Medikamentenmangel: »Damit löschen wir nur einzelne Feuerherde, nicht den Flächenbrand«
Der Mangel an Arzneimitteln in Deutschland ist gravierender als jemals zuvor. Erst Ende April schrieb der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte in einem offenen Brief: »Die Gesundheit unserer Kinder und Jugendlichen ist durch den Medikamentenmangel europaweit gefährdet.« Doch nicht nur die Jüngeren sind betroffen. Ein Blick auf die Datenbank des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zeigt, dass derzeit für rund 490 Arzneimittel Lieferengpässe bestehen (Stand: 25.5.2023). Reinhard Strametz, Professor für Patientensicherheit an der Hochschule RheinMain, spricht im Interview mit »Spektrum.de« darüber, wie man Lieferketten stärken könnte, warum er teils Verständnis für Hamsterkäufe hat und worin er einen klaren Auftrag an die Politik sieht.
»Spektrum.de«: Herr Strametz, aktuell gibt es laut dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte für 495 Medikamente Lieferengpässe in Deutschland, vor einem Jahr waren es nur 270 (Stand: 25.5.2023). Warum schaffen wir es nicht, den Mangel – der ja bereits seit etlichen Jahren besteht – zu beheben? Ganz im Gegenteil, die Lage spitzte sich in den vergangenen Monaten stark zu.
Reinhard Strametz: Es gibt strukturelle Probleme auf mehreren Ebenen, die dazu führen. Erstens: Für verschiedene Wirkstoffe gibt es nur noch wenige Hersteller, oft in China oder Indien. Wenn dann ein Produzent wegbricht, weil es in der Fabrik brennt oder die Qualität der Rohstoffe nicht stimmt, setzt das einen Dominoeffekt in Gang, so dass gleich mehrere Medikamente fehlen. Der zweite Faktor ist, dass das gesamte System auf Kante genäht ist, mit einer Just-in-time-Produktion und -Lieferung. Das geht so lange gut, bis die Nachfrage schlagartig steigt, zum Beispiel wegen einer Pandemie oder weil eine Lieferkette zusammenbricht, wenn etwa ein Schiff im Sueskanal feststeckt. Zudem fehlt eine vorausschauende Bevorratung an Arzneimitteln. Betriebswirtschaftlich betrachtet sollten Waren immer möglichst kurz lagern, denn Lagerflächen sind teuer. Aber wenn es um lebenswichtige Medikamente geht, dürfen wir nicht rein betriebswirtschaftlich denken. Wir sind an dem Punkt angekommen, an dem wir merken, dass wir es mit der Ökonomisierung übertrieben haben. Wir müssen Kapazitäten kurzfristig hochfahren können, und dafür braucht es die entsprechende Infrastruktur. Das ist eine politische Entscheidung.
Gibt es noch weitere Ursachen für den Medikamentenmangel?
Ja, im Gegensatz zum zuletzt genannten Punkt greifen auch Regulationsmechanismen des freien Marktes. Als Hersteller beliefere ich natürlich am liebsten diejenigen, die am meisten zahlen. In Deutschland sind wegen der Rabattverträge mit den Krankenkassen (siehe Infokasten; Anm. d. Red.) bestimmte Medikamente preislich fixiert, und deshalb der deutsche Markt für einige pharmazeutische Produzenten uninteressant.
Und ein letzter Aspekt: Pharmaunternehmen entscheiden sich ganz bewusst dafür, bestimmte Medikamente gar nicht mehr herzustellen, weil sie sich finanziell nicht lohnen. Das geschieht zum Beispiel, wenn der Patentschutz ausläuft und Generika auf den Markt kommen. Füllt kein anderer Hersteller diese Lücke, brechen auch hier Medikamente weg. Diese Faktoren – einzeln oder in Kombination – führen dazu, dass permanent eine dreistellige Zahl an Medikamenten und Wirkstoffen nicht lieferbar ist.
