Philip Zimbardo: Bedeutendster Sozialpsychologe unserer Zeit gestorben
Am 14. Oktober 2024 ist Philip Zimbardo in seinem Haus in San Francisco gestorben. Er wurde 91 Jahre alt. Dieses Interview mit ihm erschien ursprünglich 2011 im Magazin »Gehirn&Geist«.
Weich gepolsterte Sofaecken reihen sich im Eingangsbereich des Hotels Europäischer Hof aneinander. Die Heidelberger Nobelherberge bietet das passende Ambiente für ein Treffen mit dem wohl bekanntesten lebenden Psychologen. Philip Zimbardo erscheint zum Interview auf einen Gehstock gestützt, doch sein Händedruck ist fest, der Blick offen und neugierig. Etwas Verschmitztes liegt in seinem Lächeln. »What are we going to talk about?«, fragt er. Worüber reden wir? Über Sie, erwidert der Gesprächspartner. Woraufhin sich Zimbardo entspannt zurücklehnt.
Herr Zimbardo, Ihre mit Abstand berühmteste Arbeit galt der Entstehung von Gewalt aus situativen Umständen. Das Stanford-Gefängnisexperiment musste bereits nach wenigen Tagen abgebrochen werden, weil die per Zufall in Häftlinge und Wärter eingeteilten Probanden aufeinander losgingen. Wie kamen Sie überhaupt auf die Idee zu diesem Versuch?
Während des Vietnamkriegs nahm ich an Antikriegsdemos teil. Was mich da erstaunte, war die Energie der Studenten. Im Unterricht sagte ich dann: Ich dachte immer, ich müsste die ganze Arbeit im Seminar machen, aber Sie haben noch viel mehr Power als ich. Hier sind zehn Fragen, die mich interessieren und auf die ich keine Antworten habe. Die Studenten wählten in Gruppenarbeit je ein Thema aus und sammelten Ideen. Eine der Fragen lautete, was mit einer Person passiert, die zum ersten Mal ins Gefängnis kommt. Die jungen Leute schlugen vor, am Wochenende im Campuswohnheim ein Gefängnis zu simulieren.
Am folgenden Montag kamen sie in den Unterricht und erzählten, wie schlimm das gewesen war. Manche fingen sogar an zu weinen. Ich fragte mich, ob die Situation, die die Studenten kreiert hatten, wirklich eine solche Macht über sie hatte – oder ob es nur an der speziellen Auswahl von Teilnehmern gelegen hatte, die sich für dieses Thema interessierten. Ich sagte zu meinem Assistenten: Das probieren wir selbst aus. Wir versuchten, die Psychologie des Inhaftiertseins so realistisch wie möglich nachzubilden – die Scham und die Hilflosigkeit der Eingesperrten, aber auch die unumschränkte Macht der Wärter.
Was hat Sie persönlich am meisten beeindruckt im Verlauf des Experiments?
Die Dynamik, die das Ganze plötzlich bekam. Schon in der zweiten Nacht fingen die Wärter an, die Insassen alle paar Stunden zu wecken, um sie zu drangsalieren; sie sollten etwa singen oder Liegestütze machen. Es kam zu immer mehr Fällen von Demütigung und Erniedrigung. 36 Stunden nach Beginn des Versuchs hatte der erste Gefangene einen emotionalen Zusammenbruch. Ich dachte anfangs, der simuliert; jeden Tag mussten wir Leute gehen lassen und durch neue Probanden ersetzen.
Wir hätten viel früher sagen können, ja müssen, die Macht der Situation ist bewiesen, wir brechen das Experiment jetzt ab. Aber – und das war für mich das Dramatischste – zu diesem Zeitpunkt war ich selbst zum Hauptwärter mutiert, dem das Schicksal der Leute fast gleichgültig war. Statt mich um die Opfer zu kümmern, beobachtete ich alles nur akribisch. Die Studie drehte sich eigentlich darum, wie ganz normale Studenten zu Gefangenen und Wärtern werden, aber auch ich verwandelte mich. Ich hatte zwar selbst nichts Böses gemacht, aber die Erlaubnis dazu gegeben.
Wer brach das Experiment ab?
