Luigi Palmieri: Als elektrische Ladungen den Vesuv erschütterten
Drei Tage dauerte der Ausbruch des Vesuvs bereits, während Luigi Palmieri in seinem Observatorium an einem der Hänge des Vulkans saß – umzingelt von Strömen glühender Lava. Der Vesuv spuckte, der Boden schwankte und Blitze zuckten durch die riesigen Aschewolken, die über dem Observatorium in der Luft hingen. Vom Himmel fiel heißes Geröll herab. Auf der Terrasse dokumentierte Palmieri Temperaturen von mehr als 70 Grad Celsius. Er beschloss, sich im Haus zu verschanzen, doch die Hitze versengte die Fensterrahmen und Brandgeruch drang in das Gebäude.
Es war das Jahr 1872, als der Vesuv explodierte. Der Ausbruch zählt zu den verheerendsten Eruptionen des Vulkans in der Neuzeit. Palmieri (1807–1896) hielt sich damals in seinem Forschungsgebäude auf, um den Hergang der Katastrophe zu beobachten und zu dokumentieren. Ihm muss bewusst gewesen sein, dass er sich in Lebensgefahr begab: Mehrere Wissenschaftler vor ihm waren bei derselben Aufgabe ums Leben gekommen – einer von ihnen erst zwei Tage zuvor. Menschen, die am Fuß des Vulkans wohnten, flohen in Panik nach Neapel, beschrieb Palmieri die Lage in seiner Abhandlung »Der Ausbruch des Vesuvs vom 26. April 1872«. Sie hatten ihr Hab und Gut zurückgelassen, das nun samt ihrer Häuser von Lava verschlungen wurde. Als dann noch mehr Asche niederging, versuchten die Menschen, aus der Stadt nach Rom zu entkommen.
Für die Neapolitaner war klar, Palmieri konnte nicht überlebt haben. Doch das Gegenteil war der Fall: Der Gelehrte saß in seinem von Hitze umwallten Observatorium, beobachtete die Messinstrumente und machte Notizen. Er wartete auf den Moment, wenn er sich wieder hinauswagen konnte. Palmieri war aufgeregt, ja geradezu ekstatisch. »Ich wollte unbedingt [die pinienförmige Rauchwolke] über mir sehen«, schrieb er später, scheinbar unbeeindruckt von der Gefahrenlage. Die Eruption sei ein »wunderbares Schauspiel«, fuhr er fort, dass er nun studieren könne.
Der Berg bebt bis heute
Der Vesuv, der vor allem für seinen verheerenden Ausbruch im Jahr 79 n. Chr. bekannt ist, als er Pompeji und dessen Nachbarstädte unter Vulkangestein begrub, ruht heutzutage. Allerdings ereignen sich immer wieder Erdbeben, die aus seinem Untergrund herrühren. Anfang August 2023 etwa bebte die Erde. Offenbar unbeeindruckt besteigen zahlreiche Touristen trotzdem den Vulkan. Im Sommer 2023, so meldete es der Parco Nazionale del Vesuvio, seien die Eintrittskarten für den Nationalpark nahezu täglich ausverkauft gewesen.
Mittlerweile arbeiten tausende Expertinnen und Experten in der Vulkanologie, ausgerüstet mit technisch raffinierten Messgeräten. Zu Palmieris Zeiten hingegen, als die Fachdisziplin noch ganz am Anfang stand, mussten die Gelehrten, wollten sie eine Eruption untersuchen, dem Vulkan sehr nahe kommen – und sich dem aussetzen, was die Krater ausspuckten. Palmieri, der zuweilen unbeirrt und leichtsinnig agierte, wollte so Antworten auf drängende Fragen finden, die teils noch immer ungeklärt sind: Warum brechen Vulkane scheinbar urplötzlich aus? Und warum lassen sich Eruptionen nicht vorhersagen? Palmieri war einer der Ersten, die einen speziellen Seismografen entwickelte und anhand langer Messreihen das Wesen der Vulkane aufklären wollten.
