Entwicklung des Menschen: Lucy kletterte noch auf Bäume
Vor rund drei bis vier Millionen Jahren bevölkerten die Vertreter der Art Australopithecus afarensis den Osten Afrikas. Obwohl die frühen Menschen noch viele affenähnliche Merkmale besaßen, deuten Skelettfunde eindeutig darauf hin, dass sie sich bereits sicher auf zwei Beinen bewegen konnten. Umstritten ist unter Anthropologen allerdings, ob es auch noch zur Überlebensstrategie von A. afarensis gehörte, auf Bäume zu klettern. Die Antwort auf diese Frage glauben nun, zwei US-amerikanische Forscher gefunden zu haben. Erstmals konnten sie vollständig erhaltene Schulterblätter des Kinderskeletts "Selam" präparieren und feststellen: Der Körperbau der Vormenschen war noch an das Klettern angepasst.
Schon häufiger versuchten Forscher dem Rätsel um A. afarensis durch die Analyse der Schulterblattanatomie auf die Spur zu kommen. Diese ist ausschlaggebend für die Bewegungen, die Menschen und Affen mit ihren Armen besonders gut ausführen können. Da Schulterblätter allerdings hauchdünn sind, überstehen sie die Jahrmillionen meist nicht unbeschadet, so dass bis vor Kurzem lediglich Fragmente vorlagen, wie etwa im Fall des berühmten A.-afarensis-Fossils "Lucy".
Anhand solcher Überreste konnten Forscher zwar bereits feststellen, dass die Schulterpartie der Frühmenschen affenähnlich aufgebaut war – die Gelenkpfanne war wie beim Affen nach oben ausgerichtet, während sie beim modernen Menschen zur Seite zeigt, und die so genannte Schulterblattgräte, die knöcherne Wölbung quer über dem Schulterblatt, verlief schräg nach unten und nicht horizontal. Ob das allerdings schon darauf hindeutet, dass A. afarensis ein hervorragender Kletterer war, blieb unter Forschern umstritten. Kritiker führten etwa an, es handle sich lediglich um eine Anpassung an die geringe Körpergröße.
Diese Streitfrage lässt sich nun möglicherweise mit "Selam" endgültig klären. Bei dem Skelett mit dem wissenschaftlichen Namen DIK-1-1 handelt es sich um die Überreste eines dreijährigen A.-afarensis-Mädchens, das sich vor zwölf Jahren in der Region Dikika in Äthiopien fand. Das rund 3,3 Millionen Jahre alte Skelett gilt bis heute als das vollständigste Fossil dieser Vormenschenart, an dem auch die Schulterblätter vollständig erhalten sind.
Allerdings mussten diese zunächst mühsam und langwierig aus dem Sandstein präpariert werden, in den das gesamte Skelett eingeschlossen war. Anschließend untersuchten David Green von der Midwestern University und Zeresenay Alemseged von der California Academy of Science die fossilen Knochen und kamen zu dem Schluss, dass bei dem Kind schon Gelenkpfanne und Schulterblattgräte genauso orientiert waren wie beim Affen und erwachsenen A. afarensis – und das ist ungewöhnlich. Denn: Beim modernen Menschen verändert sich die Ausrichtung dieser beiden Merkmale während des Wachstums deutlich.
Laut Green und Zeresenay ist demnach ausgeschlossen, dass die Orientierung der Schulterpartie von A. afarensis durch eine bloße Anpassung an eine geringe Körpergröße zu Stande kam. Vielmehr deutet alles darauf hin, dass die Vormenschen an das Klettern angepasst waren – ähnlich wie Gorillas, die ebenfalls ihr ganzes Leben lang anatomisch dazu in der Lage sind, sich von Baum zu Baum zu hangeln.
Zudem konnten die Forscher zeigen, dass sich die Schulterpartie der Vormenschen im Lauf der nächsten 1,5 Millionen Jahre tief greifend veränderte. Die Schulterblätter von frühen Vertretern der Art Homo erectus schließlich weisen dann die gleichen Merkmale auf wie die des modernen Menschen heute.
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