Libellen: Perfekte Flieger mit unsicherer Zukunft
Die Sonne brennt vom Himmel, die Wiesen sind verdorrt, nur der beregnete Mais steht exotisch in der Hitze, und mittendurch schlängelt sich der Sasbach, der hier eher ein kleines Bächlein ist. Im Wasser steht der Biologe und Libellenspezialist Franz-Josef Schiel, der gerade in Gummistiefeln und mit Kescher in der Hand nach Libellen (Odonata) Ausschau hält. Lange braucht er nicht zu warten, dicht über dem Wasser, am Rand auf dem Schilf oder auf den trockenen Gräsern; als Laie hat man den Eindruck, dass es hier nur so wimmelt von Libellen. Pfeilschnell fliegen sie über das Wasser, stehen in der Luft, wechseln die Richtung, um sich dann kurz zu setzen – selten lange genug für ein Foto.
Libellen gelten als die perfekten Lufttiere und sind die am schnellsten fliegenden Insekten. Sie können ihre vier Flügel unabhängig voneinander mit einem eigenen Muskel bewegen. Dadurch fliegen sie pfeilschnell vorwärts, rückwärts, nach rechts und links oder auch wie ein Hubschrauber gerade nach oben. Zusätzlich nutzen sie einfach die Thermik und segeln gemächlich dahin. »Libellen können in 0,3 Sekunden von null auf 15 Kilometer pro Stunde beschleunigen und erreichen Fluggeschwindigkeiten von bis zu 40 Stundenkilometer«, erklärt Schiel. »Libellenaugen haben eine fünffach höhere zeitliche Auflösung als das menschliche Auge und können bis zu 300 Bilder pro Sekunde wahrnehmen. Alle diese Eigenschaften zusammen machen Libellen zu den besten Luftjägern unter den Insekten, und auch ihre Feinde haben wenig Chancen, sie zu erwischen.« Der promovierte Biologe beschäftigt sich nun schon fast 30 Jahre mit Libellen, die er 1996 durch seine Diplomarbeit in Freiburg für sich entdeckte, »eine überschaubare Gruppe, in die man sich gut einarbeiten konnte«.
Harte Zeiten für Libellen
Schiel ist Gründungs- und Vorstandsmitglied der Schutzgemeinschaft Libellen in Baden-Württemberg, Mitbegründer und Gesellschafter des Instituts für Naturschutz und Landschaftsanalyse (INULA), Mitautor des Standardwerks über die Libellen Baden-Württembergs sowie Libellen-Entdecker und -Namensgeber gleichermaßen.
Gemeinsam mit seinem Kollegen Holger Hunger hat er vor zehn Jahren während einer wissenschaftlichen Exkursion in Peru eine neue Libellenart beschrieben, Protallagma hoffmannii. Die in einem Bundesstaat von Malaysia neu entdeckte Libellenart Leptogomphus schieli ist ebenso nach ihm benannt wie Pseudagrion schieli, eine Schlanklibelle, die 2011 auf den Philippinen gefunden wurde. Das hat er übrigens mit Sir David Attenborough gemeinsam, dessen Lieblingsinsekten die Libellen sind und der zu Ehren seines 90. Geburtstags ebenfalls Namensgeber für eine Libelle wurde, Acisoma attenboroughi, die auf Madagaskar heimisch ist.
Alle Libellen stehen heute unter Schutz und haben, wie andere Insekten auch, mit den Veränderungen in ihren Lebensräumen zu kämpfen. »Von den 81 heimischen Arten stehen 35 auf der Roten Liste und Vorwarnliste gefährdeter Insekten«, erklärt Schiel. Weltweit sieht es nicht viel besser aus, wie die IUCN (International Union for Conservation of Nature) im Dezember 2021 in der aktualisierten Roten Liste schrieb. »Die Zerstörung von Feuchtgebieten treibt weltweit den Rückgang der Libellen voran«, so die erste globale Bewertung dieser Arten in der Aktualisierung der Roten Liste gefährdeter Arten der IUCN.
