Lianen: Die Schurken des Regenwaldes
Der Tag von Boris Bernal Vargas beginnt mit einem 40-minütigen Arbeitsweg. Von seinem Haus im Dorf Las Pavas in Panama läuft er über eine Weide zu einem hölzernen Steg am Gatun-See. Von dort aus fahren er und ein Dutzend anderer Arbeiter in einem Motorboot ein paar Kilometer zur Insel Barro Colorado hinüber – einem Refugium im tropischen Regenwald, der an einigen Stellen seit Hunderten von Jahren nicht mehr abgeholzt wurde. Unter dem Blätterdach nehmen die Arbeiter einen kurzen Pfad einen sanften Hang hinauf und waten schließlich durch knöcheltiefes Laub zu einer Reihe von PVC-Rohren, die hier in den Boden getrieben wurden.
Der Wald ist chaotisch und verschlungen, scheinbar unempfänglich für den menschlichen Drang, ihn zu katalogisieren und zu benennen. Doch hinter den Reihen von Markierungen ist jeder Baum, der größer ist als der kleine Finger eines Menschen, mit einer sechs- oder siebenstelligen Nummer versehen. Etwa 350 000 Bäume stehen auf dem 50 Hektar großen Gebiet – das sind etwa dreimal so viele, wie ein Mensch Haare auf dem Kopf hat. Seit 40 Jahren messen Vargas und andere das Wachstum jedes einzelnen Baums für das Smithsonian Tropical Research Institute (STRI) mit Sitz in der Nähe von Panama City. Bäume sind aber nicht die einzigen Lebewesen, denen das Interesse gilt.
Seit 2016 untersucht Bernal Vargas auch eine lange übersehene Pflanzenart: Lianen. Ranken mit dicken, holzigen Stämmen, die sich auf der Suche nach Sonnenlicht meist schraubenförmig an tropischen Bäumen hinaufwinden. Innerhalb der abgesteckten Parzelle wird jede Liane markiert, die eine bestimmte Mindestdicke erreicht. 23 Monate lang verbrachte Bernal Vargas seine Tage damit, jede einzelne Liane zu sichten, den Durchmesser ihres Stamms mit einem Messschieber oder einem Maßband zu messen und die Ergebnisse auf einem Klemmbrett zu notieren. Die Ranken sind so verworren, dass Bernal Vargas oft nur ein paar Dutzend pro Tag vermessen konnte – eine quälende Sisyphusarbeit, unterbrochen nur von schönen wie auch irritierenden Momenten: ein goldener Puma, der lautlos vorbeischleicht; brennende Stiche zentimetergroßer Riesenameisen, die die Lianen als Autobahn nutzen; Urintropfen, die von aufgeregten Brüllaffen versprüht werden, die in den Ästen darüber herumturnen.
Dank ihrer Ausdauer konnten Vargas und seine Mitarbeiter schließlich jede Liane auf dem Gelände vermessen. Es war das zweite Mal – und die Ergebnisse bestätigten einen überraschenden und beunruhigenden Trend. In den letzten zehn Jahren hatte die Zahl der Lianen auf der Insel Barro Colorado um 29 Prozent zugenommen und erreichte die Rekordzahl von 117 100 Exemplaren. Ähnliche Zuwächse stellten die Forscher auch in Dutzenden anderen Untersuchungsgebieten in den tropischen Wäldern Mittel- und Südamerikas fest.
»Als ich Mitte der 1990er Jahre anfing, interessierte sich niemand für Lianen. Man stolperte über sie und schnitt sie mit der Machete ab«Stefan Schnitzer, Ökologe
Lianen wirken wie Fußnoten des Waldes – dürre Schwächlinge, die von den dickstämmigen Bäumen um sie herum dominiert werden. »Als ich Mitte der 1990er Jahre mit meiner Forschung begann, interessierte sich niemand für Lianen. Man stolperte über sie und schnitt sie mit der Machete ab«, sagt der Ökologe Stefan Schnitzer, der Vargas und die anderen Mitarbeiter beschäftigt, um die Lianen zu vermessen.
Betrachtet man das Ganze jedoch von oben, sind es die Lianen, die den Regenwald dominieren. Eine einzige Schlinge kann sich über Dutzende von Bäumen ausbreiten und ihre Blätter wie einen Sonnenschirm über andere Pflanzen aufspannen, die langsamer wachsen. Im Wettlauf um das kostbare Licht überholten Lianen die Bäume buchstäblich, beschreibt es José Medina-Vega, ein ehemaliger Postdoc von Schnitzer, der jetzt am Smithsonian Global Earth Observatory Network in Washington D.C. arbeitet. »Sie haben eine Guerillataktik«, sagt er.
