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Materialwissenschaft: Made in Germany, Anno 1600

Eine gute Idee setzt sich durch, wenn ihre Zeit gekommen ist. Auch ohne verstanden zu sein, wie Keramikwaren aus dem Mittelalter belegen: Ihre hervorragenden Eigenschaften verdanken sie demselben Materialmix, der heute Flugzeugflügeln, Katalysatoren und modernen Feuerfeststoffen dient.
Hessische Schmelztiegel
Fernab am Forschungsstandort Oxford Universitätsprofessor zu sein, fand der ehrenwerte Robert Plot, ist manchmal ein echter Nachteil. Wie um alles in der Welt soll man als Alchemist und Chemiker vernünftig arbeiten, der inneren Substanz und dem ureigenen Wesen der Dinge auf den Grund gehen – wenn das notwendige Rüstzeug fehlt? Wenn heimische Handwerker zu ungeschickt sind, die eigenen Waren Englands minderwertig und die einzig annehmbare Qualität teuer importiert werden muss? Ausgerechnet vom Kontinent, aus Hessen?

Zu Plots Lebzeiten im 17. Jahrhundert, aber auch schon vorher im Mittelalter nervte auf der Insel die Abhängigkeit von einem bestimmten Stück Qualität Made in Germany maßlos. Über Jahrhunderte waren hessische Landstriche schon Exportweltmeister für dieses technisches Spezialprodukt – den kaum zerstörbaren Schmelztiegel, der Alchemisten, Münzern und Metallurgen ihr Handwerk erlaubte. Noch 1755, nachdem buchstäblich Millionen deutscher Ware schon auf die Insel hatten importiert werden müssen, rief die Royal Society of Arts lokale Manufakturen dazu auf, endlich ähnlich hochwertiges Laborgerät mit einheimischen Materialien produzieren zu lernen. Der Grund war einleuchtend: Die Mittel zur Einfuhr fraßen schmerzlich die Rücklagen.

Alle Anstrengungen, die hessische Qualität der Schmelztiegelproduktion zu kopieren, blieben vom späten Mittelalter bis zur nicht mehr frühen Neuzeit gescheiterte Versuche: Außerhessisches Tiegelwerk zerbrach leichter und riss bei niedrigeren Temperaturen. Und so blieben von den Britischen Inseln über Spanien bis Skandinavien oder die Neue Welt Tiegel aus der Mitte Deutschlands lange konkurrenzlos, weil qualitativ unerreicht. Was, so fragte sich nicht nur Robert Plot im Jahr 1677, steckt nur hinter dem von den Produzenten eifersüchtig gehüteten "Geheimnis der hessischen Ware"?

Der Archäologe Marcos Martinón-Torres vom University College London und seine Kollegen suchten gut drei Jahrhunderte später nach Antworten. Im Elektronenmikroskop und mit Röntgenstrahlungsbeugungsanalysen nahmen sie fast fünfzig alte Orginal-Schmelztiegel unter die Lupe, um den überlegenen Materialeigenschaften hessischer Provenienz auf die Spur zu kommen.

Tiegel aus Hessen, so ihre erste Erkenntnis nach petrografischen und chemischen Analysen, entstanden offenbar nach einer typischen, stets eingehaltenen Standardrezeptur. Immer wurde dabei ein am Mineral Kaolinit sehr magerer Ton mit nahezu reinem Quartzsand gehärtet, auf der Töpferscheibe geformt und gebrannt. Dies allein schon trug zu den gewollten Materialeigenschaften des Produktes bei: Die entstehenden Tiegel wiesen günstige Aluminium- zu Alkali- und Erdalkali-Elementenverhältnisse auf, was zur Toleranz gegenüber großer Hitze beitrug; der bis zu vierzig Prozent hohe Anteil unverformbarer Einschlüsse aus abgerundeten Quartzgranula erhöhten zudem Bruchfestigkeit und thermische Stabilität.

Mullitnadeln machen mittelalterliche Qualitätskeramik | Im Elektronenmikroskop offenbart sich die Mikrostruktur der hessischer Qualitätskeramik des Mittelalters: ein feines Netzwerk aus Mullit-Nadeln. Diese sind sehr fest, temperaturresistent und unempfindlich gegenüber aggressiven Chemikalien.
Ein ganz ähnlicher Mineralmix findet sich allerdings auch in Konkurrenzprodukten der hessischen Schmelztiegel. Deren eigentliches Alleinstellungsmerkmal liegt vielmehr in der inneren Struktur der Inhaltsstoffe, die sich erst bei der – für das in Europa im späte Mittelalter ungewöhnlich hohen – Brenntemperatur von 1100 bis 1200 Grad Celsius bildet. Nur dies führte, glauben Martinón-Torres, zum Geheimnis des hessischen Keramik-Erfolges: synthetischem Mullit. Das Aluminiumsilikat (Al6Si2O13) entsteht bei hoher Temperatur aus Kaolinit – und verzahnte sich in den Tonwaren, nadelförmig eingebettet in eine Matrix aus Quarz und anderen Tonmineralen, zu einem nahezu unangreifbaren Keramikfilz. Ganz ähnlich wie die mittelalterlichen Schmelztigelproduzenten profitieren auch heute Materialwissenschaftler von Mulliten: Die Silikate sind unverzichtbare Bestandteile extrem strapazierfähiger moderner Hochleistungskeramik, die im Bauwesen, Brandschutz und Flugzeugkonstruktion eingesetzt wird.

Ohne Mullit zu kennen, nutzten die Tiegelproduzenten also über Jahrhunderte seine Eigenschaften – verständlicherweise hüteten sie ebenso lange ihre Rezeptur wie ein Staatsgeheimnis. Zum Leidwesen der tiegelabhängigen Alchemisten wie Robert Plot aus Oxford – oder seinem älteren Kollegen Thomas Norton aus Bristol, der sich über mangelnden Ingenieursgeist seiner Landsleute beklagt: Gute Tiegel, so schrieb er 1477, entstünden eben "in keinem Lande auf Englands Boden".

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