Am Ende der ersten Woche hatte ich eine Gruppe von Studenten eingeladen, uns zu interviewen. Darunter war eine Frau, mit der ich gut befreundet war. Sie sah die Wärter, wie sie die Gefangenen in Reihe aufstellten, ihnen Säcke über die Köpfe stülpten, sie schlugen und anschrien. Ich schaute auf und sagte: »Das ist das Zehn-Uhr-Toiletten-Rennen.« Mit Tränen in den Augen erwiderte sie: »Es ist furchtbar, was du den Jungs antust.« Da wurde mir klar: Sie hat Recht, wir sollten die Sache beenden. Aber die gute Nachricht ist, ich habe diese Frau im Jahr darauf geheiratet. (lacht)
Das Gefängnisexperiment hatte prägenden Einfluss auf nachfolgende Forscher. Ihr junger Kollege Jonathan Haidt von der University of Virginia in Charlottesville kritisierte kürzlich, die Sozialpsychologie sei einseitig ausgerichtet, weil sich so viele linksliberale Geister an den Universitäten tummeln. Was halten Sie von dieser These?
Ich habe großen Respekt vor Jonathan Haidt, er ist einer der klügsten Leute, die ich kenne. Ich stimme auch damit überein, dass Psychologen – vielleicht Sozialpsychologen im Besonderen – dazu tendieren, liberale Ansichten zu vertreten. Und natürlich kann diese Haltung Modelle beeinflussen, die in der Psychologie entwickelt werden. Der Fokus auf Autorität in der Persönlichkeit entstand in den 1930er Jahren als Reaktion gegen den Faschismus. Eine der ersten experimentellen Studien – von Kurt Lewin – verglich autokratische, demokratische und Laisser-faire-Anführer. Daraus entstand eine ganze Forschungsrichtung.
Wie sind Sie persönlich dazu gekommen?
Meine Familie stammt aus Sizilien. Viele Sozialpsychologen waren Immigranten und gehörten einer Minderheit an; häufig waren sie auch arm. Möglicherweise sind Menschen eher »Situationisten«, wenn sie einen sozial benachteiligten Hintergrund haben. Wenn du nämlich privilegiert aufwächst und um dich herum nur Erfolg siehst – dann willst du daran glauben, dass er in den Genen liegt. Wenn du aber arm bist, dann sagst du dir: Wenn die Situation anders wäre, würde es mir besser gehen.
Mein Schulfreund an der Monroe High School in der Bronx, der kleine Stanley Milgram, und ich führten später zwei der bekanntesten Studien zur Macht der Umstände durch. Wir saßen 1949 zusammen in einer Klasse. Das war nicht lange nach dem Holocaust – und wir fragten uns: Könnte so etwas auch in Amerika passieren? Ich antwortete damals, sei nicht dumm, Stan, das war Nazideutschland, aber er erwiderte: Würdest du einem völlig Fremden einen Elektroschock verpassen, wenn es dir eine Autorität wie Hitler befehlen würde? Niemals, sagte ich. Und Stanley schüttelte den Kopf: Die Aufpasser im Konzentrationslager haben das auch gesagt, bevor sie da hinkamen!
In Ihrem Buch »Der Luzifer-Effekt« haben Sie dargelegt, warum jeder Mensch unter gewissen Umständen verrohen kann und zu brutaler Gewalt fähig ist – die Situation entscheide stärker über moralisches Handeln als die Persönlichkeit. Muss man aber nicht stets beides in Betracht ziehen?
Der Streit über die Persönlichkeit auf der einen und den sozialen Kontext auf der anderen Seite ist müßig. Es geht immer um die Person in der Situation. Der entscheidende Punkt ist: Wir betrachten nicht die schwarzen Schafe in der Herde, sondern den Hirten, der sie hütet – das System, die Autorität. Beim Militär beispielsweise gibt es häufig Situationen, in denen Menschen manipuliert werden. Psychologisch heißt das, dass wir die dynamische Wechselwirkung zwischen Person, Situation und System verstehen müssen.
Erkenntnisse zu diesem Dreiergespann sind für die Gesellschaft sehr nützlich. Was kann die Forschung hier beitragen?
Leider hat die Psychologie in vielen Ländern nicht den Stellenwert, den sie haben sollte. Politiker glauben, sie wüssten, wie die Dinge funktionieren, und entscheiden oft entgegen psychologischer Evidenz, statt Regeln und Gesetze so zu ändern, dass gutes Verhalten unterstützt und schlechtes minimiert wird. Und weil das so ist, sehen sich die Psychologen auch nicht als Gesellschaftsveränderer – das sollten sie aber!