Wissenschaftler betrachten die Tropenwälder als wichtige Verbündete im Kampf gegen den Klimawandel, da sie Milliarden Tonnen anthropogenes CO2 aufnehmen und speichern können. Doch steigende CO2-Werte und Temperaturen führen bereits dazu, dass die Regenwaldbäume immer früher absterben. Und Lianen könnten das Problem noch verschärfen. »Sie haben wirklich einen stark negativen Effekt«, sagt Schnitzer, der am STRI in Panama und an der Marquette University in Milwaukee in den USA forscht. »Lianen hindern die Bäume daran, Kohlenstoff aufzunehmen. Sie verringern das Wachstum der Bäume. Und sie können Bäume verfrüht zum Einstürzen bringen.«
Wissenschaftler vermuten seit Langem, dass menschengemachte Umweltveränderungen die Ausbreitung von Lianen fördern. Womöglich unterstützen steigende CO2-Werte oder atmosphärische Ablagerungen von Stickstoff und Phosphor ihr Wachstum. Der genaue Mechanismus ist jedoch seit der Entdeckung vor 20 Jahren rätselhaft. Es stand sogar die Frage im Raum, ob das verwirrende Ergebnis auf Verzerrungen in den Lianen-Studien basieren könnte. Heutzutage deuten jedoch immer mehr Indizien darauf hin, dass die Ausbreitung der Lianen nicht nur ein Symptom sich verändernder Tropenwälder durch den Klimawandel ist, sondern zunehmend sogar eine Ursache für Letzteren.
Der Wettstreit zwischen Bäumen und Lianen ist kein Kampf zwischen nicht verwandten Pflanzenarten. Seltsamerweise ist er vielmehr aus einer evolutionären Rivalität zwischen unterschiedlichen Baumarten hervorgegangen. Viele Lianen stammen ursprünglich von Bäumen ab. Sie haben die puritanische Arbeit aufgegeben, massive Stämme zu entwickeln, und nutzen stattdessen die Stämme anderer Bäume, um sich in die Höhe zu winden. Die Verwandlung in einen »strukturellen Parasiten« ist sehr verbreitet und hat in einem Viertel aller Pflanzenfamilien stattgefunden. Manchmal wurden dabei Mitglieder der gleichen Familie gegeneinander ausgespielt.
Tatsächlich handelt es sich um eine echte Verwandlung, denn es geht um mehr als nur einen schlankeren Stamm. Da dieser bei einer Liane kein Gewicht tragen muss, kann die Holzstruktur eine andere Funktion optimieren: den Transport von Wasser von den Wurzeln zu den Blättern. Wenn man einen Lianenstamm durchtrennt, tritt in der Regel ein mit Punkten gesprenkelter Querschnitt zum Vorschein, der an das Innere einer Kiwifrucht erinnert. Bei diesen Punkten handelt es sich um Wasser führende Röhren – ein Leitsystem namens Xylem. Da die Leitungen viel breiter sind als die von Bäumen, fließt das darin aufsteigende Wasser mit weniger Reibung. Dadurch können Lianen ein viel größeres Volumen transportieren als Bäume, was ihnen eine deutlich schnellere Fotosynthese und ein rascheres Wachstum ermöglicht.
Lianenbefall ist ansteckend
Über ein Jahrhundert lang haben die Forscher Lianen weitgehend ignoriert. Doch in den letzten Jahrzehnten erkannten sie, dass Lianen einflussreiche Bestandteile des Waldökosystems sind und es sogar zerstören können. Es begann in den späten 1970er Jahren, als ein junger Doktorand namens Francis Putz für ein Stipendium auf die Insel Barro Colorado kam. Er wollte sich genauer ansehen, wie sich die Ressourcenräuber bis über die Baumkronen hieven und von Baum zu Baum hangeln. Mit einem modifizierten Kleinkalibergewehr schoss er eine Angelschnur über einen Ast in 20 bis 40 Meter Höhe, zog mit ihr eine Nylonschnur hinauf und nutzte diese dann, um schließlich ein Kletterseil zu installieren. Hunderte von Stunden verbrachte er hängend am Klettergurt in den Baumkronen unterbrochen von gelegentlichen Mittagsschläfchen. Auf diese Weise machte er sich vertraut mit dem langsamen, erbarmungslosen Kampf zwischen kletternden Lianen und Bäumen, die nicht beklettert werden wollten.
Putz entdeckte, dass Lianen gewissermaßen ansteckend sind. Sobald es einem Exemplar gelang, einen Baum zu erklimmen, schickte es Triebe aus, um benachbarte Bäume zu kapern – ein bisschen so, wie Putz' Angelschnüre. Diese »Infektion« konnte sich erstaunlich weit ausbreiten. Eine Liane aus der Entada-Familie mit spiralförmigen, meterlangen Schoten, erstreckte sich etwa über die Kronen von 49 Bäumen. Putz sah zudem, wie sich die Bäume heftig gegen den Lianenbefall wehrten. Einige ließen Blätter und Äste fallen, damit die Ranken auf den Boden stürzten. Manche Palmen entwickelten gezackte Schwertblätter, die junge Lianen durchtrennen konnten.
Und es geht noch gewalttätiger. Während einer gefährlichen Klettertour befand sich Putz 20 oder 30 Meter hoch auf einem Tabebuia-Baum mit dickem Stamm, als er in der Ferne eine Sturmböe heranziehen sah. Er erinnerte sich an eine Schilderung des Naturphilosophen John Muirs, wie dieser einen Sturm hoch oben in einem Mammutbaum überstanden hatte. Ein Versuch ist es wert, dachte Putz. Es war »so eine Art von Sache, die man macht, wenn man in seinen Zwanzigern ist«, sagt er rückblickend.