Der Vulkanologe kam im Jahr 1807 nördlich von Neapel zur Welt. Er studierte Physik, Mathematik und Philosophie. Später angestellt an der Universität Neapel, gab er Vorlesungen über Logik und Metaphysik. Seine Zeitgenossen beschrieben ihn als energischen Mann, doch auch als bescheiden mit schlichtem Auftreten. Manche Bewohner der Vesuv-Region hielten seine Arbeit jedoch für das Werk eines Ketzers: Ihres Erachtens waren die Eruptionen unerklärliche Launen der Natur, rätselhaft und unergründlich. Jenen Menschen missfiel, dass Palmieris Forschung an ihren Überzeugungen rüttelte.
Forschung unter dem Feuerberg
Der Name Palmieri ist heute fest verwurzelt mit dem Vesuv-Observatorium. Es ist das älteste vulkanologische Institut der Welt. Der Forscher leitete es 41 Jahre lang als Direktor. Noch heute steht das dreistöckige Gebäude auf einem Hügel, zirka 608 Meter über dem Meeresspiegel und rund zwei Kilometer vom Krater des Vesuvs entfernt, der hoch über den Bau hinausragt. Palmieris Vorgänger Macedonio Melloni (1798–1854) hatte die Beobachtungsstation 1841 als meteorologische Einrichtung gegründet. Doch 1848 entließen die Behörden Melloni, weil er mit den revolutionären Bestrebungen jener Zeit sympathisiert haben soll.
Als Palmieri das Observatorium erstmals aufsuchte, betrat er ein baufälliges Gebäude. Nur wenige Messgeräte waren vorhanden, Fledermäuse und Eulen nisteten im Gemäuer. Die Behörden hatten schon erwogen, den Bau zu verkaufen und in ein Hotel umzufunktionieren, als Palmieri dort 1852 mit seinen Forschungen begann. Drei Jahre später ernannte man ihn zum neuen Direktor, und Palmieri nahm die Stellung an, da Melloni gestorben war.
Worüber Palmieri dann zeit seines Lebens forschte, würde ihn heute die Reputation als Forscher kosten: Er untersuchte, wie natürliche elektrische Entladungen in der Luft mit ihrem mutmaßlichen Gegenstück im Boden zusammenhängen. Wie viele Gelehrte damals war Palmieri überzeugt, dass elektrische Stöße die Ursache von Erdbeben seien. »Die vorherrschende Vorstellung war, dass ein Übermaß an Elektrizität in der Luft Blitze erzeugt – und ein Übermaß an Elektrizität im Boden Erdbeben auslöst«, erklärt der Seismologe Giovanni Ricciardi, der vier Jahrzehnte lang – bis 2019 – am Vesuv-Observatorium tätig war. »Einige stellten sogar die Theorie auf, dass Erdbebenableiter – so wie [Benjamin] Franklins Blitzableiter – einen Schlag abfangen könnten. Ihre Hoffnung war, dass sich Erdbeben verhindern ließen, würde man einen 15 Meter langen Metallstab im Boden versenken«, sagt Ricciardi, der eine umfangreiche Abhandlung, »Diario del Monte Vesuvio«, über den Vesuv verfasst hat.
Der Forscher erfand den ersten elektromagnetischen Seismografen
Erdbeben, Eruptionen, extreme Wetterereignisse – im 19. Jahrhundert waren Wissenschaftler überzeugt davon, dass alle drei Phänomene zusammenhängen. Trotz dieser Vermutung gilt Palmieri heute als Vorreiter in seinem Forschungsfeld. Ein Grund dafür: »Er hatte Messungen vorgenommen«, erklärt Francesca Bianco, die bis Juli 2022 dem Vesuv-Observatorium als Direktorin vorstand und momentan den Bereich Vulkanologie am Istituto Nazionale di Geofisica e Vulcanologia in Rom leitet. »Palmieri hatte erkannt, wie grundlegend Messungen sind – und das zu einer Zeit, als in der Vulkanologie eher qualitative Methoden üblich waren.« In seinen ersten Jahren als Direktor rüstete Palmieri das Observatorium mit Messinstrumenten aus und begründete damit ein Stück weit die moderne Vulkanologie, bestätigt der jetzige Direktor des Vesuv-Observatoriums, Mauro Di Vito. Und die neuen Instrumente hatte Palmieri teils selbst entwickelt.