»Ihr Rückgang ist symptomatisch für den weit verbreiteten Verlust der Sümpfe und frei fließenden Flüsse, in denen sie vorkommen, was hauptsächlich auf die Ausbreitung nicht nachhaltiger Landwirtschaft und Urbanisierung auf der ganzen Welt zurückzuführen ist«, heißt es in der Mitteilung der IUCN weiter. Die Bewertung der weltweiten Libellen und Kleinlibellen zeige, dass 16 Prozent von 6016 Arten vom Aussterben bedroht seien, da ihre Süßwasser-Brutplätze zunehmend schlechter würden. In Süd- und Südostasien seien mehr als ein Viertel aller Arten bedroht, hauptsächlich durch das Trockenlegen von Feuchtgebieten und Roden von Regenwäldern, um Platz für landwirtschaftliche Kulturen wie Palmöl-Plantagen zu schaffen.
Weltweit wird ihr Lebensraum zerstört
In Mittel- und Südamerika sei die Rodung von Wäldern für Wohn- und Gewerbebauten die Hauptursache für den Rückgang der Libellen. Pestizide, andere Schadstoffe und der Klimawandel würden eine wachsende Bedrohung für Arten in allen Regionen der Welt darstellen und seien die größte Gefahr für Libellen in Nordamerika und Europa. »Libellen sind hochempfindliche Indikatoren für den Zustand von Süßwasserökosystemen, und diese erste globale Bewertung zeigt endlich das Ausmaß ihres Rückgangs«, sagt Dr. Viola Clausnitzer, Kovorsitzende der IUCN SSC Dragonfly Specialist Group.
»Libellen gehören deswegen auch zu den Arten, die bei Umweltverträglichkeitsprüfungen im Rahmen von Eingriffsvorhaben untersucht werden, es gibt Artenschutzprogramme, und zehn einheimische Arten sind in der europäischen Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie berücksichtigt und damit streng geschützt«, erklärt Franz-Josef Schiel, der selber ebenfalls als Gutachter tätig ist. Wenige weitere Arten – Alpen-Mosaikjungfer, Hochmoor-Mosaikjungfer, Späte Rubinjungfer, Alpen-Smaragdlibelle, Östlicher Blaupfeil, Zwerglibelle – sind darüber hinaus in Deutschland »streng« geschützt.
Auch der Klimawandel macht Libellen zu schaffen
Zusätzlich zu dem Verlust ihrer Lebensräume macht der Klimawandel den Libellen zu schaffen. »Wir haben eine Zunahme von südlichen Arten bei uns; durch die langjährigen Untersuchungen können wir das in Baden-Württemberg sozusagen in Echtzeit dokumentieren«, erklärt Schiel. Wärme liebende und wärmebedürftige Arten nehmen zu, umgekehrt verschwinden diejenigen, denen es hier mittlerweile zu heiß ist, die Alpen-Mosaikjungfer ist bei uns inzwischen ausgestorben.
Ähnliches sieht man in anderen Bundesländern. Die Speer-Azurjungfer war früher in Niedersachsen eine häufige Art, jetzt ist sie dort fast komplett verschwunden. Und generelle Probleme haben natürlich die Moorarten wie die Alpen-Smaragdlibelle, da die Moore austrocknen, so Schiel. Larven dieser spezialisierten Moorarten könnten zwar eine gewisse Trockenzeit überstehen, aber irgendwann sei eben Schluss. Und so geht es weiter, denn »Tümpel fallen in der Zwischenzeit im Frühjahr zu schnell trocken, so dass Arten wie Gefleckte Heidelibelle, Glänzende Binsenjungfer oder Kleine Pechlibelle, die Libelle des Jahres 2022, ihre Entwicklung nicht abschließen können«.
Die Veränderungen in den Fließgewässern sind mittlerweile dramatisch. Bäche fallen trocken, in größeren Gewässern ändern sich Wasserqualität, Fließgeschwindigkeit und natürlich auch die Temperatur. Diese Folgen des Klimawandels sind für Schiel sehr frustrierend, denn man habe seit den 2000er Jahren viel für die Wasserqualität getan. Die habe sich stark verbessert, das sei auch den Libellen zugutegekommen. Aber gegen die Auswirkungen des Klimawandels könne man wenig machen, und er gehe davon aus, dass deswegen in Baden-Württemberg und anderswo Arten einfach verschwinden würden. Zwar hätten viele europäische Arten im Vergleich zu jenen in tropischen Regenwäldern ein großes Verbreitungsgebiet und könnten demzufolge auch ausweichen, »aber man möchte ja vor Ort die Artenvielfalt erhalten«, betont der Biologe.