Die Winde kamen mit dem Getöse eines entgegenkommenden Zuges begleitet vom Geschrei aufgeregter Affen. Etwa zehn Minuten lang wurde Putz an den Seilen hängend heftig durchgeschüttelt. Der Baum nebenan – ein schlankes Exemplar der Gattung Zanthoxylum mit einem dornigen Stamm und farnähnlichen Blättern, der durch drei Lianen mit Putz' Tabebuia-Baum verbunden war – peitschte hin und her, wobei er Putz' Baum kräftig mitriss. Als der Wind abflaute, bemerkte der junge Forscher, dass er sich eingenässt hatte. Darüber hinaus sah er, dass alle drei Lianen durchtrennt worden waren. Die Biegsamkeit des Zanthoxylum war offenbar Teil einer Abwehrreaktion. Der Baum hatte durch seine Bewegungen aber nicht nur Lianen separiert, sondern auch Äste von benachbarten Bäumen abgerissen. Auf diese Weise hatte er eine Pufferzone geschaffen, die es Lianen künftig schwerer machen würde, ihn zu erreichen.
Dabei ist es doch eigentlich so: Wenn Bäume durch Lianen aneinandergekettet sind, kann ein einzelnes fallendes Exemplar auch die anderen mit in den Abgrund reißen. Die Lianen wiederum nutzen die Situation und wachsen mit Hilfe des intensiven Sonnenlichts zügig über die neu entstandene Lichtung. Denn die Ranken gedeihen überall dort prächtig, wo viel Sonnenlicht hinkommt – sei es im oberen Bereich der Baumkronen oder auf einer Lichtung am Boden.
Wälder erneuern sich immer schneller
Zur Zeit von Putz' Untersuchungen ging die Wissenschaft davon aus, dass die ökologischen Kämpfe in Wäldern, die wenig direkten Kontakt zur Industriegesellschaft hatten, im Gleichgewicht seien. Nähmen Lianen an einer Stelle überhand, dann glichen Bäume dies aus, indem sie an anderer Stelle dominanter würden.
Doch die Ergebnisse eines anderen Wissenschaftlers ließen Zweifel an dieser Sichtweise aufkommen. In den frühen 1990er Jahren versuchte ein Doktorand namens Oliver Phillips am Missouri Botanical Garden in den USA, eine lang währende Frage der Ökologie zu beantworten: Haben Wälder, die sich schneller erneuern – also schneller wachsen, sterben und alte Bäume ersetzen – auch eine größere Artenvielfalt als solche, bei denen die Prozesse langsamer ablaufen? Um das herauszufinden, stellte Phillips Aufzeichnungen über das Wachstum und Absterben von Bäumen in 40 tropischen Wäldern in Asien, Afrika, Australien sowie Nord- und Südamerika zusammen. Die meisten von ihnen waren nur zweimal im Lauf von 10 bis 15 Jahren untersucht worden, aber insgesamt erstreckten sich die Daten über einen Zeitraum von 1934 bis 1993. Als Phillips die Ergebnisse auswertete, fiel ihm ein merkwürdiger Trend auf: Die Geschwindigkeit des Baumwechsels schien zuzunehmen.
»Es ist ganz klar, dass Lianen die Baumsterblichkeit beschleunigen können«Oliver Phillips, Ökologe
Bis 1960 starb jedes Jahr etwa ein Prozent der Bäume in einem bestimmten Gebiet und wurden durch Jungbäume ersetzt. In den späten 1980er Jahren jedoch hatte sich die Rate auf fast zwei Prozent verdoppelt. »Ich habe nicht gezielt nach einem Muster gesucht«, erinnert sich Phillips. Die Daten hätten für sich gesprochen – und sie schienen eine globale Veränderung zu beschreiben. Vielleicht führte die steigende Konzentration von CO2 – der Stoff, der den Bäumen die Bausteine liefert, aus denen sie mittels Fotosynthese Kohlenhydrate bilden – dazu, dass sie schneller wachsen und früher sterben. Oder die vom Klimawandel verursachten steigenden Temperaturen und die daraus resultierenden Dürreperioden brachten die Bäume früher um. Oder stärkere Stürme rissen mehr Bäume mit sich.
Ungeachtet der Ursache fiel Phillips noch etwas auf. Auf insgesamt sechs Parzellen in Peru wurde das Wachstum von Lianen seit 1983 verfolgt, und auf fünf von ihnen schien die Zahl der Lianen zuzunehmen. »Es ist ganz klar, dass Lianen die Baumsterblichkeit beschleunigen können«, sagt Phillips, der heute an der University of Leeds in Großbritannien arbeitet. Als er etliche andere Standorte im Amazonasgebiet untersuchte, stellte er einen weit verbreiteten Trend fest: Die Lianen wuchsen mit einer rasanten Geschwindigkeit von ein bis fünf Prozent pro Jahr. Innerhalb von 20 Jahren hatte sich ihre Anzahl fast verdoppelt.
Die Entdeckung von 2002 sorgte für großes Aufsehen. »Zuerst wollte es niemand glauben«, sagt Schnitzer, der Leiter des Lianenforschungsteam am STRI in Panama. Einige Wissenschaftler mutmaßten, dass man einfach nur besser im Zählen von Lianen geworden war. Doch schließlich kamen auch andere Studien zu ähnlichen Ergebnissen.
