Rett-Syndrom: Lizenzstreit verhindert Forschung an seltener Krankheit
Der Industrie ist das Rett-Syndrom zu selten für lukrative Forschung, doch bereits entwickelte Mausmodelle muss sie unter Verschluss halten. Unis haben nun das Nachsehen.
Irgendwo im US-Bundesstaat Massachusetts schlummert ein Mausembryo im Eisschrank – so wie in Dutzenden Labors in der Ostküsten-Forschungsmetropole Cambridge. Doch für Etienne Joly ist es kein gewöhnlicher Embryo. Der Immunologe aus Toulouse ist Spezialist für das Rett-Syndrom, eine schwere, unheilbare Krankheit, von der fast ausschließlich junge Mädchen betroffen sind.
Die Maus sei das perfekte Werkzeug, um seine Hypothese zu testen, sagt Joly. Doch das Versuchstier stammt aus den Labors der Novartis Institutes of Biomedical Research in Cambridge und ist damit Tabu für jeden Außenstehenden: Ein Dickicht von Lizenzbestimmungen lässt nur zu, dass Novartis-Forscher das Mausmodell verwenden – doch die haben längst die Arbeit daran eingestellt.
"Den Wissenschaftlern und den Familien der Betroffenen geht es allein um das Recht, diese Krankheit weiter zu erforschen und verstehen zu können", sagt Joly, der nun mit Hilfe einer Briefkampagne auf sein Anliegen aufmerksam macht. "Es macht dich einfach nur wütend, wenn du weißt, dass es das passende Werkzeug bereits gibt, aber dir ein Anwalt sagt: Du kriegst es nicht."
Exemplarischer Fall
Mit seinem Ärger steht Joly nicht alleine da. Wissenschaftler und Patentrechtsexperten halten den Fall für exemplarisch: Immer wieder verhindern undurchsichtige und restriktive Lizenzgesetze den wissenschaftlichen Fortschritt, weil wichtige Materialien nicht weitergegeben werden dürfen.
Mädchen, die am Rett-Syndrom leiden, kommen als gesunde Säuglinge auf die Welt, verlieren dann aber immer mehr die Fähigkeit normal zu sprechen, sich zu bewegen, zu essen und zu atmen. Weil die Krankheit so selten ist – sie betrifft nur eines unter 10 000 oder gar 20 000 Mädchen – haben Pharmafirmen wenig Interesse daran. Öffentliche Forschungsstellen haben daher die Erforschung der Krankheit vorangetrieben. Mit zuletzt halsbrecherischer Geschwindigkeit: Im Jahr 1992 wurde eine Mutation im Gen MECP2 als Ursache erkannt, mittlerweile stehen erste klinische Tests möglicher Therapien an.
Lizenz zum Leuchten
2008 wurde er auf die Arbeit der Novartis-Biologin Cecile Blaustein und ihrer Gruppe aufmerksam. Sie hatten an das MECP2-Gen der Maus einen DNA-Abschnitt geheftet, mit dem die Zelle das grün leuchtende Enhanced fluorescent green protein (EGFP) herstellen kann [1]. Sobald nun im Körper oder Gehirn das MECP2 aktiv wird, färben sich die Zellen ein.
Aber selbst nach drei Jahren intensivster Bemühungen haben weder Joly noch Kollegen anderer Institute Zugang zum Mausmodell erhalten. Zwar wäre Blaustein nach eigenen Angaben nur zu gerne den Anfragen nachgekommen, sah sich jedoch dazu außer Stande: Novartis hat EGFP seinerseits von GE Healthcare lizensiert, allerdings unter Bedingungen, die nun einer Weitergabe im Wege stehen.
In Verhandlungen mit GE Healthcare sei man zu keiner Übereinkunft gelangt, unter der man die Mäuse hätte legal weitergeben können, erläutert der Sprecher der Novartis Institutes of Biomedical Research, Jeff Lockwood. Dass seine Firma die Forschung an den Mäusen bereits eingestellt hat, mache keinen Unterschied.
Zu viele Auflagen
Monica Coenraads, die Geschäftsführerin des Rett Syndrome Research Trust, einer gemeinnützigen Gesellschaft zur Förderung der Forschung am Rett-Syndrom, startete daraufhin einen neuerlichen Vermittlungsversuch zwischen Novartis und GE Healthcare. Im Ergebnis wandten sich beide Unternehmen an die National Institutes of Health (NIH) in Bethesda, Maryland. Die US-Behörde könnte die Mäuse über ihre Mutant Mouse Regional Ressource Centers weiterverteilen, so der Plan.
Doch wie Lili Portilla, eine Beraterin der NIH National Center for Research Ressources, die das Maus-Verteilungszentrum finanziert, erläutert, habe GE die Weitergabe an derart rigide Vertragsbedingungen knüpfen wollen, dass ihre Einrichtung schließlich aufgab. Eine Einschränkung wäre beispielsweise gewesen, dass Wissenschaftler ihre Forschungsergebnisse den NIH nicht zugänglich hätten machen dürfen, so Portilla.