Seine wichtigste Erfindung machte er in seinem ersten Jahr als Direktor des Observatoriums. Der Vesuv eruptierte zu jener Zeit häufiger. Palmieri bemerkte, dass dem Ausbruch mehrere leichte Erdbeben vorausgingen. Er entwickelte daher ein Gerät, das jegliches Beben aufspüren sollte, selbst die ganz schwachen, die Menschen nicht wahrnehmen können. Das Messgerät sollte die Ausbreitung, die Intensität und die Dauer eines Erdbebens auf Papier aufzeichnen und zugleich andere Instrumente per Telegrafie ansteuern. Was Palmieri erfand, war der erste elektromagnetische Seismograf, der Erdbeben – anders als die sonstigen Geräte seiner Zeit – nicht mechanisch detektierte.
Weil das Vesuv-Observatorium nicht über ein Telegrafenkabel mit der Außenwelt verbunden war, blieb Palmieri jedoch nichts anderes übrig, als den Vulkan an Ort und Stelle zu erforschen – was sich als sehr riskantes Unterfangen herausstellte. Mehrmals wäre er am Vesuv fast ums Leben gekommen. Etwa im Jahr 1859: Während der Vulkan spuckte, schritten Palmieri und sein Hausverwalter einen »schönen Feuerfluss« ab, wie der Physiker es später beschrieb, bis sie den Ursprung des Lavastroms erreichten. Dort angekommen, spie plötzlich ein kleiner Krater: Die Lava erstarrte in der Luft und fiel als Gesteinsbrocken auf die beiden Männer herab. Zugleich rumorte der Vulkan, und Rauch entwich aus dem Krater. Einige Menschen, die weit entfernt von Palmieri und dem Verwalter den Ausbruch beobachtet hatten, brachten sich aufgeschreckt in Sicherheit. Sie waren überzeugt, dass die beiden umgekommen sein mussten. Doch wie durch ein Wunder hatten sie den Vorfall unbeschadet überstanden.
Der König brauchte kein Observatorium
Jedes Mal, wenn der Vesuv ausbrach, dokumentierte Palmieri detailliert seine Beobachtungen und Messergebnisse. Er untersuchte auf diese Weise die Eruptionen der Jahre 1855, 1859, 1861, 1868 sowie 1871 und 1872. Anders als seine Kollegen schrieb er keine anekdotischen Beobachtungen nieder oder zeichnete die Ereignisse nur aus der Erinnerung nach.
Dennoch hätte Palmieri im Jahr 1861 beinahe sein Observatorium verloren. Nicht etwa, weil Lava das Gebäude verschlang, sondern weil aus Italien ein geeinter Nationalstaat geworden war, eine parlamentarische Monarchie. Der König, der weit entfernt vom Vesuv in der Region Piemont residierte, hielt das Observatorium für überflüssig.
So lange, bis noch im selben Jahr der Vulkan ausbrach und eine unweit gelegene Stadt zerstörte. Die erste Naturkatastrophe in der Geschichte des vereinten Italiens überzeugte den König dann doch, das Institut zu erhalten. Bei dem Ausbruch im Jahr 1861 war Palmieri auch aufgefallen, dass das Meer nicht nur wegen der Gezeiten von der Küste zurückwich, sondern auch, weil sich der Meeresboden vor einer Eruption auf und ab bewegte.
Laut Ricciardi errichtete Palmieri als einer der Ersten ein modernes System zur Erdbebenüberwachung. Er hatte zwei elektromagnetische Seismografen konstruiert und platzierte den einen im Observatorium, den anderen an der Universität Neapel. Mit einem dritten, einem tragbaren Gerät konnte er dann per Triangulation das Epizentrum und die Ausbreitung der Erdbebenwellen bestimmen. Als Nächstes stattete Palmieri Bahnhöfe und Gendarmerien mit seismischen und telegrafischen Geräten aus. Damit bewies er, dass man für eine robuste Erdbebenüberwachung »ein Netzwerk von Sensoren benötigt«, sagt Ricciardi.
Das Orakel vom Observatorium
Palmieris Seismograf fand bald weltweit Abnehmer. Die japanische Regierung bat ihn, verschiedene Modelle zu entwerfen. Inzwischen waren auch die Menschen am Fuß des Vesuvs dem Gelehrten wohlgesinnter. Vor allem, weil Palmieri nun einen Ausbruch einige Stunden im Voraus bestimmen konnte. Man munkelte, er verfüge über orakelhafte Fähigkeiten.