Zu dieser Zeit begann auch Schnitzer, sich für Lianen zu interessieren. Er hatte gerade seine Doktorarbeit an der University of Pittsburgh abgeschlossen. In dieser zeigt er, dass durch das Fällen von Bäumen Lücken in tropischen Wäldern entstehen, die der biologischen Vielfalt zugutekommen, weil in dem frei gewordenen Platz schnell wachsende Pionierbaumarten Wurzeln schlagen können. Durch einen Prozess, der als Sukzession bezeichnet wird, weichen diese Pioniere schließlich langsam wachsenden Arten, die den Großteil des Waldes ausmachen.
Doch Schnitzer stellte fest – genau wie Putz vor ihm –, dass in diesen sonnigen Lichtungen häufig auch Lianen gedeihen. Mehr noch, er fand heraus, dass Lianen die Pionierbäume sogar verdrängen können, indem sie sie beschatten und ihr Wachstum bremsen. Lücken, die sich normalerweise innerhalb von 5 bis 10 Jahren schlossen, blieben oft 25 Jahre lang oder länger spärlich bewachsen. Die Lianen, so erklärt er, würden in solchen »gestörten Gebieten die Sukzession aufhalten«.
Lianen speichern weniger Kohlenstoff als Bäume
In den folgenden Jahren wurden die Auswirkungen der Lianen auf die Wälder immer deutlicher. In den Jahren 2005 und 2006 untersuchte Geertje van der Heijden, damals Doktorandin bei Phillips, eine Reihe von Waldparzellen in Peru, um die Wachstumsraten von hunderten Bäumen zu vergleichen, die von Lianen befallen beziehungsweise nicht befallen waren. Sie fand heraus, dass die überwucherten Bäume langsamer wuchsen und weniger CO2 aufnahmen, vor allem weil die Reben das Sonnenlicht blockierten.
Van der Heijden schätzte, dass die Bäume wegen der Lianen auf einem einzigen Hektar, was etwa 1,4 Fußballfeldern entspricht, pro Jahr 920 Kilogramm CO2 weniger absorbieren. Die Biomasse der Lianen selbst kompensiert lediglich 29 Prozent dieser verlorenen CO2-Speicherung durch die Bäume. Das liegt daran, dass Lianen Kohlenstoff viel schlechter binden als Bäume. Betrachte man den gesamten Wald, so sagt van der Heijden, »führen Lianen zu einer Verschiebung hin zu mehr Kohlenstoff in den Blättern und weniger Kohlenstoff in den Stämmen«. Und während holzige Stämme Kohlenstoff für viele Jahrzehnte speichern können, fallen Blätter zu Boden, verrotten und geben den Kohlenstoff innerhalb weniger Monate wieder an die Atmosphäre ab.
Um zu überprüfen, ob die Fähigkeit des Waldes, CO2 zu absorbieren und zu speichern, durch Lianen tatsächlich sinkt, führte van der Heijden gemeinsam mit Schnitzer im Jahr 2012 ein Experiment durch. Einen Kilometer südlich der Insel Barro Colorado, am Ufer des Gatun-Sees, ließen sie Arbeiter mit Macheten und Astscheren Lianen aus mehreren Waldstücken entfernen. Anschließend erfassten die Forschenden das Wachstum und das Absterben von Bäumen in Gebieten mit und ohne Lianen. Die Ergebnisse wurden 2015 veröffentlicht – und sie hatten es in sich: Selbst wenn man die Biomasse der Lianen hinzurechnet, verringerten die Ranken die CO2-Aufnahme der Wälder um insgesamt 76 Prozent – das sind etwa 8920 Kilogramm pro Hektar und Jahr, fast das Zehnfache dessen, was ihre frühere Arbeit vermuten ließ. »Wir waren ziemlich erstaunt«, sagt van der Heijden, die heute als Waldökologin an der University of Nottingham in Großbritannien arbeitet.
Die Daten waren also eindeutig, aber die Ursachen für die Ausbreitung der Lianen ließen sich weiterhin nur schwer ergründen. Schnitzers Team fand heraus, dass ein höherer CO2-Gehalt das Wachstum von Lianen und Baumsämlingen gleichermaßen fördert. Dieser Erklärungsansatz kam also nicht in Frage. Gleiches gilt für Nährstoffe, die durch die Luftverschmutzung durch fossile Brennstoffe eingetragen werden. Schnitzer und andere realisierten, dass man offensichtlich die Auswirkungen der Klimaerwärmung auf die Bäume im Detail verstehen muss, um sich einer Erklärung anzunähern.
Die Fotosyntheseraten von Blättern bestimmen
Im Jahr 2016 wandte sich ein Pflanzenphysiologe am STRI namens Martijn Slot diesem Thema eingehend zu. Die ersten Monate jenes Jahres verbrachte er viele Tage im Parque Nacional San Lorenzo, einem Regenwaldschutzgebiet an der Karibikküste Panamas, etwa 15 Kilometer nordöstlich von Barro Colorado. Im schummrigen Morgenlicht stieg Slot vom matschigen Waldboden auf das Stahlgitter einer Gondel, die an einem Kran, so hoch wie ein zwölfstöckiges Gebäude, befestigt war. Dieser hob ihn 30 Meter in die Höhe – durch dichtes Blätterwerk, vorbei an Regenbogentukanen, die krächzend davonflatterten und gelegentlich vorbei an baumelnden Faultieren, bis er zwischen den Baumkronen im Sonnenlicht auftauchte. Oben angekommen gab Slot dem Kranführer über ein Funkgerät Anweisungen für eine Reihe von heiklen Manövern, die seine Gondel in die Nähe eines belaubten Asts lenkten.
