Krankhafte Fetteinlagerungen: Lipödeme erkennen und behandeln
Die Blicke der anderen, sagt Alexandra Streicher*, seien am schlimmsten gewesen. Nichts sonst habe sie so sehr geschmerzt. Nicht die Tatsache, dass sie ihre Hosen in Konfektionsgröße 46 kaufen musste, während ihr Shirts und Blusen in 40 passten. Nicht dieses Pulsieren, Drücken, Spannen in ihren Oberschenkeln und Waden, an das sie sich irgendwann gewöhnt hatte. Ihr Freund fragte gar nicht mehr, ob sie Schmerzen hatte, sondern nur noch, wie stark sie gerade waren.
»Wenn wir spazieren gegangen sind, las ich in den Gesichtern derjenigen, die uns begegneten, was sie wegen meiner Beine dachten«, erzählt Streicher, die eigentlich anders heißt: »Du bist doch nur zu faul für Sport. Iss halt nicht so viel. Ein bisschen Disziplin würde dir gut tun. Solche Sachen.« Dabei hat Streicher all das jahrelang versucht: Sport getrieben, Diät gehalten, sich selbst kasteit. Mit zunehmender Verzweiflung, denn ihre Beine blieben dick. Schlimmer – sie wurden von Jahr zu Jahr dicker, »schwabbelig fett«, wie die heute 36-Jährige es nennt.
Streicher hat ein Lipödem; bei der Erkrankung ist die Fettverteilung gestört, das Unterhautfettgewebe vermehrt sich stark. So wie insgesamt bei mindestens sieben bis zehn Prozent der Frauen in Deutschland. Immer tritt es an den Beinen auf, in etwa 30 Prozent der Fälle zusätzlich an den Armen, sehr selten am Rumpf. Weil es bei Männern extrem selten ist, kann niemand sagen, wie viele es haben. Es finden sich bislang nur Einzelfallberichte.
Obwohl die Krankheit unter Frauen so verbreitet ist, wird sie erst seit dem Jahr 2017 als eigenständige Erkrankung im ICD-10 gelistet, der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation. »Leider gibt es nach wie vor viele Ärzte, die das Lipödem nicht kennen, für die sind die Frauen einfach dick und sollen versuchen abzunehmen«, sagt der Freiburger Dermatologe Hans Bayer, der sich in seiner Praxis unter anderem auf Lipödeme spezialisiert hat. In der Öffentlichkeit wird das Lipödem erst seit wenigen Jahren bekannter. Vor allem weil sich Betroffene für mehr Sichtbarkeit in der Gesellschaft einsetzen, etwa indem sie Selbsthilfegruppen gründen.
Bayer betont, dass es wichtig sei, ein Bewusstsein für die Krankheit – auf Grund ihrer charakteristischen Ausbreitung auch als Elefantenbeine oder Reiterhosen bezeichnet – zu schaffen. »Eine von zehn Frauen leidet permanent unter Schmerzen und deren Folgen, obwohl wir helfen könnten«, sagt er.
Seit Jahrhunderten ist das Lipödem bekannt
Dass selbst bei vielen Ärzten noch Unkenntnis herrscht, ist eigentlich erstaunlich. Denn das Lipödem gilt als seit Jahrhunderten bekannt. Schon im Tempel der Pharaonin Hatschepsut Maat-ka-Ra in der Nähe des ägyptischen Luxor ist auf einem Relief aus dem 15. Jahrhundert v. Chr. Ati zu sehen, die Königin des mythischen Gotteslandes Punt. Ihr ausladendes Gesäß sowie die an den Armen und Beinen herabhängenden Fettwülste gelten als eindeutige Darstellung. Auch Skulpturen aus diesem und späteren Jahrhunderten zeigen immer wieder Frauen, die oben schlank und in der unteren Körperhälfte doppelt so breit waren.
Im Jahr 1940 ist das Lipödem erstmals in der medizinischen Fachliteratur zu finden. Es wurde aber auch in den Jahren danach nicht als die Volkskrankheit wahrgenommen, die es ist. Noch immer mangelt es an einem Bewusstsein für die Erkrankung.
