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Linguistik: Der Mensch ist männlich

Männer sind der Standard, Frauen weichen davon ab – diese Denkweise spiegelt sich in unserem Sprachgebrauch wider. Mit weit reichenden Folgen auch für unser digitales Leben.
Menschenmenge formt männliches Symbol

Eigentlich sollen Begriffe wie »Menschen« oder »Leute« eine breite Masse von Personen einschließen, egal welchen Geschlechts. Dem ist aber nicht so: Eine Auswertung von 630 Milliarden Wörtern hat gezeigt, dass mit dem englischen Begriff für Menschen, »people«, vorrangig Männer gemeint sind. Darüber berichtet das Team um April Bailey von der US-amerikanischen New York University im Fachmagazin »Science Advances«.

Bailey und ihre Kollegen haben verglichen, wie geschlechtsneutrale Begriffe und solche, die Frauen und Männer beschreiben, auf fast drei Milliarden hauptsächlich englischsprachigen Webseiten verwendet wurden. Dazu berechnete ein intelligentes Computerprogramm die »word embeddings«, auf Deutsch Worteinbettungen, von Begriffen wie »Mensch«, »Person«, »Mann« und »Frau«. Worteinbettungen zeigen auf, wie oft und in welchem Zusammenhang einzelne Wörter innerhalb eines Textes auftauchen. Worteinbettungen von synonym verwendeten Begriffen wie »Forscherin« und »Wissenschaftlerin« gleichen sich stark; solche von sehr unterschiedlichen Wörtern wie »Forscherin« und »stattdessen« haben dagegen wenig gemeinsam. Das Verfahren beruht auf der Annahme, dass sich Wörter, die in einem ähnlichen Kontext gebraucht werden, auch inhaltlich ähnlich sind.

Wie die Analyse zeigte, glichen die Worteinbettungen von eigentlich neutralen Begriffen wie »Person« den Einbettungen von »Mann« oder »er« stärker als denen von »Frau« oder »sie«. »Männer« und »Leute« werden also häufiger gleichbedeutend verwendet. In einer weiteren Berechnung fanden Bailey und ihr Team heraus, dass neutrale Begriffe und stereotypisch männliche Verben und Adjektive ebenfalls in einem ähnlichen Kontext auftauchen. Ging es in einem Artikel also ganz allgemein um Personen, wurden diese eher als »arrogant« oder »direkt« beschrieben und weniger als »leichtgläubig« oder »kichernd«.

Dass Begriffe wie »Männer« sprachlich mit »Menschen« fast gleichgestellt werden, lässt Rückschlüsse darüber zu, welche Vorstellung von einem Menschen innerhalb einer Gesellschaft vorherrscht. Wenn sich diese als eher männlich sehe, wirke sich das auf verschiedenste Bereiche des Zusammenlebens wie die Gesundheitsversorgung oder Sicherheitsaspekte aus, erklären die Forscherinnen und Forscher. Nicht männliche Personen könnten dadurch benachteiligt werden. Zugleich werde das Verständnis von der männlichen Norm über die Sprache an Kinder weitergegeben und verfestige sich auch in jüngeren Generationen.

Darüber hinaus hat die voreingenommene Sprache einen weit reichenden Einfluss auf das digitale Leben: Künstliche Intelligenz (KI), wie sie etwa in Smartphones und Computern verwendet wird, erstellt Worteinbettungen, um eine Sprache zu lernen. Die Einbettungen basieren auf von Menschen verfassten Texten. Damit übernimmt die KI das sprachliche Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern. Das zeigte beispielsweise eine Arbeit aus dem Jahr 2019: Intelligente Maschinen übersetzten »the doctor« automatisch mit »der Arzt« – obwohl aus dem Satz »The doctor asked the nurse to help her with the procedure« (auf Deutsch: »Die Ärztin bat die Krankenschwester darum, ihr bei dem Eingriff zu helfen«) sogar hervorging, dass eine Ärztin gemeint war. Damit sich die Benachteiligung von Frauen nicht weiter fortsetze, schließen die Forschenden, müssten die Programme lernen, Worteinbettungen ohne Benachteiligung eines Geschlechts zu berechnen.

© Spektrum der Wissenschaft/Scientific American
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Wie neutral die deutsche Sprache im Vergleich ist, lässt sich anhand der englischsprachigen Studie nur eingeschränkt beurteilen. Vermutlich werden aber auch im Deutschen männliche Begriffe bevorzugt, denn die deutsche Sprache hat ein grammatikalisches Geschlecht und gibt jedem Substantiv einen von drei bestimmten Artikeln. Man spricht von »dem Tisch« oder »der Freundin«, statt wie im Englischen für »the table« und »the friend« denselben Artikel zu benutzen. Je mehr solcher geschlechtsspezifischen Informationen in einer Sprache steckten, desto weniger geschlechtsneutrale Ausdrücke enthalte sie, erklärten die Forschenden. Das wiederum könnte dazu führen, mutmaßen die Wissenschaftler, dass häufiger das generische Maskulinum verwendet wird: Dann ist von einem Arzt oder einem Lehrer die Rede, obwohl das Geschlecht der gemeinten Person unbekannt ist.

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