In den nächsten Stunden klemmte Slot ein ums andere Mal eine kleine Plastikkammer auf die Blätter. Damit konnte er die CO2-Aufnahme eines jeden einzelnen Blatts messen und so ihre jeweilige Fotosyntheserate bestimmen. Manchmal zwang ihn ein aufziehendes Gewitter zum Abstieg. Ein anderes Mal geriet seine Gondel in eine Windböe, und er riss versehentlich einen Zweig ab, so dass er von vorne beginnen musste.
Nach dutzenden Kransitzungen und 1700 vermessenen Blättern kam Slot zu dem Ergebnis, dass die warmen Temperaturen die Bäume selbst an eher milden Tagen aus ihrer Komfortzone drängen. Denn während die Lufttemperatur in der Regel unter 32 Grad Celsius blieb, überschritt die Temperatur der Blätter im Sonnenlicht oft 40 Grad Celsius. Ihren Höhepunkt erreichten die Fotosyntheseraten der Blätter bei etwa 30 Grad Celsius. Wenn das Blatt die 40-Grad-Marke knackte, fielen die Raten um 90 bis 98 Prozent. Grund dafür ist, so vermutete Slot, dass die Bäume dann anderen Bedürfnissen Vorrang geben müssen.
Wird es zu heiß, halten die Blätter den Atem an
Während der Fotosynthese absorbieren Blätter CO2 durch winzige Öffnungen an ihrer Unterseite, »Stomata« genannt nach dem griechischen Wort für »Münder«, weil sie kleinen Lippen ähneln. Während die Spaltöffnungen eines Blatts geöffnet sind, verdunstet eine riesige Menge Wasser, erklärt Slot: »Für jedes CO2-Molekül, das gebunden wird, gehen 300 Wassermoleküle verloren.« Auf diese Weise kann ein einzelner großer Baum pro Jahr etwa 150 000 Liter Wasser ausatmen.
Mit steigender Temperatur nimmt auch die Verdunstungsrate zu. An einem bestimmten Punkt schließt das Blatt seine Spaltöffnungen und hält sozusagen den Atem an. Dadurch wird der Wasserverlust gestoppt, aber auch die Fotosynthese unterbrochen, da das Blatt kein CO2 mehr einatmen kann. Blätter stellen die Fotosynthese regelmäßig während der wärmsten Stunden des Tages ein. Steigende Temperaturen zwingen sie also möglicherweise dazu, dies häufiger und länger zu tun, wodurch die Bäume schlechter mit Nahrung versorgt werden.
Viele tropische Bäume würden bereits am Rande ihrer »Höchsttemperatur« arbeiten, sagt Kenneth Feeley, Ökologe für tropische Wälder an der University of Miami in Florida, USA. »Je heißer es wird, desto weniger effizient sind sie, und das führt zu einem langsameren Wachstum.« Amazonien hat sich seit 1950 um 0,9 Grad Celsius erwärmt, und bis zum Jahr 2100 wird eine zusätzliche Erwärmung um ein bis vier Grad Celsius prognostiziert – je nachdem, wie viele Treibhausgase die Menschen ausstoßen.
Bäume sind belastet, Lianen profitieren
Selbst wenn also der steigende CO2-Gehalt zu einem schnelleren Wachstum der Wälder führt, wie Phillips herausgefunden hat, könnten die steigenden Temperaturen die wachstumsfördernde Wirkung des CO2 schließlich aufheben und umkehren. In der Zwischenzeit belasten die veränderten Niederschläge bereits den Amazonas-Regenwald. Die viermonatige Trockenzeit hat sich seit 1980 um etwa 20 Tage verlängert, und in den Jahren 2005, 2010 und 2015/16 kam es in der Region zu großen Dürren im Zusammenhang mit Hitzewellen, denen Milliarden von Bäumen zum Opfer fielen.
Dieser Zusammenhang zwischen Trockenheit und Hitze könnte den Lianen einen weiteren Schub geben, da die Bäume schon jetzt schwächeln und in Zukunft vielleicht noch mehr. Tatsächlich hat Schnitzer herausgefunden, dass Lianen im Amazonasgebiet in Gegenden mit längeren und niederschlagsärmeren Trockenzeiten häufiger vorkommen. Zusätzlich haben er und van der Heijden gezeigt, dass Lianen am Südufer des Gatun-Sees in Panama während der viermonatigen Trockenzeit etwa drei- bis viermal so schnell wachsen wie Bäume. In feuchten Zeiten gedeihen sie hingegen ähnlich schnell. Diese Unterschiede traten vor allem während der ungewöhnlich heißen und trockenen El-Niño-Dürren 2015 und 2016 zu Tage, als die Bäume ihr Wachstum vollständig einstellten, die Lianen jedoch weiterhin mit normaler Geschwindigkeit wuchsen. »Wenn das alle fünf bis sieben Jahre passiert, also immer dann, wenn es einen El Niño gibt, dann hätten Lianen einen großen Vorteil«, sagt Schnitzer.