GE-Sprecher Conor McKechnie wiederum verweist auf die "Drittfirmen", von denen sein Unternehmen die Rechte für das EGFP ursprünglich erhalten habe. Sie seien für die Schwierigkeiten bei der Lizenzierung verantwortlich – eine Behauptung, die David Einhorn, Anwalt am Jackson Laboratory in Bar Harbor, Maine, in Zweifel zieht. Immer wieder würden Mausmodelle mit EGFP-Gen entwickelt und ausgetauscht, ohne dass GE oder die Institute, die den Farbstoff ursprünglich entwickelt und patentiert hatten, Einspruch erhoben hätten, so der Jurist, der sein Unternehmen bei der weltweiten Verteilung von Versuchsmäusen in Patentrechtsfragen berät.
Trend zur Zurückhaltung
Probleme bei der gemeinschaftlichen Nutzung von Materialien oder Versuchstieren gibt es nicht erst seit gestern. Doch in letzter Zeit scheint sich das Problem verschlimmert zu haben. Eine Studie aus dem Jahr 2007 ergab beispielsweise, dass Forschungsinstitute, die Kollegen um die Aushändigung von Materialien baten, in 18 Prozent der Fälle eine Absage erhielten – rund doppelt so häufig, wie noch Mitte der Neunziger Jahre. Anfragen öffentlicher Einrichtung an die Industrie wurden in einem Drittel aller Fälle abschlägig beschieden [2].
"Jede Minute zählt"
Da sich immer noch keine Lösung im Streit um die Rett-Maus abzeichnet, haben sich einige Labors darauf verlegt, das Mausmodell noch einmal neu zu entwickeln. Laut Adrian Bird, dem Direktor des Wellcome Trust Centre for Cell Biology an der University of Edinburgh, werde sein Institut eigene genetisch veränderte Tiere über Repositorien wie das Jackson Laboratory weiterverteilen, sobald seine Zucht die nötige Anzahl an Individuen erreicht habe.
Wie seine Kollegen bedauert auch Bird, dass viele Forschungsprojekte am Rett-Syndrom zurückgestellt wurden und dazu noch Geld in ein Mausmodell gesteckt werden musste, das eigentlich schon lange erhältlich gewesen wäre.
"Fragen Sie die Familien, deren Angehörige von der Krankheit betroffen sind. Sie werden Ihnen sagen: Jede Minute zählt", sagt Bird.
Die Maus sei das perfekte Werkzeug, um seine Hypothese zu testen, sagt Joly. Doch das Versuchstier stammt aus den Labors der Novartis Institutes of Biomedical Research in Cambridge und ist damit Tabu für jeden Außenstehenden: Ein Dickicht von Lizenzbestimmungen lässt nur zu, dass Novartis-Forscher das Mausmodell verwenden – doch die haben längst die Arbeit daran eingestellt.
"Den Wissenschaftlern und den Familien der Betroffenen geht es allein um das Recht, diese Krankheit weiter zu erforschen und verstehen zu können", sagt Joly, der nun mit Hilfe einer Briefkampagne auf sein Anliegen aufmerksam macht. "Es macht dich einfach nur wütend, wenn du weißt, dass es das passende Werkzeug bereits gibt, aber dir ein Anwalt sagt: Du kriegst es nicht."
Exemplarischer Fall
Mit seinem Ärger steht Joly nicht alleine da. Wissenschaftler und Patentrechtsexperten halten den Fall für exemplarisch: Immer wieder verhindern undurchsichtige und restriktive Lizenzgesetze den wissenschaftlichen Fortschritt, weil wichtige Materialien nicht weitergegeben werden dürfen.
Mädchen, die am Rett-Syndrom leiden, kommen als gesunde Säuglinge auf die Welt, verlieren dann aber immer mehr die Fähigkeit normal zu sprechen, sich zu bewegen, zu essen und zu atmen. Weil die Krankheit so selten ist – sie betrifft nur eines unter 10 000 oder gar 20 000 Mädchen – haben Pharmafirmen wenig Interesse daran. Öffentliche Forschungsstellen haben daher die Erforschung der Krankheit vorangetrieben. Mit zuletzt halsbrecherischer Geschwindigkeit: Im Jahr 1992 wurde eine Mutation im Gen MECP2 als Ursache erkannt, mittlerweile stehen erste klinische Tests möglicher Therapien an.
Noch aber weiß niemand, wie der Gendefekt überhaupt die Krankheit auslöst. Vor ein paar Jahren sei ihm die "eher unkonventionelle" Idee gekommen, erklärt Joly, dass das Gen bei der Regulation der Immunantwort im zentralen Nervensystem eine Rolle spielen könnte. Um das eingehender untersuchen zu können, benötigt der Forscher vom Institut de Pharmacologie et de Biologie Structurale ein Tiermodell, mit dem er nachvollziehen kann, wo und wann das Gen abgelesen wird.