Doch dann, im Jahr 1872, ereignete sich ein Unglück – trotz Palmieris Vorhersagen. Der Physiker hatte zwar davor gewarnt, sich in die Nähe des Vulkans zu begeben, er selbst musste aber nach Neapel reisen, um ein Messgerät zu besorgen. Eine Gruppe Studenten bestieg den Vesuv trotzdem. Sie wollte einen kleinen Krater inspizieren. Als die Männer die Stelle begutachteten, bildete der Krater einen Riss. Lava strömte aus und verschlang einige der Studenten. »Zu gleicher Zeit schleuderten die beiden Gipfelkrater unter heftigen Detonationen zahllose glühende Projektile aus«, beschrieb Palmieri die Lage. Die Lavageschosse hagelten herab und töteten weitere Männer der Gruppe.
Palmieri kehrte zum Observatorium zurück, wo er die nächsten Tage damit verbrachte, die Vulkanaktivitäten zu beobachten. Der Vorfall hatte ihn aber offenbar derart bestürzt, dass er sich schwor, während eines Ausbruchs das Observatorium nie unbesetzt zu lassen.
Der erste Nachweis für Helium auf der Erde
Nach 1872 kehrte Palmieri seiner wissenschaftlichen Karriere allmählich den Rücken. Er hatte zwar zahlreiche Auszeichnungen und Ehrentitel erhalten, aber die Huldigungen schienen ihm nicht wirklich wichtig zu sein. Selbst das Angebot, in den USA eine Reihe von Konferenzen über den Ausbruch von 1872 abzuhalten, schlug er aus. Obwohl er auch in anderen Bereichen bedeutende Forschungsergebnisse vorzuweisen hatte: Palmieri hatte vermutlich als Erster den Beweis für Helium auf der Erde erbracht. Mit Hilfe der Spektroskopie, so beschrieb es der Physiker, habe er an den Fumarolen des Vesuvs, also an Stellen, wo Dampf aus dem Vulkan austritt, das Gas nachgewiesen. Damals waren sich die Gelehrten sicher, dass Helium nur auf der Sonne existierte. Doch Palmieri befasste sich nicht weiter mit dem Thema – erst wieder, als bereits der Schotte William Ramsay 1895 verkündet hatte, er habe das Element isolieren können, wofür der Chemiker unter anderem später den Nobelpreis erhielt.
Inzwischen hatten Fachleute auch neue Theorien über Erdbeben und Eruptionen aufgestellt. Palmieris Ansichten galten zusehends als veraltet. Wie ein Forscherkollege damals anmerkte, hatten sich Palmieri und die Vulkanologie entfremdet. Auch weil der Gelehrte offenbar den Vesuv und das Observatorium als sein persönliches Wissenschaftsrefugium erachtete – und obgleich das Gebäude wieder verfiel.
Palmieri starb 1896 im Alter von 89 Jahren in Neapel. Kurz zuvor hatte er noch eine Vorlesung gehalten – über den Einfluss des Monds auf Vulkanausbrüche. Ein Thema, das auch heute noch als nicht ganz abwegig gilt.
Wo heute die Vulkane Italiens überwacht werden
Sein Forschungsfeld ist freilich längst fortgeschritten in Technik und Methoden, und das kleine Observatorium auf dem Vesuv beherbergt heute ein Museum. Und »sein« Berg? Der ruht seit 1944. In Italien sind die Blicke zudem mehr auf die nahe gelegenen Phlegräischen Felder gerichtet, wo ein Supervulkan brummt – eine riesige Region, die ständig Anzeichen schwacher vulkanischer Aktivität zeigt.
Mittlerweile ist auch Palmieris Vermächtnis umgezogen: vom Vesuv nach Neapel. Dort befindet sich heute das Observatorium in einem fünfstöckigen Glasgebäude. 110 Mitarbeitende überwachen hier die Vulkane Italiens. »Wir untersuchen alles, was es zu untersuchen gibt«, sagt die ehemalige Direktorin Francesca Bianco. Und obgleich die technische Ausstattung mit den Möglichkeiten zu Palmieris Zeiten eigentlich nichts mehr gemein hat, habe sich die Herangehensweise nur wenig geändert, erklärt Bianco. Das Observatorium an sich sei nämlich ein Mittel zur Beobachtung – und »das hat Palmieri eingeführt«.
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