Verschärfend kommt hinzu, dass seit Mai 2023 – im Rahmen des Gesetzes zur finanziellen Stabilisierung der gesetzlichen Krankenkassen – Hersteller von Arzneimitteln den Krankenkassen weitere Rabatte einräumen müssen. Das betrifft auch Wirkstoffe, die bei Krebs, Hepatitis C oder einer Infektion mit HIV eingesetzt werden. Schrecken solche Rabattpflichten nicht weitere Hersteller ab, die knappe Medikamente dann lieber in andere Länder verkaufen?
Nun, auf der einen Seite muss man sagen, dass dies hochpreisige Medikamente betrifft, die sich für den Hersteller bereits mehrfach amortisiert haben. Der Gesetzgeber unterbindet mit diesem Gesetz Preisdiktate. Die Pharmakonzerne machen ja trotzdem hohe Gewinne. Auf der anderen Seite müssen wir die Versorgungssicherheit gewährleisten, damit dieser Konflikt nicht auf dem Rücken derer ausgetragen wird, die auf eine bestimmte Behandlung angewiesen sind. Denkbar wäre, die Hersteller zu verpflichten, eine ausreichende Produktionsmenge vorrätig zu halten, damit sie mehrere Länder beliefern können. Außerdem lohnt sich eventuell ein Blick zu unseren europäischen Nachbarn.
Die aber ebenfalls stöhnen, denn der Medikamentenmangel ist kein rein deutsches Problem. Lieferengpässe haben sich in der EU zwischen 2000 und 2018 verzwanzigfacht. Gehen andere Länder denn besser mit der Krise um?
Es gibt kein Musterland, das alles perfekt macht. Aber jedes Land hat seine eigene Arzneimittelgesetzgebung. Mit dem AMNOG (Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz, nach dem sich jedes neue Medikament einer Kosten-Nutzen-Analyse unterziehen muss; Anm. d. Red.) reguliert Deutschland die Preise der Medikamente anders als etwa Frankreich oder Österreich. Würden wir uns mit unseren europäischen Nachbarn abstimmen, könnten wir auch nicht so leicht gegeneinander ausgespielt werden.
Eine europäische Lösung soll unter anderem das von der EU ins Leben gerufene EU4Health-Programm liefern. Die EU schlägt vor, die Abhängigkeit von Importen von Arzneimitteln und pharmazeutischen Wirkstoffen aus Drittländern zu verringern. Ist das ein erster Ansatz?
»Die Preisschraube wurde hier so weit gedreht, dass nur ein Hersteller an einem einzigen Ort zu prekären Arbeitsbedingungen diesen Wirkstoff für den deutschen Markt produziert«
Absolut. Wir sind ja auch in einer politischen Abhängigkeit von Zuliefererländern. Was ist, wenn bei einer geopolitischen Krise China oder Indien sich eines Tages entscheiden, gar keine Arzneistoffe mehr nach Europa zu exportieren? Es ist im Zweifelsfall einfacher, ein Medikament aus Portugal, Rumänien oder Bulgarien nach Deutschland zu holen als aus einer chinesischen Provinz. Das heißt nicht, dass wir auf Importe aus Indien und China komplett verzichten könnten, denn dafür fehlen Europa die Produktionskapazitäten. Zunächst müssten wir Produktionsstandorte reaktivieren und entsprechend Fachkräfte finden. Das allein wird Jahre dauern und nur einen Teil der benötigten Medikamente abdecken können. Ziel muss es sein, das System auf mehrere Säulen zu verteilen. Wir müssen Transportketten resilienter machen.