Die aktuelle Leitlinie zu Diagnose und Behandlung stammt von 2015. Erst seit dem Jahr 2017 ist das Lipödem als eigenständige Krankheit mit dem Code E88.2 im ICD-10 gelistet, der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme.
Lipödem – Erkrankung in drei Stufen
Das Lipödem wird in drei Stadien und verschiedene Schweregrade eingeteilt. Das erste Stadium deutet sich bereits in der Figur an: Die Oberschenkel erscheinen dicker als gewöhnlich, die Fettstruktur ist feinknotig, die Haut aber noch glatt. Im zweiten Stadium zeigen sich auf der Hautoberfläche größere Dellen, das Unterhautfettgewebe ist verdickt. In Stadium drei nehmen die betroffenen Frauen deutlich an Körperumfang zu, das Unterhautfettgewebe verdickt extrem und verhärtet, es bilden sich ausgeprägte, deformierte Fettlappen. Die Schweregrade orientieren sich daran, wie groß die betroffenen Körperpartien sind.
Mehr sichtbares Fett – das führt bei vielen automatisch zur Schlussfolgerung, man sei übergewichtig. Dabei unterscheidet sich das Lipödem von Adipositas, dem krankhaften Übergewicht, in mehreren Punkten. Während sich beim Übergewicht ausschließlich die Fettzellen vermehren, verändert sich bei einem Lipödem das gesamte Fettgewebe. Die Fettzellen vermehren sich und werden fester, im Gewebe lagert sich Wasser ein. Das führt zu einer Druckempfindlichkeit und Schmerzen für die Betroffenen. Außerdem neigen viele an den erkrankten Stellen zu blauen Flecken.
»85 Prozent der Betroffenen erleben ihren ersten Schub während der Pubertät«
Hans Bayer, Dermatologe
Diese Schmerzen haben Übergewichtige ohne Lipödem nicht. Bei ihnen ist die Gewichtszunahme am ganzen Körper zu erkennen. Lipödem-Patienten bekommen das zusätzliche Fett hauptsächlich an den Beinen, während der Oberkörper und die Füße schlank bleiben. Bei den Patientinnen, die auch an den Armen – das Lipödem tritt immer symmetrisch auf – erkranken, bleiben die Hände ebenfalls schlank.
Weil nahezu ausschließlich Frauen am Lipödem erkranken, gehen Mediziner von einer hormonellen Ursache aus. »85 Prozent der Betroffenen erleben ihren ersten Schub während der Pubertät«, sagt Bayer, weitere kommen in Schwangerschaften und der Menopause hinzu. Auch eine genetische Komponente scheint eindeutig: Wenn Großmutter und Mutter erkrankt sind, hat die Tochter es mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls.
Immer wieder kommen junge Frauen in Bayers Praxis, die fünf-, sechsmal die Woche Sport treiben, doch man sieht an ihren Beinen keine Muskeln. Das im Zusammenhang mit dem Schmerz und der Disproportion sowie der Berührungsempfindlichkeit seien einem erfahrenen Arzt Zeichen genug, sagt er.
Ohne Schmerz kein Lipödem
Inzwischen wissen Mediziner: Die krankhaft veränderten Fettzellen entziehen sich nicht nur jedem Diätsignal, sondern produzieren auch entzündliche Botenstoffe, Mediatoren genannt. Betroffene hätten immer eine chronische Entzündung in diesem Gewebe, erklärt Bayer, »und wenn Sie sich jetzt vorstellen, da sitzt eine Patientin und nimmt noch ihr Kind auf den Schoß – klar, dass das zu einem starken Schmerz führt.«
Die entzündliche Komponente werde – wie die genetische und hormonelle – ebenfalls als Ursache für das Lipödem diskutiert, erklärt Klaus Walgenbach vom Lipödem-Zentrum am Universitätsklinikum Bonn. »Weil das in den kleinsten Gefäßen der Venen im Fettgewebe stattfindet, kann es hier zu Abflussstörungen kommen, so dass sich Flüssigkeit staut.«
An die ersten Schmerzen kann sich Alexandra Streicher gut erinnern. Sie war 13 Jahre alt und gehörte mit ihrer besten Freundin zu den fittesten Staffelläuferinnen an ihrer Schule. Die beiden trainierten für einen großen Stadtlauf. Streicher registrierte irgendwie Spannungen und drückende Schmerzen in ihren Beinen, die Sportlehrerin tippte auf Magnesiummangel durch zu viel Training und empfahl Tabletten, um den kurzfristig auszugleichen. Die halfen nichts, doch Streicher kämpfte sich unter Schmerzen durchs Training und Tage später beim Stadtlauf über die Ziellinie. »Das war der Anfang eines jahrzehntelangen Martyriums«, sagt sie.