Andere Fähigkeiten der Lianen könnten diesen Vorteil noch verstärken. Im November 2015 startete José Medina-Vega, Schnitzers ehemaliger Postdoc, ein Experiment im Parque Natural Metropolitano, ein an Panama-Stadt angrenzendes Waldschutzgebiet, das ähnlich wie die Insel Barro Colorado einer ausgeprägten Trockenzeit ausgesetzt ist. Dort wählte er mehrere Dutzend Baum- und Lianenzweige aus und beschriftete jedes ihrer 6861 Blätter akribisch mit einem Filzstift. In den folgenden 17 Monaten maß er das Wachstum jedes Zweigs und notierte jedes Blatt, das abfiel oder austrieb. Er stellte fest, dass die Lianen an diesem Standort effizienter nach Sonnenlicht suchten als die Bäume. Die dünnen Lianenzweige verlängerten sich um bis zu 38 Meter – etwa 15-mal mehr als die Zweige der Bäume.
»Nehmen wir an, diese Wälder werden immer trockener. Die Leistung der Lianen wird sich dann verbessern«José Medina-Vega, Biologe
Wie die Stämme waren auch die Lianenblätter dünner als die der Bäume, was sie gewissermaßen »billiger« in der Herstellung und »leichter ersetzbar« macht, sagt Medina-Vega. Wenn ein Lianenblatt in den Schatten gerät, wirft die Liane es einfach ab und tauscht es durch ein neues aus, irgendwo im Sonnenlicht. Da Lianen »billigere Blätter« herstellen, können sie flexibler auf die Jahreszeiten reagieren. In dem untersuchten Waldschutzgebiet verlieren Lianen und Bäume (wie auch an vielen anderen Orten in den Tropen) während der Trockenzeit ihre Blätter. Doch Medina-Vega stellte fest, dass die Blätter der Lianen bereits einen Monat früher als die der Bäume nachwuchsen, sobald es wieder zu regnen begann.
Daher können Lianen also nicht nur schneller Wasser aufnehmen als Bäume, sie sind auch im Kampf um das Sonnenlicht effizienter als diese. In Wäldern mit starken Trockenperioden machen sie weniger als 5 Prozent der Stammbiomasse aus, produzieren aber 15 bis 40 Prozent der Blattmasse. Der Klimawandel könnte diesen Vorteil noch verstärken. »Nehmen wir an, diese Wälder werden immer trockener«, sagt Medina-Vega. »Die Leistung der Lianen wird sich dann noch weiter verbessern.« Und das Baumwachstum könnte darunter leiden.
Woher kommt die Zunahme der Lianen?
Trotz aller Beweise, dass die Lianenanzahl steigt, ist immer noch unklar, was dies letztlich für die Wälder bedeutet. Die Veränderungen darin hängen von vielen komplizierten Faktoren ab und können sich über Jahrhunderte hinziehen. Im Vergleich dazu ist die Lebenszeit der menschlichen Beobachter kurz.
Die Tropenökologin Flavia Costa vom Instituto Nacional de Pesquisas da Amazônia im brasilianischen Manaus ist der Ansicht, dass die individuelle Vergangenheit des jeweiligen Standorts mehr mit dem Lianenvorkommen zu tun haben könnte als irgendein globales Phänomen. Bei einer zehnjährigen Untersuchung des Adolpho-Ducke-Reservats in Nordbrasilien stellten sie und ihre Kollegen fest, dass der Lianenbestand insgesamt gleich blieb, sogar wenn die Anzahl in den einzelnen Parzellen schwankte. »Ich denke, dass die Daten nicht so aussagekräftig sind, wie es sich die Leute ausmalen«, sagt sie.
Die Zunahme an Lianen im Barro Colorado könnte zum Beispiel darauf zurückzuführen sein, dass die Insel erst 1914 entstand, als Ingenieure beim Bau des Panamakanals einen nahe gelegenen Fluss aufstauten. Das steigende Wasser führte zur Bildung des Gatun-Sees, und Barro Colorado, einst ein von Sumpfland umgebener Hügel, wurde in seinem Zentrum isoliert. Diese Abschottung könnte eine langfristige ökologische Kaskade ausgelöst haben: Ging beispielsweise die Populationen großer Tiere wie Pekaris oder Brüllaffen zurück, wurden große Baumsamen weniger gut verteilt und kleinwüchsige Lianen konnten das entstandene Vakuum füllen.
