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Logik: Der diskrete Charme der Paradoxie

Wenn aus anscheinend wahren Prämissen offenbar falsche Schlüsse folgen, spricht man von einem Paradox. Laut Philosophen können wir aus solchen gedanklichen Sackgassen einiges lernen. Ein Gastbeitrag.
Mann steht auf Penrose-Dreieck vor grauem Hintergrund
Nicht nur Sätze, auch geometrische Formen können uns leicht auf den Holzweg führen.

Einst sprach mich eine Frau an, die ein Problem mit ihrem Ehemann hatte. Wie die meisten Menschen, die einander das Jawort geben, hatte sie ihm ewige Treue versprochen. Doch nun beschlichen sie Zweifel: Ihr schien der Mann, den sie geheiratet hatte, einfach nicht mehr derselbe zu sein wie heute. Er trug noch immer den gleichen Namen, hatte den gleichen Beruf, die gleichen Erinnerungen und Fähigkeiten. Aber im Lauf der Zeit, so glaubte sie, war er Stück um Stück ein anderer Mensch geworden.

Die Frau hatte mich nicht angesprochen, weil ich in Herzensfragen besondere Expertise besitze, sondern weil ich einen Vortrag über unseren Umgang mit Paradoxien gehalten hatte. Solche Rätsel verblüffen Menschen schon seit Jahrhunderten. Sie zwingen uns zudem, einige subtile Unschärfen des Denkens und der Sprache in den Blick zu nehmen – etwa wenn wir uns fragen, was es genau heißt, jemand sei dieselbe Person wie früher. Denn das hängt stark davon ab, woran wir so etwas wie Identität festmachen.

Ich hatte der Frau keine einfachen Antworten zu bieten. Zunächst wies ich darauf hin, dass auch sie selbst sich vermutlich ziemlich von der Person unterschied, die sie in ihrer Jugend gewesen war. Zudem betonte ich, dass unsere Intuition an so komplexen Konzepten wie Identität oftmals scheitert.

Über Paradoxien nachzudenken, lässt uns oft scheinbar selbstverständliche Annahmen des so genannten gesunden Menschenverstands hinterfragen oder notfalls sogar über Bord werfen. Und das betrifft unterschiedliche Probleme von den Grundlagen der Logik und Mathematik über den Umgang mit sozialen Medien bis hin zu dem Versuch, klimagerecht und nachhaltig zu leben. Mit Hilfe von Paradoxien konnten Denker bereits viele Schlüsselideen genauer fassen und zu neuen Erkenntnissen gelangen. Heute gewinnt dabei eine Herangehensweise an Bedeutung, die gewisse intuitive Annahmen über die Welt auf Plausibilität prüft.

Doch versuchen wir uns zunächst an einer Definition des Phänomens. Paradoxien, so könnte man sagen, sind Kombinationen aus einander ausschließenden, inkonsistenten Aussagen, die auf den ersten Blick allesamt wahr erscheinen. Nehmen wir eines der ältesten und bekanntesten Rätsel dieser Art – das von dem griechischen Philosophen Zenon von Elea (um 490–430 v. Chr.) stammende Paradox der Teilstrecken. Stellen Sie sich jemanden vor, der von A nach B gelangen will. Um B zu erreichen, muss er zunächst die erste Hälfte der Strecke zurücklegen, und das wird eine gewisse Zeit dauern. Von dem dann erreichten Punkt aus muss er abermals erst die Hälfte der verbliebenen Strecke bewältigen, was wiederum eine Weile dauert, wenngleich nicht so lange wie zuvor.

Zenon trieb die Halbierung der verbleibenden Teilstrecken immer weiter, so dass es letztlich zwingend logisch erschien, dass niemand je am Ziel B ankommen könnte. Schließlich liegt stets noch eine Hälfte der Restdistanz vor ihm. Die Schlussfolgerung, man könne ewig laufen und käme doch niemals an, ist jedoch offensichtlich falsch.

Wenn wir solchen Paradoxien begegnen, ist uns meist auf Anhieb klar, dass hier etwas nicht stimmt. Derartige Widersprüche sollte es nicht geben, und wir sind bestrebt, sie zu lösen, indem wir die zu Grunde liegenden Denkfehler aufdecken. So haben Mathematiker in der Nachfolge Zenons beispielsweise gezeigt, dass sich jede Distanz in eine infinite (unendliche) Zahl von Teilstrecken zerlegen lässt, die in der Summe dennoch wiederum eine finite Gesamtheit ergeben. Den meisten von uns erscheint das kontraintuitiv – doch das zeigt letztlich nur, dass auf den so genannten gesunden Menschenverstand eben nicht immer Verlass ist.