Während nach und nach ihre Kniescheiben und die klaren Konturen ihrer Beine verschwanden, nahmen die Schmerzen zu. »Jede Diät auf diesem Planeten«, sagt Streicher, habe sie gemacht, und alles, was sie auf Youtube an Übungen für »schlanke und straffe Beine« fand. Nichts half. Kein Arzt wusste Rat. Sie müsse halt abnehmen, war die lapidare Standardantwort. Dann, Streicher war 31 Jahre alt, ging ihr Gynäkologe in Rente und übergab die Praxis an einen jüngeren Kollegen. Der sprach sie bei der ersten Kontrolluntersuchung auf ihre Beine an, ob sie Schmerzen habe. Er diagnostizierte das Lipödem.
Kassen zahlen OP nur in Ausnahmefällen für Stadium-III-Patientinnen
Lipödeme werden anfangs vor allem mit Kompressionsstrumpfhosen und Lymphdrainage therapiert. Dabei wird die im Fettgewebe aufgestaute Flüssigkeit abtransportiert; für die Betroffenen kann das bei regelmäßiger Anwendung die Schmerzen reduzieren. »Auch eine kohlenhydratarme und damit antientzündliche Ernährung und Sport, vor allem solcher im Wasser, spielen eine wichtige Rolle in der Lipödem-Therapie«, sagt Bayer.
Seit gut 20 Jahren wird das Lipödem in Deutschland auch operativ behandelt. Bei der Fettabsaugung, Liposuktion genannt, löst der Arzt das krankhafte Gewebe unter der Haut und saugt es über eine dünne Kanüle ab. »Inzwischen sind diese Methoden so weit verfeinert, dass der Eingriff ambulant geschehen kann«, sagt Bayer. Die Kosten dafür liegen im mittleren vierstelligen Bereich pro Eingriff – nötig sind meist zwei bis drei – und werden von den Krankenkassen nur in Ausnahmefällen für Stadium-III-Erkrankte übernommen.
Der große Vorteil einer Liposuktion: »Was ich entfernt habe, ist und bleibt weg«, sagt Bayer, »das wird an dieser Stelle nicht wiederkommen.« Eine Neigung zur Ansammlung von Flüssigkeit im Gewebe und zu blauen Flecken allerdings werde bleiben, auch die Tendenz zu geschwollenen Beinen, doch all das in deutlich geringerem Ausmaß.
Hilfe und Informationen für Lipödem-Betroffene
- Was ist ein Lipödem? Wie entsteht es? Wie verläuft es? Weiterführende Informationen zur Krankheit bietet unter anderem die Deutsche Gesellschaft für Phlebologie, die federführend an der aktuell geltenden Leitlinie mitgewirkt hat.
- Die aktuelle Leitlinie zur Diagnose und Behandlung eines Lipödems stammt vom 31. Oktober 2015. Weil die letzte Prüfung damit fast sechs Jahre zurückliegt, ist eine Überarbeitung empfohlen.
- Der Verein »Lipödem Hilfe Deutschland« bietet Betroffenen Informationen über Symptome und Diagnose, Therapiemöglichkeiten sowie Tipps, um das täglichen Leben mit der Erkrankung zu erleichtern. Auf der Website finden sich auch Selbsthilfegruppen für Lip- und Lymphödem nach Postleitzahlen sortiert.
- Die Lipödem Gesellschaft hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Bedürfnisse der Betroffenen, der Ärzte und Ärztinnen in einem interdisziplinären Netzwerk zu vertreten. Erklärt ist etwa, wie man eine Selbsthilfegruppe gründen kann.