In der Corona-Pandemie haben wir eindrucksvoll bewiesen, dass wir in einer vertretbaren Zeit die Impfstoffproduktion hochfahren können. Diesen Schwung müssen wir nutzen, und der bringt uns ja auch in eine gute Verhandlungsposition. Was geschieht, wenn man mit dem Rücken zur Wand steht, sehen wir gerade: Im Jahr 2023 ist ein Allerweltswirkstoff wie Paracetamol knapp. Das ist ein Cent-Artikel. Die Preisschraube wurde hier so weit gedreht, dass nur ein Hersteller an einem einzigen Ort zu prekären Arbeitsbedingungen diesen Wirkstoff für den deutschen Markt produziert. Das ist eine sehr fragile Situation. Daran ist nichts schicksalhaft, das ist ein vermeidbarer Zustand.
Im April 2023 hat das Bundesgesundheitsministerium einen Versorgungsmangel mit antibiotikahaltigen Säften für Kinder in Deutschland erklärt. Nun können die Bundesländer Antibiotika etwa aus dem Ausland importieren sowie abgelaufene oder zurückgehaltene Arzneimittel-Chargen nutzen. Letzteres kann der Fall sein, wenn eine Packungsbeilage nicht aktuell ist, weil zum Beispiel eine neu beobachtete Nebenwirkung nachgetragen werden muss. Wie sicher sind diese Medikamente?
Zunächst einmal macht es einen Unterschied, welcher der Punkte zutrifft. Eine fehlende oder unvollständige Packungsbeilage kann der Hersteller schnell digital nachreichen. Bei abgelaufenen Medikamenten wird es kritischer. Natürlich sind Wirkstoffe nicht einen Tag nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums unbrauchbar. Einige Wirkstoffe kann man bei sachgemäßer Lagerung bedenkenlos auch Monate, manche sogar Jahre später einnehmen, weil die Substanz stabil ist. Andere Wirkstoffe zerfallen mit der Zeit. Man müsste die Arzneien dann höher dosieren, um die gleiche therapeutische Wirkung zu erreichen. Das kann sehr riskant sein. Das müssen Fachleute von Fall zu Fall entscheiden.
Bayern und einige andere Bundesländer kündigten an, Medikamente einzuführen, die in Deutschland nicht zugelassen oder registriert sind. Ist das für Patientinnen und Patienten gefährlich?
In der jetzigen Situation ist es nachvollziehbar, dass manche Bundesländer so reagieren. Was sollen sie auch anderes machen? Wir haben in Deutschland hohe Qualitätsstandards für Medikamente, und das ist auch gut so. Aber nur weil ein Wirkstoff in Deutschland keine Zulassung für eine bestimmte Erkrankung hat, heißt es nicht, dass sein Einsatz riskant ist. Mediziner arbeiten schon lange mit so genanntem Off-Label-Use. Sie setzen Medikamente bei Erkrankungen ein, für die sie bislang nicht zugelassen sind. Auch hier sind es deshalb Einzelfallentscheidungen, die aber unbedingt Fachleute treffen müssen. Unbekannte Wirkstoffe zu verwenden, fordert den verordnenden Ärztinnen und Ärzten zudem viel ab und ist fehleranfälliger, als auf etablierte Wirkstoffe zurückzugreifen.
Vom Mangel ebenfalls betroffen sind wie bereits im vergangenen Jahr Fieber- und Schmerzmedikamente in kindgerechter Darreichungsform. Kinder- und Jugendärzte warnten in einem offenen Brief vor einer Versorgungsnot mit Kinderarzneimitteln. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach versucht, mit einem Gesetz für Medikamentensicherheit gegenzusteuern, das es Herstellern erlaubt, höhere Abgabepreise für Kindermedikamente zu verlangen. Kann dieser Vorstoß die angespannte Liefersituation entlasten?
Das betrifft den dritten Faktor, den ich erläutert habe. Die Fabriken produzieren ja nicht weniger, es gibt keinen globalen Engpass. Sie verkaufen die Arzneistoffe allerdings an Abnehmer, die mehr zahlen. Das kann man kritisieren, aber für den Produzenten ist das betriebswirtschaftlich ein logischer Schritt. Deshalb kann so ein Gesetz schon greifen.