In meiner Forschung habe ich eine Reihe von Strategien beschrieben, mit deren Hilfe sich Paradoxien auflösen lassen. Dazu zählt wie im Beispiel von Zenons Paradox die »Ausreißer-Technik«: Dabei zeigt man, dass mindestens eine der zunächst plausibel erscheinenden Prämissen – etwa die der unendlichen Menge an Teilstrecken – in Wahrheit unhaltbar ist. Manche anderen Paradoxien sind so allerdings nur schwer »wegzuerklären«.

Für diese Fälle schlage ich eine Art Umleitung vor, die zwar anerkennt, dass das gegebene Paradox nicht auf Basis seiner Prämissen widerlegbar ist, gleichwohl aber eine neue Sicht auf gewisse Annahmen über die Realität notwendig macht. Paradoxien verraten uns somit etwas über die tiefer liegenden Gründe und Abgründe unseres Denkens.

So entwickelte ich vor einigen Jahren eine Analysemethode, in deren Zentrum die Idee der »subjektiven Wahrscheinlichkeit« steht. Damit bezeichne ich einfach den Grad der Überzeugung, mit der eine rationale Person eine bestimmte Aussage glaubt. Der Satz »zwei plus zwei ist vier« besitzt demnach sehr große subjektive Wahrscheinlichkeit. Erscheint ihr Wahrheitsgehalt absolut sicher, liegt sie bei einem Wert von 1. Einem nur relativ wahrscheinlichen Satz wie »Der Zug hat Verspätung« würde ich etwa bei 0,75 ansiedeln, und »Beim nächsten Münzwurf erscheint eine Zahl« bei 0,5. »Zwei plus zwei ergibt sieben« läge dagegen bei 0. Die subjektiven Wahrscheinlichkeiten einer Aussage können von Mensch zu Mensch durchaus variieren, liegen erfahrungsgemäß aber meist nah beieinander.

Paradoxien lassen sich nun in eine Reihe unterscheidbarer Annahmen sowie daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen zerlegen, denen man unterschiedliche subjektive Wahrscheinlichkeiten zuweisen kann. Nehmen wir als Beispiel das bekannte Lügenparadox, das in der einfachsten Version schlicht so lautet: »Dieser Satz ist falsch.«

Wäre der Satz richtig, müsste er zugleich falsch sein – und umgekehrt. Da es sich um die simple Feststellung eines Sachverhalts handelt, der entweder wahr oder falsch sein muss, kommen wir nicht umhin, beide Grundannahmen für richtig zu halten.

Die logische Struktur lautet folglich:

A: Ist der Satz wahr, so ist er falsch. (1,0)
B: Ist der Satz falsch, so ist er wahr. (1,0)
Schlussfolgerung: Der Satz ist weder wahr noch falsch. (0,9)

Die subjektive Wahrscheinlichkeit beider Prämissen ist hoch, und doch erscheint die Schlussfolgerung weniger überzeugend. Wie viel weniger, lässt sich nicht exakt beziffern, meiner Einschätzung nach ist es jedoch kaum plausibel, den Wahrheitsgehalt des betreffenden Satzes klar zu bejahen oder zu verneinen, daher der Wert von 0,9. Je größer die Differenz der subjektiven Wahrscheinlichkeiten zwischen den Prämissen und der abgeleiteten Schlussfolgerung, desto stärker wirkt das Paradox.

Eine mögliche Lösung besteht nun darin, die subjektiven Wahrscheinlichkeit der Prämissen zu hinterfragen. Denn womöglich stimmt damit etwas nicht. Wie der polnisch-amerikanische Philosoph Alfred Tarski (1901–1983) betonte, besitzen natürliche Sprachen die Eigenart, dass sie nicht zwischen dem Bezeichnen von Tatsachen (»das Buch liegt auf dem Tisch«) und dem selbstreferenziellen Bezug auf sprachliche Inhalte (»der Satz über das Buch ist wahr«) unterscheiden. Tarski hielt das für kein besonders großes Problem in unserem Alltag, glaubte aber, es könne Verwirrung stiften, sobald man Aussagen über die Struktur der Sprache selbst treffen will. Er hielt es für angebracht, dann auf eine stärker formalisierte Sprache wie die Mathematik zurückzugreifen.

Annahmen und Schlüssen kann man unterschiedliche subjektive Wahrscheinlichkeit zuweisen

So abstrakt das klingen mag, es lehrt uns zwei Dinge: Erstens sollten wir unsere gewohnte Logik nicht auf selbstreferenzielle Sätze anwenden. Und zweitens scheint die klassische Gegenüberstellung von wahr und falsch fraglich zu sein (siehe »Wahr und falsch zugleich? Die (Un)Logik der Dialektik«).

