ähnliche Weise selektiv in Tröpfchen sequestriert werden können. Jenes Phänomen könnten Wissenschaftler nutzen, um bestimmte Medikamente wirksamer an ihren Wirkort zu bringen und gleichzeitig die unbeabsichtigte Toxizität, die schädliche Nebenwirkungen verursacht, zu begrenzen.
»Wenn wir anfangen zu verstehen, wie diese Kondensate zwischen kleinen Molekülen unterscheiden, können wir damit beginnen, Wege zu entwickeln, wie wir die vorhandenen Kondensate nutzen können, um Krankheiten besser behandeln zu können«, sagt Ditlev.
Ein genaktivierendes Protein sorgt für die Tröpfchen
In der Studie verfolgten Young und sein Team die Dynamik von fünf kleinmolekularen Krebsmedikamenten in Kondensaten, in Reagenzglasversuchen und in menschlichen Krebszellen in Kultur. Sie begannen mit Cisplatin, dem Eckpfeiler vieler Chemotherapieschemata. Indem sie Cisplatin mit Proteinen mischten, von denen bekannt ist, dass sie im Zellkern Kondensate bilden, zeigten die Forscher: Es häuft sich selektiv in Tröpfchen an, die von einem genaktivierenden Protein namens MED1 gebildet werden.
Dort, wo MED1 gefunden wurde, sammelten sich also Cisplatinmoleküle an. Die Konzentrationen des Medikaments innerhalb der Kondensate waren 600-mal höher als die außerhalb. MED1 wirkt hauptsächlich auf Krebs fördernde Gene, so dass Cisplatin am Ende auf dieselbe DNA mit ihren toxischen Platinatomen abzielt – wie die Forscher zeigten – und im Wesentlichen die Krebszellen dort trifft, wo es am meisten weh tut.
Die Wirkung scheint ebenso die Arzneimittelresistenz zu beeinflussen. Das Team zeigte, dass sich das Brustkrebsmedikament Tamoxifen auch in MED1-Kondensaten einnistet. Aber Krebszellen, die gegen Tamoxifen resistent sind, produzieren viel höhere Mengen an MED1: Wie das Team herausfand, führt dies dazu, dass sich die Kondensate aufblähen, wodurch das Medikament verdünnt und seine Wirkung abgeschwächt wird.
»Jedes Krebsmedikament, das wir untersucht haben, findet sich in diesen phasengetrennten Kondensaten konzentriert«, sagt Young. »Ich kenne keinen Fall, in dem Sie dies ignorieren könnten.«
Das Team versucht nun herauszufinden, warum Arzneimittelmoleküle in die Kondensate gelangen. »Wenn wir mehr über die molekulare ›Grammatik‹ verstehen, können wir vielleicht kleine Moleküle so modifizieren, dass wir sie an der richtigen Stelle konzentrieren können«, sagt Studienkoautor Isaac Klein, ein Onkologe am Whitehead-Institut.
Schlüsselproteine lassen Coronavirus-Kondensate entstehen
Klein und Koautorin Ann Boija, Molekularbiologin am Whitehead-Institut, haben in den vergangenen zwei Monaten die Lehren aus dieser Arbeit auf den Kampf gegen Sars-CoV-2 angewendet, das Coronavirus, das Covid-19 verursacht.
In unveröffentlichten Experimenten haben sie herausgefunden, dass drei virale Schlüsselproteine, die an der Replikationsmaschinerie vonSars-CoV-2 beteiligt sind, zu Kondensaten verklumpen, welche Arzneimittelverbindungen aufnehmen und konzentrieren können.
»Das ist das Ergebnis, das wir brauchen, um mit dem Screening kleiner Moleküle auf ihre Fähigkeit zu beginnen, sowohl die virale RNA-Replikation zu hemmen als auch sich selektiv in Kondensate zu teilen, wo diese Replikation stattfindet«, sagt Young. Das einzige antivirale Medikament, dessen Wirkung gegen Covid-19 in einer rigorosen Studie nachgewiesen wurde – ein Molekül namens Remedesivir – brachte nur einen bescheidenen Nutzen, und Young vermutet, dass eine schlechte Verteilung der Grund dafür sein könnte.
Die Phasentrennung »wird von nun an Teil der Arzneimittelentwicklung sein«, sagt Mark Murcko, Chief Scientific Officer bei Dewpoint Therapeutics in Boston – einem Unternehmen, das Young 2018 mit Tony Hyman, einem Zellbiologen am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden gegründet hat. Ziel von Dewpoint ist es, Medikamente zu entwickeln, die sich die Kondensatbiologie zu Nutze machen, indem sie krankheitsbedingte Kondensate aufbrechen oder sich in spezifischen Kondensaten in der Zelle anreichern.
Aber nicht alle sind davon überzeugt. Robert Tjian, Biochemiker an der Universität von Kalifornien, Berkeley, ist der Meinung, dass die Wissenschaftler sich beeilt haben, Kondensate mit mehreren biologischen Prozessen in Verbindung zu bringen; dabei könnten andere Mechanismen dafür verantwortlich sein, wie sich sowohl natürliche als auch synthetische Moleküle im Inneren von Zellen anreichern. Und er befürchtet, dass die Aufregung, die durch Arbeiten wie die von Young hervorgerufen wird, die Suche nach Medikamenten auslösen könnte, die in phasengetrennte Tröpfchen eintreten, welche möglicherweise nur im Labor existieren. »Es ist ein bisschen wie ein Kartenhaus«, sagt er.
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