Was wir allerdings auch beobachten, ist, dass die Berichterstattung über diesen nationalen Mangel an bestimmten Medikamenten reflexartige Hamsterkäufe auslöst. Das kennen wir aus der Corona-Pandemie, als auf einmal Nudeln, Hefe und Klopapier in den Supermarktregalen fehlten. Ich kann die Reaktion der Eltern nachvollziehen, die sich in Apotheken mit Fiebersaft eindecken, weil sie gehört haben, dass es bald keinen mehr gibt. Doch es verschärft natürlich erst recht die Lage. Deswegen dürfen wir erst gar nicht in diese Situation kommen, sagen zu müssen, dass diese Medikamente knapp werden.
Wie kann das langfristig gelingen?
Die Digitalisierung und Vernetzung im Gesundheitswesen muss dringend Fahrt aufnehmen. Ich kann mir zwar in einem Wiesbadener Elektronikfachgeschäft sagen lassen, ob mein ausverkauftes Wunschprodukt in Mainz oder Frankfurt vorrätig ist. Wenn aber der Fiebersaft in meiner Hausapotheke fehlt, muss ich zur nächsten fahren und zur nächsten. Digitale Verteilersysteme für Medikamente können helfen.
Zudem müssten Hersteller vertraglich verpflichtet werden, Lieferzusagen einzuhalten. Liefertreue könnte Teil der Preisverhandlungen werden, etwas, was die Gesetzgeber und Behörden mitdenken müssen. Und wir brauchen Medikamentenlager, die notfalls von staatlichen Institutionen überwacht werden. Nur dann haben wir im Notfall Ersatz, wenn eine Lieferkette reißt oder ein Produzent wegbricht.
»Vor allem aber dürfen wir uns nicht an diesen Zustand des Improvisierens gewöhnen«
Außerdem sollte ein Teil der Medikamentenproduktion unbedingt wieder in die EU zurückverlagert werden, auch um geopolitische Abhängigkeiten zu mindern. Das kostet definitiv mehr, aber das ist der Preis für Unabhängigkeit.
Vor allem jedoch dürfen wir uns nicht an diesen Zustand des Improvisierens gewöhnen. Es sind lauter kleine Rettungsaktionen: Einzelne Medikamente werden hektisch aus Rabattverträgen herausgenommen, für andere entfällt die Preisbindung. Damit löschen wir nur einzelne Feuerherde, nicht den Flächenbrand. Der Medikamentenmangel in Deutschland ist ein systemisches Problem, das es schon lange gibt und das jetzt angegangen werden muss. Hier muss sich die Politik an Ergebnissen messen lassen und nicht an Absichtsbekundungen. Das ist ein klarer Auftrag, gegebenenfalls mit Kompromissen. Denn primäres Ziel darf nicht sein, irgendwelche formalen Anforderungen zu erfüllen oder Partikularinteressen zu bedienen. Das Ziel muss sein, die gesamte Bevölkerung zuverlässig mit Medikamenten zu versorgen.
Was sind Rabattverträge?
Krankenkassen können in Deutschland mit einem Arzneimittelhersteller spezielle Rabattverträge für Medikamente aushandeln. Der Hersteller gewährt dann einen Rabatt für ein bestimmtes Medikament oder auch für ein ganzes Sortiment auf den bundeseinheitlichen Apothekenverkaufspreis (AVP). Die Krankenkassen sichern ihrerseits den Pharmaherstellern zu, dass ihre Versicherten im Normalfall nur mit deren Präparaten versorgt werden. Denn Apotheken sind verpflichtet, gegen ein eingereichtes Rezept genau das wirkstoffgleiche Präparat herauszugeben, für das die Krankenkasse des Patienten oder der Patientin einen Rabattvertrag abgeschlossen hat. Versicherte können auch ein anderes als das rabattierte Präparat ihrer Krankenkasse wählen, müssen dann allerdings etwaige Mehrkosten selbst tragen.
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