Paradoxien sind längst nicht immer angestaubte Logikrätsel, sondern können ganz praktische Konsequenzen für unser Leben haben. Nehmen wir etwa Jevons’ Paradox, benannt nach dem Ökonomen William Stanley Jevons (1835–1882). Es besagt, dass die zunehmende Effizienz von Maschinen paradoxerweise zu steigendem Energieverbrauch führt. Die Logik dahinter sieht wie folgt aus:

A: Effizientere Nutzung von Treibstoff senkt den Verbrauch bei gleicher Leistung.
B: Eine Maschine, die gleiche Leistung mit weniger Treibstoff erbringt, wird häufiger genutzt.
C: Die vermehrte Nutzung lässt den Treibstoffverbrauch ansteigen.
Schlussfolgerung: Effizientere Maschinen lassen den Treibstoffverbrauch ansteigen.

Dieser Schluss erscheint überraschend, aber sicherlich weniger gewagt als das Lügenparadox. Es ist sogar möglich, die subjektive Wahrscheinlichkeit des Schlusses noch weiter zu erhöhen, indem man ein analoges Beispiel anführt: Denken wir etwa daran, dass ein schnellerer Internetzugang die Dauer der Onlinenutzung nicht etwa senkt, wie man erwarten könnte, da die Erledigung derselben Aufgaben nun weniger Zeit beansprucht. Vielmehr eröffnet ein Highspeed-Netz neue Möglichkeiten, die die Verweildauer letztlich erhöhen. Offenbar pflanzen sich Änderungen in einem Teil eines Systems nicht immer gradlinig und gleichgerichtet im ganzen System fort.

Wahr und falsch zugleich? Die (Un)Logik der Dialektik

Es erscheint uns selbstverständlich, dass eine Aussage nur entweder wahr oder falsch sein kann. Schon der griechische Philosoph Aristoteles bezeichnete das im 4. Jahrhundert v. Chr. als »das sicherste aller Prinzipien«. Aber ist es das wirklich? Zumindest einige Philosophen gehen davon aus, dass bestimmte Annahmen wahr und falsch zugleich sein können, was man als Dialektik bezeichnet. Diese Sichtweise findet teils auch Anhänger unter Logikern, die versuchen, Paradoxien zu entwirren. Was also ist von jener höchst kontraintuitiven Annahme zu halten?

Ein offenkundiges Problem der Dialektik besteht darin, dass sie vielerlei Aussagen zulässt, die einander widersprechen oder ausschließen – was zu einer explosionsartigen Vermehrung wahrer Sätze führt. Wenn es akzeptabel wäre zu sagen, dass es regnet und zugleich nicht regnet, dann scheint das Fundament vieler unserer Überzeugungen und Handlungen zu erodieren.

Denn üblicherweise dient uns das Aufzeigen von Widersprüchen dazu, Aussagen zu widerlegen. Nehmen wir einen Satz wie »Alice ist schwanger« und nennen ihn A. Aus dialektischer Sicht könnte es den Fall geben, dass A und zugleich Nicht-A wahr sind. Konstruieren wir nun eine logische Verknüpfung zwischen zwei Aussagen A und B, wobei A der Satz über Alice ist und B eine andere beliebige Aussage (zum Beispiel »Es regnet«). Dann können wir sicher sagen, dass A oder B wahr sind, da wir bereits wissen, dass A gilt.

Wenn aber A oder B wahr sind und zugleich Nicht-A wahr ist (wie es die Dialektik besagt), so würde daraus folgen, dass B ebenso wahr ist! Wieso? Weil gemäß dem Gesetz des disjunktiven Syllogismus (auch Modus tollendo ponens genannt) unter der Prämisse »A oder B ist wahr« sowie Nicht-A ebenfalls gilt, zwangsläufig B wahr sein muss. Das bedeutet nichts anderes, als dass wir jedes Paar gegensätzlicher Aussagen dazu benutzen können, um eine völlig andere, zufällige Behauptung zu beweisen.

Erklärten wir wiederum den disjunktiven Syllogismus für ungültig, so beraubten wir uns eines wichtigen Werkzeugs, um wahre von falschen Sätzen zu unterscheiden. Laut Kritikern führt eine konsequent dialektische Sichtweise daher zu einem kaum wünschenswerten »Anything goes« – schlichtweg alles kann dann wahr und falsch zugleich sein.

