Mammutprojekt: Erstmals jede Zelle im Mäusehirn kartiert
Wie viele verschiedene Zelltypen stecken im Gehirn einer Maus? Wo liegen sie, und welche Funktionen erfüllen sie? Diesen schwierigen Fragen hat sich ein großes internationales Forschungsprojekt gestellt und einen kompletten Zellatlas des Mäusegehirns vorgelegt. Mehr als 5300 verschiedene Zelltypen dokumentierten die Fachleute des BRAIN Initiative Cell Census Network (BICCN), wie sie in insgesamt zehn in »Nature« erschienenen Beiträgen berichten. Wie sich zeigte, sind die Zellarten auf bestimmte Regionen im Gehirn verteilt und unterscheiden sich je nach Ort. Hinter dieser komplexen Struktur des Säugerhirns steckt offenbar ein langer evolutionärer Prozess. Studienautorin Hongkui Zeng vom Allen Institute for Brain Science in Seattle ist überzeugt, dass Forscherinnen und Forscher mit den neuen Hirnkarten »endlich erkennen können, wie das Gehirn organisiert ist«.
Dass die Wahl gerade auf die Hausmaus (Mus musculus) fiel, liegt für die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen auf der Hand: Der Nager gilt in der Biologie und Medizin als Modellorganismus schlechthin. An ihm lässt sich am besten ein exemplarischer Atlas eines Säugerhirns erstellen.
Für ihre Studien nutzten die Fachleute diverse Verfahren, darunter verschiedene Einzelzellanalysen. Damit lässt sich beispielsweise die genetische Aktivität der Hirnzellen erfassen. Es ging unter anderem darum herauszufinden, welche Boten-RNAs (mRNAs) die Zellen herstellten. Anhand der diversen RNA-Schnipsel konnten die Wissenschaftler dann folgern, wie viele verschiedene Zelltypen es im Gehirn gibt, da ein jeder von ihnen ein charakteristisches Spektrum von mRNA-Molekülen produziert.
Wo im Gehirn liegen welche Zellen?
Parallel dazu bestimmten die Teams die räumliche Position der Zellen im Gehirn. Das mache die Mammutstudie so besonders, schreibt die Neurologin Maria Antonietta Tosches von der Columbia University in einem Begleitkommentar: Alle beteiligten Arbeitsgruppen hätten nicht nur erstmals das gesamte Gehirn der Maus kartiert, sondern auch »mit räumlicher Transkriptomik kombiniert, wodurch Zelltypen in ihren natürlichen Gewebekontext eingeordnet werden können«.
Insgesamt sequenzierten die Forscherteams einige Millionen Zellen und sammelten deren Positionsdaten. Anschließend unterteilten sie die Hirnzellen in vier hierarchisch organisierte Ebenen, die zusammen 5322 Cluster umfassen. Die Fachleute kartierten zudem, wie die einzelnen Cluster untereinander agieren und über Neurotransmitter oder andere Signalstoffe in Kontakt stehen.
Von den zahlreichen Ergebnissen der zehn Studien ragt eines heraus: Die Zellen auf der evolutionär jüngeren Oberseite des Gehirns (dorsal), etwa in der Großhirnrinde, umfassen vergleichsweise wenige, dafür jedoch sehr unterschiedliche Typen. Auf der ventralen Unterseite hingegen – in den Bereichen des Hypothalamus, des Mittel- und des Rautenhirns – erscheint die Bandbreite der Zellarten viel größer, aber auch untereinander ähnlicher (siehe »Hirnkarte der Maus«). »Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass für die neuronale Vielfalt im Gehirn unterschiedliche Regeln gelten, möglicherweise weil sich jede Region unter anderen Bedingungen entwickelt hat«, erklärt Tosches. So haben sich im Lauf der Evolution die ventralen Hirnteile wahrscheinlich weniger stark verändert als die dorsalen, weil Erstere hauptsächlich Grundfunktionen des Körpers steuern.
Die Daten des Hirnatlas nutzen die Forscher außerdem für neue Erkenntnisse zur Evolution des Wirbeltierauges: Beim Vergleich des Transkriptoms von 17 Wirbeltierarten – darunter des Menschen – zeigte sich, das bestimmte retinale Ganglienzellen, die eine wichtige Rolle für scharfes Sehen spielen, sich nicht, wie zuvor angenommen, erst bei den Primaten entwickelt haben, sondern schon bei Nagetieren auftauchen.
Der Atlas soll helfen, Krankheiten besser zu bekämpfen
Die Ergebnisse der Studien sollen auch bestehende Vorhaben stützen, etwa jenes, das Gehirn des Menschen zu kartieren. Ein Ziel all dieser Forschungen ist nach Ansicht von Hongkui Zeng, neurodegenerative Krankheiten und neurologische Störungen besser behandeln zu können. So ist bekannt, dass viele Erkrankungen in bestimmten Regionen des Gehirns entstehen – womöglich, weil spezifische Zelltypen sich verändert haben. Mit einem Hirnatlas ließen sich Gentherapien oder Medikamente entwickeln, um Zellen direkt anzusteuern und so etwaige Nebenwirkungen von Präparaten zu verringern.
Die Fachleute hoffen zudem, mit ihrem Atlas zahlreiche weitere Forschungsvorhaben anzukurbeln. Zeng betont laut einer Pressemitteilung: »Meine Kollegen sagten, dass die 5000 Zelltypen, die wir identifiziert haben, Neurowissenschaftler die kommenden 20 Jahre beschäftigen werden, um herauszufinden, was diese Zelltypen tun und wie sie sich bei Krankheiten verändern.«
Anm. d. Red.: Dieser Artikel wurde mit neuen Informationen aktualisiert und ergänzt.
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