Natürlich waren die Waldparzellen, die Phillips 2002 zum ersten Mal nutzte, um die Zunahme der Lianen zu dokumentieren, vielfältig und umfassten Dutzende von Standorten in Peru, Bolivien, Ecuador, Venezuela, Brasilien, Costa Rica und anderen Ländern. Dennoch könnten einzelne Standorte immer noch mit Verzerrungen behaftet sein. Heutige Waldveränderungen sind möglicherweise keine Reaktion auf den aktuellen Klimawandel, sondern eher die allmähliche Rückkehr des Waldes zu einem Gleichgewichtszustand, der durch ein länger zurückliegendes Ereignis aufgegeben wurde. Das könnte etwa ein schwerer Sturm gewesen sein, der vor ein oder zwei Jahrhunderten zahlreiche Bäume niederriss. »Es liegt in der Natur der Sache, dass dies schwer festzustellen ist«, räumt Phillips ein. »Keiner von uns war vor 100 oder 200 Jahren vor Ort, um zu sehen, wie der Wald damals aussah.« Die Wissenschaftler können lediglich hoffen, dass die Forschung an einem breiten Spektrum von Waldstandorten diese lokalen Verzerrungen ausgleichen kann.
Was ist in Afrika und Asien los?
Das größte Rätsel ist gleichwohl, dass es bislang keine schlüssigen Beweise dafür gibt, dass Lianen auch in Afrika und Asien zunehmen würden. Dies könnte auf einen Mangel an Langzeitdaten zurückzuführen sein, meint Phillips. Auf diesen beiden Kontinenten haben Wissenschaftler bislang nur auf sehr wenigen Flächen die Verbreitung von Lianen verfolgt. Phillips spekuliert allerdings, dass dieser Befund auch die Unterschiede in den Tropenwäldern der Welt widerspiegeln könnte. Die wenigen verbliebenen asiatischen Wälder haben oft eine höhere Baumkrone – bis zu 70 Meter, im Gegensatz zu 40 oder 50 Meter im Amazonasgebiet. Für Lianen könnte es daher schwieriger sein, sich ihren Weg zum Sonnenlicht zu bahnen. Die afrikanischen Wälder wiederum befinden sich in der Regel in höheren Lagen und sind daher kühler und feuchter als die meisten Wälder im Amazonasgebiet. In diesen Wäldern herrschen mildere Trockenzeiten und ein langsamerer Baumwechsel, was die Wettbewerbsvorteile der Lianen zunichtemachen könnte.
Aber, selbst wenn diese Faktoren tatsächlich als Puffer wirken, werden sie das vielleicht nicht mehr lange tun. Die Bäume in den afrikanischen Wäldern zeigen bereits erste Abnutzungserscheinungen durch den Klimawandel, und die Folgen könnten weit reichend sein. Die Tropenwälder spielen eine entscheidende Rolle, um den von der Industriegesellschaft verursachten maßlosen CO2-Austoß abzufedern. Schon seit einiger Zeit häufen sich die Warnsignale, dass sie dazu zunehmend nicht mehr in der Lage sein werden.
Wälder speichern immer weniger Kohlenstoff
Nachdem der Ökologe Oliver Phillips von der University of Leeds im Jahr 1994 entdeckt hatte, dass sich Wälder schneller erneuern, führte er weitere Untersuchungen durch. In den Jahren danach studierte er das »intime« Leben der Bäume, als wären sie menschliche Probanden in einer medizinischen Langzeitstudie. Indem er den Umfang des Stamms eines jeden Baums in eine mathematische Gleichung einfügte, schätzte er die Gesamtmasse von Stamm, Ästen und Blättern ab. Daraus errechnete sein Team, wie viel Kohlenstoff der einzelne Baum und letztlich der gesamte umliegende Wald während des Wachstums gebunden hatte. Die daraus gewonnenen Daten führten zu einer wichtigen Erkenntnis: Die Fähigkeit des Amazonaswaldes, CO2 zu speichern, nimmt allmählich ab, wie Phillips und sein Kollege Roel Brienen von der University of Leeds 2015 berichteten.
Bei der Analyse von 321 über die Region verteilten Parzellen stellten sie fest, dass die Netto-CO2-Menge, die der Amazonas speichert, in den 1990er Jahren mit rund zwei Milliarden Tonnen CO2 pro Jahr ihren Höhepunkt erreicht hat. Die Menge entspricht in etwa den jährlichen Emissionen Russlands aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe. In den 2000er Jahren war die gespeicherte Menge um fast 30 Prozent geschrumpft.
Phillips sieht in der zunehmenden Fluktuation der Bäume den Hauptgrund dafür. In einen reifen Wald lassen sich wahrscheinlich eine Zeit lang noch mehr Bäume reinpacken, sagt er. »Aber früher oder später wird die Sterblichkeitsrate ansteigen.« Er weist darauf hin, dass Bäume, die schneller wachsen und schon in einem früheren Alter größer werden, auch früher sterben. Hohe Bäume leiden stärker unter der Trockenheit, weil es für sie schwieriger ist, das Wasser bis zu den Blättern zu saugen. Die Stämme schnell wachsender Bäume sind in der Regel weniger dicht, was das Risiko erhöht, dass sie vom Wind umgepustet oder benachbarte umstürzende Bäume entwurzelt werden. Und da die steigenden Temperaturen in Zukunft die Fotosynthese zunehmend beeinträchtigen, könnte dies auch die Sterblichkeitsrate erhöhen. Die abgestorbenen Bäume wiederum zersetzen sich und geben ihren Kohlenstoff wieder in die Luft ab.