Datenanalysen einer Arbeitsgruppe um Diana E. Bowler vom Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) über die letzten 35 Jahre hinweg bestätigen diese Beobachtungen von Schiel. Auch dort kommt man zu dem Schluss, dass der Klimawandel einerseits eine Schlüsselrolle für die Ausbreitung vieler Libellenarten sei, dass man auf der anderen Seite aber eben eine beträchtliche Anzahl von rückläufigen kälteangepassten »Verlierer-Arten« beobachten könne.
Am kleinen Sasbach im Badischen kann man den Rückgang ebenfalls erkennen, denn man sieht zwar viele Libellen, doch es sind nur wenige unterschiedliche Arten. »Dort fliegt eine Gebänderte Prachtlibelle, da hinten eine Blaue Federlibelle.« Franz-Josef Schiel schwingt unvermittelt das Netz, und ich kann die Libelle endlich aus der Nähe bewundern. Groß ist sie nicht, überwiegend türkis mit schwarzen Längsstreifen, die Augen sitzen rechts und links am Kopf. »Sie gehört zu den Kleinlibellen«, so Schiel. Die könne man zum einen an den seitlich stehenden Augen und zum anderen an den beim Sitzen hinter dem Rücken zusammengeklappten und fast gleich gestalteten Flügeln erkennen. Im Gegensatz dazu stehen die Augen der Großlibellen dichter beieinander, und sie halten ihre ungleich gestalteten Flügel in Ruhestellung ausgebreitet.
Rabiate Männchen, Spermienkonkurrenz und Fangmaske
Am Sasbach ist die Blaue Federlibelle momentan noch recht häufig, denn man sieht bei dem Gang entlang des Bachs viele von ihnen und an einem Schilfhalm am Gewässerrand sogar ein Paarungsrad, etwas, was es in dieser Form bei anderen Insekten nicht gibt.
»Die Libellen-Männchen können ganz schön rabiat sein, an den Fortpflanzungsgewässern ist es oft so, dass man dort nur Männchen und keine Weibchen sieht, denn wenn sich ein Weibchen blicken lässt, wird es sofort zur Paarung genötigt«, kommentiert Schiel. Das Männchen packt das Weibchen dafür zunächst mit den Zangen seines Hinterleibs hinter dem Kopf und es entsteht ein Libellen-Tandem. Dann krümmt das Weibchen seinen Hinterleib nach vorne, die Tiere bilden das Paarungsrad und es kommt zur Spermienübertragung.
»Bei Libellen wurde auch zum ersten Mal das Phänomen der Spermienkonkurrenz entdeckt. Männchen haben nämlich eine Art Bürste, mit der sie die Spermien des Vorgängers aus der Samentasche des Weibchens wieder herauskratzen können«, erklärt Franz-Josef Schiel. Das sei auch der Grund, weshalb viele Männchen die Weibchen bis zur Eiablage nicht aus den Augen lassen würden. Die eigentliche Befruchtung erfolge nämlich erst bei der Eiablage, je nach Art eben im Tandem oder auch allein, aber unter Bewachung durch das Männchen.
Ein bisschen monströs
Die Besonderheiten der Libellen setzen sich bei ihren Larven fort. Die entwickeln sich im Wasser und sind leistungsfähige Raubtiere. Ihre Unterlippe ist zu einer Fangmaske umgebildet, damit können sie blitzschnell zustoßen und Wasserinsekten erbeuten. Eine Ähnlichkeit mit Aliens in Sciencefiction-Filmen ist nicht gänzlich von der Hand zu weisen.