Die Vor- und Nachteile einer Fettabsaugung werden derzeit in der weltweit ersten Langzeitstudie überhaupt untersucht. Die Hautklinik am Klinikum Darmstadt und das Zentrum für Klinische Studien Köln an der Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln wollen herausfinden, mit welcher Methode die Schmerzen der Patientinnen nach zwölf Monaten erfolgreicher gelindert werden konnten: mit der Liposuktion oder der nicht operativen »komplexen physikalischen Entstauungstherapie«, also Kompression und Lymphdrainage.
Jetzigen Berechnungen zufolge liegen die Kosten für die Krankenkassen für beide Behandlungen gleichauf; womöglich kostet eine Liposuktion sogar weniger als die konservative Therapie. Hinzu kommt laut Klaus Walgenbach, der als plastischer Chirurg arbeitet, dass »die Lymphdrainage zwar immer wieder die Flüssigkeit rausbringt, aber nicht die eigentliche Ursache beseitigt«. Da bei der Absaugung pro Sitzung sieben bis acht Liter Fettgewebe entfernt werden, sei das für die Patientinnen seiner Erfahrung nach sehr befriedigend. Sie bekämen schöne, normale Beine zurück und hätten wieder erkennbare Knie.
Für das Ergebnis ist es wichtig, das krankhafte Gewebe so früh wie möglich zu entfernen, spätestens in Stadium II des Lipödems. Denn dann ist die Haut noch vergleichsweise straff, so dass das Bein nach der Absaugung schnell wieder natürlich aussieht. Sind die Fettlappen bereits sehr groß, muss die Haut nach der Liposuktion häufig noch mit kosmetischen Eingriffen gestrafft werden.
»Die Patientinnen versuchen viel mit Sport, Diäten oder einer Ernährungsumstellung, doch sie können das Lipödem damit nicht in den Griff kriegen«
Klaus Walgenbach, plastischer Chirurg
Ein Lipödem kann die Schilddrüse stören, Gelenke belasten, Essstörungen verursachen
Das Lipödem geht oft mit weiteren Erkrankungen einher. Typisch sind beispielsweise Funktionsstörungen der Schilddrüse sowie ein Lymphödem als Folge der Abflussstörungen. Je nach Schweregrad kann die Zunahme an Volumen und Gewicht die Stellung der Beinachsen verändern und die Gelenke belasten, vor allem Knie- und Hüftgelenke verschleißen so schneller. Die Adipositas, als die das Lipödem gerne fehlgedeutet wird, ist eine häufige Begleiterkrankung. »Das erschwert natürlich die Diagnose, zugleich kann sich Übergewicht negativ auf das Lipödem auswirken, die Beschwerden können dadurch schlimmer werden«, sagt Walgenbach.
Besonders gravierend wirkt sich ein Lipödem auf die Psyche der Betroffenen aus. »Die Patientinnen versuchen viel mit Sport, Diäten oder einer Ernährungsumstellung, doch sie können das Lipödem damit nicht in den Griff kriegen. Das führt zu einer sehr großen Frustration und belastet das Selbstwertgefühl stark«, erklärt Walgenbach. Depressionen, Angsterkrankungen oder Essstörungen sind mögliche Folgen.
Alexandra Streicher hat sich nach der Diagnose recht schnell zu einer Fettabsaugung entschlossen. Ihre »neuen« Beine machten sie selbstbewusster, sagt sie. Vor ihrer ersten Schwangerschaft hatte sie große Sorge, dass das Lipödem durch die Hormonumstellungen einen Schub bekommt und neu wächst – eine Sorge, die ihr auch der Gynäkologe nicht nehmen konnte, zumal über ein mögliches Risiko noch nicht genug bekannt ist. »Aber abgesehen davon, dass ich ab und an mal schwere Beine hatte wie viele andere werdende Mütter, konnte ich meine Schwangerschaft sehr genießen«, sagt Streicher. Im Rückblick hat sie vor allem einen Wunsch: »Dass mir ein Arzt viel früher gesagt hätte, woran ich eigentlich leide. Das hätte mir viele schlimme Stunden erspart.«
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