Die Dominanz der Lianen könnte weltweit zunehmen
Am beunruhigendsten ist vielleicht, dass sich dieses Muster der verringerten CO2-Speicherkapazität ausbreitet. So zeigen auch die afrikanischen Tropenwälder erste Anzeichen dafür. Die Menge, die sie gespeichert haben, hat etwa um das Jahr 2010 ihren Höhepunkt erreicht und geht nun zurück. Bis 2040 könnten die afrikanischen Wälder rund 50 Prozent ihrer jährlichen CO2-Aufnahmefähigkeit einbüßen. Und wie eine 2020 in »Nature« veröffentlichte Analyse vorhersagt, könnte der Amazonas von einer Kohlenstoffsenke zur Kohlenstoffquelle übergehen, also netto CO2 emittieren statt absorbieren.
Da die Erwärmung und der Baumumsatz weiter zunehmen, glaubt Schnitzer, dass sich Lianen in afrikanischen Wäldern weiter vermehren könnten. Seine Vermutung beruht auf der Analyse der Lianen- und Baumdaten, die Bernal Vargas und seine Mitarbeiter zwischen 2016 und 2017 auf der Insel Barro Colorado gesammelt haben. Sie zeigt nicht nur einen Anstieg des Lianenbestands um 29 Prozent, sondern auch ein auffälliges Muster in der Landschaft: Fast alle neuen Lianen sind dort gewachsen, wo ein umgestürzter Baum ein Loch in das Blätterdach gerissen hat. Auf dieser Insel des Sonnenlichts konnten die abgestürzten Lianen wieder Wurzeln schlagen und an dutzenden Stämmen benachbarter Bäume emporwachsen. Mit anderen Worten: Ein erhöhter Umsatz der Bäume resultiert darin, dass Lianen sich vermehren. Die Möglichkeit, dass die Ranken auch von längeren Trockenzeiten profitieren, lässt die Untersuchung allerdings offen.
»Keine Studie hat die Zunahme der Lianen jemals eindeutig mechanistisch erklärt, hier tun wir das«, sagt Schnitzer. Das sei ein wichtiger Befund. Es mag verlockend sein, Lianen als passive Nutznießer des erhöhten Baumumsatzes zu betrachten, aber Schnitzer ist der Meinung, dass sie eine aktive Rolle spielen. »Sie töten die Bäume ab und nutzen dann die Lücken, die die Bäume hinterlassen«, sagt er. Indem sie diese Freiflächen überwuchern, verhindern sie, dass Bäume nachwachsen. Und je mehr Lücken im Wald gerissen werden, desto eher könnte sich eine positive Rückkopplung einstellen. Mit Lianen bewachsene Stellen könnten zum Landepunkt werden, von denen sich Horden schnell wachsender Lianen ihren Weg in noch nicht so stark befallene Waldgebiete bahnen.
Beobachtung der Wälder aus dem Weltall
Die entscheidende Frage ist nun, wie sich die explosive Vermehrung der Lianen auf die Fähigkeit der Wälder, CO2 zu absorbieren, auf einer viel größeren Skala auswirkt. Um diese Frage zu beantworten, plant die Waldökologin aus Nottingham Geertje van der Heijden deutlich über die bisherigen Forschungsflächen hinauszugehen und das Wachstum der Lianen aus dem Weltraum zu beobachten. Sie und andere Forscher haben mehrere Jahre damit verbracht, Satelliten- und Luftbilder von Tropenwäldern in Mittelamerika, Südamerika und Asien zu analysieren. Ihre Hoffnung ist, Wege zu finden, um die Häufigkeit von Lianen aus der Ferne zu bestimmen. Wenn dieser Ansatz funktioniert, könnten Erhebungen, die derzeit nur alle paar Jahre stattfinden, mehrmals pro Jahr und über Tausende von Quadratkilometern durchgeführt werden. Sie könnten auch endlich die Frage klären, ob die Zunahme der Lianen ein globales Phänomen ist oder nur das Ergebnis lokaler Verzerrungen.
Die vorläufigen Ergebnisse sind viel versprechend: Als van der Heijden und ihre Kollegen die Bilder des Sentinel-2-Satelliten auswerteten, stellten sie fest, dass die Farbe des Waldes etwas grüner leuchtet, wenn er von Lianen befallen ist. Das gilt, selbst wenn ein gesamter Hektar – das sind Hunderte von Bäumen und Lianen – auf ein paar Pixel komprimiert wird. Noch ist es allerdings zu früh für endgültige Aussagen. Van der Heijden und ihre Kollegen versuchen immer noch herauszufinden, was die Satelliten tatsächlich messen. Es könnte ein echter Unterschied in der Blattfarbe sein oder die Tatsache, dass Lianenblätter horizontaler hängen als Baumblätter, oder die Tatsache, dass die meisten Lianenblätter dünner sind als Baumblätter, so dass mehr Licht durchgelassen wird.
Wie auch immer die Antwort lautet, Satelliten zu nutzen, scheint die logische Fortsetzung des Weges zu sein, den Putz vor mehr als 40 Jahren eingeschlagen hat. Vom Boden aus können die Gewächse nicht vollständig verstanden werden. Betrachtet man die Ranken aber von oben, sieht man, wie sie sich weit von ihren Wurzeln entfernen und einen Baum nach dem anderen erdrosseln, während sie das Blätterdach erkunden.
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