Je nach Libellenart können bis zu fünf Jahre vergehen, bis das fertige Fluginsekt nach mehreren Larvenstadien schlüpft. Die ausgewachsene Libellenlarve klettert dafür an Pflanzenstängeln aus dem Wasser und das fertige Insekt schlüpft aus dem Chitinpanzer, der an den Stängeln hängend zurückbleibt, die so genannten Exuvien. »Die sind für jede Libelle charakteristisch und dienen auch zur Bestimmung der Arten«, so Schiel. Nach dem Schlüpfen bleiben die fertigen Libellen sitzen, bis die ausgebreiteten Flügel komplett entfaltet und ausgehärtet sind, erst dann beginnt der »Luftteil« ihres Lebens, der meistens nur ein paar Wochen andauert.
Libellenähnliche Insekten gab es schon vor rund 300 Millionen Jahren. Die Vorfahren unserer heutigen Libellen, die Meganeura, hatten eine beeindruckende Flügelspannweite von bis zu 75 Zentimetern, sie flogen mit 70 Kilometern pro Stunde und konnten mit fünf Metern pro Sekunde in der Luft hochsteigen. Auch die Meganeura waren Jäger. Sie hatten scharfe Mundwerkzeuge und spitze Krallen und ihrer Beute blieben wenig Chancen auf ein Entkommen.
Libellen als Vorbild für Drohnen
Die heutigen Libellen sind im Vergleich zu damals deutlich kleiner geworden, können aber immerhin noch auf rund 20 Zentimeter kommen. »Viele Arten sind jedoch kleiner. Der ›Gnom unter den heimischen Libellen‹ ist nur 26 Millimeter groß«, so Schiel. Dieser Winzling ist die Zwerglibelle, eine extrem seltene Art, die in den vergangenen Jahrzehnten stark zurückgegangen ist. Auch hier führten Klimawandel und Schadstoffeinträge in ihre sensiblen Moorlebensräume zu einem Rückgang der Populationen. Bereits 1837 wurden diese »Insecten auf dem Riedgras großer Moorlöcher und an mit Binsen bewachsenen moorigen Wasserstellen« beschrieben.
Während die Libellen in den letzten 300 Millionen Jahren also deutlich schrumpften, möglicherweise auf Grund von sinkendem Sauerstoffgehalt der Luft und dem Auftreten von Fresskonkurrenten und Fressfeinden wie Flugreptilien und Flugsauriern, hat sich ihr »Bauplan« kaum verändert. Ihre Flugkünste waren damals wie heute außergewöhnlich, sie haben sich über Millionen von Jahren entwickelt, um ihr Überleben zu sichern. Ihre besonderen Fähigkeiten beschäftigen heute nicht nur die Biologen.
Ein Team von Doktoranden der University of South Australia (UniSA) unter der Leitung des Professors für Sensorsysteme, Javaan Chahl, verbrachte einen Teil des Covid-19-Lockdowns 2020 damit, wichtige Teile einer von Libellen inspirierten Drohne zu entwerfen und zu testen. Sie könnte die außergewöhnlichen Fähigkeiten des Insekts beim Schweben, Cruisen und Kunstflug womöglich erfolgreich nachbilden. In den letzten Jahren sind Drohnen zwar immer häufiger geworden und erfüllen die unterschiedlichsten Funktionen, aber im Vergleich zur Libelle und anderen fliegenden Insekten sind sie eher primitiv und verbrauchen viel Energie.
Das UniSA-Team modellierte die einzigartige Körperform und die aerodynamischen Eigenschaften der Libelle und rekonstruierte 3-D-Bilder der Flügel. »Libellenflügel sind lang, leicht und steif mit einem hohen Verhältnis von Auftrieb zu Luftwiderstand, was ihnen eine überlegene aerodynamische Leistung verleiht. Ihr langer Hinterleib, der etwa 35 Prozent ihres Körpergewichts ausmacht, hat sich ebenfalls entwickelt, um vielen Zwecken zu dienen. Es beherbergt den Verdauungstrakt, ist an der Fortpflanzung beteiligt und hilft bei Gleichgewicht, Stabilität und Wendigkeit. Der Hinterleib spielt eine entscheidende Rolle für ihre Flugfähigkeit«, so Chahl in einer Mitteilung der UniSA. Die Wissenschaftler um Chahl kommen durch ihre Versuche zu der Erkenntnis, dass eine optimale Schlagflügeldrohne ein wenig wie eine abstrakte Libelle aussehen könnte.
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