Liefert die Psychologie wenigstens für das Individuum praxistauglichen Rat?
Nicht nur das: Die meisten Unternehmen bauen inzwischen auf Führungspsychologie, Werbefirmen befragen Fokusgruppen, und es ist heute viel weniger wahrscheinlich, dass Leute ihre Kinder schlagen. Ich glaube auch, die Menschen akzeptieren heute die Wichtigkeit von Psychotherapie viel eher. Aber wir können psychologische Erkenntnisse noch mehr zum Wohl der Menschen einsetzen.
Mit Ihrem neuen Projekt »Heroic Imagination« versuchen Sie genau das: Sie wollen Menschen helfen, mutig zu handeln. Was verbirgt sich dahinter?
Das genaue Gegenteil von dem, was ich bisher getan habe. Bis jetzt war ich »Dr. Evil«, der jene Bedingungen erforschte, unter denen gute Menschen Böses tun. Das führte mich zu der Frage, wie wir solchen Mächten widerstehen können. In jeder Studie gibt es einen Teil von Probanden, die das schaffen, meist liegt er um zehn Prozent. Auch im Milgram-Experiment war das so. Die Frage ist: Was sind das für Leute? Helden sind für mich Menschen, die sich gegen mächtige soziale Kräfte wehren können – doch es gibt praktisch keine Forschung zum Thema Heldentum. Ich glaube, dass jeder ein Held sein kann. Deshalb gründete ich eine Non-Profit-Organisation in San Francisco: Wir haben inzwischen ein Team von rund einem Dutzend Leuten, initiieren Forschungsprojekte und unterstützen Doktoranden auf der ganzen Welt.
Können Sie ein Beispiel geben?
Mein Kollege Piero Bocchiaro von der Universität in Amsterdam und ich haben gerade eine Studie fertig gestellt – eine der ersten überhaupt zum »Verpfeifen« aus moralischen Motiven. Wir führten sie mit Absicht in den Niederlanden durch, an einer sehr liberalen Universität. Piero sagte zu den Studenten: »Wir haben kürzlich zu sensorischer Deprivation geforscht. Aber einige Probanden bekamen Halluzinationen, Kopfschmerzen, manche litten dauerhaft unter den Nachwirkungen. Wir wollen das Experiment hier wiederholen und brauchen Ihre Hilfe, um Studenten zu überzeugen, dass es ein wichtiges Experiment ist. Schreiben Sie der Ethikkommission, dass Sie als Studenten in den Versuch einwilligen. Und wenn Sie Ihren Job gut machen, bezahlen wir Sie dafür.« Wir betrachteten drei Optionen: Wie viele der Teilnehmer unterschrieben anschließend einen Brief an die Ethikkommission, wie viele taten gar nichts, und wie viele zeigten den Studienleiter bei der Hochschulverwaltung an? Letzteres war die »Heldenbedingung«. In einer vorherigen Befragung hatten acht von zehn Personen angegeben, sie würden verpfeifen; in der konkreten Situation war es dann aber nicht einmal jeder Zehnte.
Menschen zu »Helden« machen – ist das nicht ein sehr hoher Anspruch?
Die meisten unserer Projekte wenden sich an junge Menschen. Wir entwickeln Ausbildungsprogramme für Schulen und haben bereits 60 Videos online. Zum Beispiel sieht man da eine Frau, die auf der Straße zusammenbricht, und 35 Leute gehen einfach vorüber. Wir nennen das den Bystander-Effekt: Wenn viele Leuten zugegen sind, ist es leider die Norm, nichts zu tun. Wir regen Schüler an, darüber nachzudenken, wie sie ihr Verhalten durch das gewonnene Wissen verändern können. Wir beschäftigen uns auch mit Zivilcourage in Unternehmen und Initiativen zum freiwilligen sozialen Engagement. Zum Beispiel haben wir die »Tech-Helden« erfunden: Highschool-Kinder gehen in Seniorenheime und bringen dort älteren Menschen bei, wie das Internet funktioniert. Weitere Ideen und Anregungen sind jederzeit willkommen!
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