Lizenz zum Leuchten
2008 wurde er auf die Arbeit der Novartis-Biologin Cecile Blaustein und ihrer Gruppe aufmerksam. Sie hatten an das MECP2-Gen der Maus einen DNA-Abschnitt geheftet, mit dem die Zelle das grün leuchtende Enhanced fluorescent green protein (EGFP) herstellen kann [1]. Sobald nun im Körper oder Gehirn das MECP2 aktiv wird, färben sich die Zellen ein.
Aber selbst nach drei Jahren intensivster Bemühungen haben weder Joly noch Kollegen anderer Institute Zugang zum Mausmodell erhalten. Zwar wäre Blaustein nach eigenen Angaben nur zu gerne den Anfragen nachgekommen, sah sich jedoch dazu außer Stande: Novartis hat EGFP seinerseits von GE Healthcare lizensiert, allerdings unter Bedingungen, die nun einer Weitergabe im Wege stehen.
In Verhandlungen mit GE Healthcare sei man zu keiner Übereinkunft gelangt, unter der man die Mäuse hätte legal weitergeben können, erläutert der Sprecher der Novartis Institutes of Biomedical Research, Jeff Lockwood. Dass seine Firma die Forschung an den Mäusen bereits eingestellt hat, mache keinen Unterschied.
Zu viele Auflagen
Monica Coenraads, die Geschäftsführerin des Rett Syndrome Research Trust, einer gemeinnützigen Gesellschaft zur Förderung der Forschung am Rett-Syndrom, startete daraufhin einen neuerlichen Vermittlungsversuch zwischen Novartis und GE Healthcare. Im Ergebnis wandten sich beide Unternehmen an die National Institutes of Health (NIH) in Bethesda, Maryland. Die US-Behörde könnte die Mäuse über ihre Mutant Mouse Regional Ressource Centers weiterverteilen, so der Plan.
Doch wie Lili Portilla, eine Beraterin der NIH National Center for Research Ressources, die das Maus-Verteilungszentrum finanziert, erläutert, habe GE die Weitergabe an derart rigide Vertragsbedingungen knüpfen wollen, dass ihre Einrichtung schließlich aufgab. Eine Einschränkung wäre beispielsweise gewesen, dass Wissenschaftler ihre Forschungsergebnisse den NIH nicht zugänglich hätten machen dürfen, so Portilla.
GE-Sprecher Conor McKechnie wiederum verweist auf die "Drittfirmen", von denen sein Unternehmen die Rechte für das EGFP ursprünglich erhalten habe. Sie seien für die Schwierigkeiten bei der Lizenzierung verantwortlich – eine Behauptung, die David Einhorn, Anwalt am Jackson Laboratory in Bar Harbor, Maine, in Zweifel zieht. Immer wieder würden Mausmodelle mit EGFP-Gen entwickelt und ausgetauscht, ohne dass GE oder die Institute, die den Farbstoff ursprünglich entwickelt und patentiert hatten, Einspruch erhoben hätten, so der Jurist, der sein Unternehmen bei der weltweiten Verteilung von Versuchsmäusen in Patentrechtsfragen berät.
Trend zur Zurückhaltung
Probleme bei der gemeinschaftlichen Nutzung von Materialien oder Versuchstieren gibt es nicht erst seit gestern. Doch in letzter Zeit scheint sich das Problem verschlimmert zu haben. Eine Studie aus dem Jahr 2007 ergab beispielsweise, dass Forschungsinstitute, die Kollegen um die Aushändigung von Materialien baten, in 18 Prozent der Fälle eine Absage erhielten – rund doppelt so häufig, wie noch Mitte der Neunziger Jahre. Anfragen öffentlicher Einrichtung an die Industrie wurden in einem Drittel aller Fälle abschlägig beschieden [2].
Wenn Unternehmen ihre Ressourcen nicht mit anderen teilen wollen, würden sie im Allgemeinen auch auf eine Veröffentlichung verzichten, meint die Anwältin Tania Bubela von der University of Alberta School of Public Health im kanadischen Edmonton. Wo doch veröffentlicht werde, ändere sich der Sachverhalt: "Mit einer Publikation geht die Verpflichtung einher, Daten und Reagenzien zugänglich zu machen, so dass andere die Ergebnisse replizieren können."
"Jede Minute zählt"
Da sich immer noch keine Lösung im Streit um die Rett-Maus abzeichnet, haben sich einige Labors darauf verlegt, das Mausmodell noch einmal neu zu entwickeln. Laut Adrian Bird, dem Direktor des Wellcome Trust Centre for Cell Biology an der University of Edinburgh, werde sein Institut eigene genetisch veränderte Tiere über Repositorien wie das Jackson Laboratory weiterverteilen, sobald seine Zucht die nötige Anzahl an Individuen erreicht habe.
Wie seine Kollegen bedauert auch Bird, dass viele Forschungsprojekte am Rett-Syndrom zurückgestellt wurden und dazu noch Geld in ein Mausmodell gesteckt werden musste, das eigentlich schon lange erhältlich gewesen wäre.
"Fragen Sie die Familien, deren Angehörige von der Krankheit betroffen sind. Sie werden Ihnen sagen: Jede Minute zählt", sagt Bird.
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