Sinnvoller scheint es, lediglich selbstreferenzielle Aussagen wie das Lügenparadox von der eindeutigen Zuordnung »wahr« oder »falsch« auszuklammern. Statt in Beliebigkeit abzugleiten, hätten wir es dann lediglich mit Sonderfällen zu tun, bei denen uns die rekursive Verwendung sprachlicher Zeichen aufs Glatteis führt.

Jevons’ Paradox ist heute, im Zeitalter der Dekarbonisierung, bedeutsamer denn je. Denn mit der steigenden Effizienz einer Technologie wird diese womöglich umso intensiver genutzt, was einen solchen Reboundeffekt auslösen kann. Dessen müssen wir uns bewusst sein, wenn wir CO2-Emissionen wirklich reduzieren wollen. Neben technologischen Fortschritten sind daher ökonomische Anreize notwendig, etwa durch Besteuerung klimaschädigenden Verhaltens.

Ein weiteres drängendes Problem ergibt sich aus dem Paradox der Toleranz, das unter anderem der Wissenschaftstheoretiker Karl Popper (1902–1994) in seinem Buch »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« 1945 formulierte. Es beginnt mit der vermeintlich harmlosen Forderung, Toleranz müsse sich auf alle denkbaren Ansichten erstrecken – doch schon hier beginnen die Probleme.

A: Eine tolerante Gesellschaft muss den Ausdruck aller möglichen Ansichten erlauben.
B: Intolerante Ansichten sind Ansichten.
C: Eine tolerante Gesellschaft muss auch den Ausdruck intoleranter Ansichten ermöglichen.
D: Intolerante Ansichten auszudrücken, fördert Intoleranz, sei es in Gedanken oder im Handeln.
Schlussfolgerung: Um wirklich tolerant zu sein, muss eine Gesellschaft Intoleranz schaffen.

Selbst bei Anwendung der Methode subjektiver Wahrscheinlichkeit bleibt dies ein kniffliger Fall, denn offenbar können wir die Plausibilität der Prämissen nicht so einfach verringern. Wir müssen folglich unseren intuitiven Begriff der Intoleranz auf einer höheren Ebene in Frage stellen. Wir könnten – analog zu Tarskis Analyse des Lügenparadoxons – etwa dafür plädieren, dass Toleranz auf zwei verschiedene Weisen operiert: auf der der individuellen Überzeugungen einerseits und andererseits gemäß einem übergeordneten Prinzip, das selbst die Toleranz gegenüber Intoleranz einschließt.

Das Einzige, was unter einer solchen Metaprämisse nicht toleriert werden könnte, wären Forderungen, die der Toleranz selbst die Grundlage entziehen. Eine Aussage wie »Alle X sind böse« wäre demnach zwar eine intolerante Ansicht, aber zugleich eine, die in einem System der Toleranz Platz hätte, ohne dass es paradox erscheint. Anders bei »Kein X darf das Recht haben, seine Ansichten zu äußern« – diese Annahme verstößt nämlich gegen das übergeordnete Gebot der Toleranz.

Die Probleme, die solche Abwägungen aufwerfen, beobachten wir täglich in den sozialen Medien, deren Betreiber sich meist schwertun, die Verbreitung intoleranter Ansichten wie Rassismus, Sexismus oder Xenophobie zu unterbinden. Viele Plattformen waren in der Vergangenheit zögerlich, wenn es darum ging, Fehlinformationen, Verschwörungsmythen oder Hass von ihren Seiten zu verbannen. Ein genauerer Blick auf das Paradox der Toleranz zeigt, dass dies einerseits verständlich ist; andererseits braucht Toleranz Grenzen. Sobald die Äußerung bestimmter Ansichten die Äußerungsmöglichkeit anderer Ansichten einschränkt, verlassen sie den Boden des Toleranzgebots.

Paradoxien zu erkennen und vernünftig zu durchdenken, hilft uns, die Welt besser zu verstehen. Die Notwendigkeit, dabei eigene spontane Intuitionen anzuzweifeln, löst zwar bisweilen Unbehagen und Angst aus. Das eine oder andere Paradox kritisch zu hinterfragen, birgt aber auch eine große Chance: Es könnte einen anderen Menschen aus Ihnen machen.

  • Quellen

LITERATURTIPP

Cuonzo, M.: Paradoxien. Basiswissen Wissenschaft und Philosophie, Bd. 1. Berlin University Press 2015Viele spannende Logikrätsel und wie man sie lösen kann

QUELLEN

Cuonzo, M.: How to solve paradoxes: A taxonomy and analysis of solution-types. Cogency 1, 2009

Popper, K.: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Mohr Siebeck, 8. Auflage 2003

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