Nachbau des Lilienthal-Gleiters: »Man denkt, man kann wirklich fliegen«
Ende des 19. Jahrhunderts läutete ein preußischer Erfinder das Zeitalter der Luftfahrt ein: Von 1891 an entwickelte Otto Lilienthal mehrere »Flugapparate«, mit denen ein Mensch hunderte Meter durch die Luft gleiten konnte. Fünf Jahre lang sprang Lilienthal immer wieder von Dünen und aufgeschütteten Erdhügeln, ehe er im August 1896 tödlich verunglückte. Seit einigen Jahren experimentieren deutsche Forscher mit originalgetreuen Nachbauten der künstlichen Flügel. Wie flugtauglich waren sie wirklich? Markus Raffel vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) hat zwei der Gleiter ausprobiert.
Spektrum.de: Herr Professor Raffel, im Sommer haben Sie in Monterey einen Nachbau des berühmten Lilienthal-Gleiters probegeflogen. Hatten Sie keine Angst, dass es Ihnen ähnlich ergeht wie dem deutschen Flugpionier?
Raffel: Nein, ich habe mich am Strand von Kalifornien sehr schnell sicher gefühlt. Es wurde dort auch nie brenzlig. Am Anfang der Tests – insgesamt habe ich zirka 25 Flüge absolviert – ist mir höchstens mal die Landung missglückt. Das haben mein Team und ich aber stets mit Humor genommen, im Sand fällt man ja weich. Auch hatten wir den Gleiter mit Kufen versehen. Er konnte sich daher nicht so leicht in den Boden bohren und kaputtgehen.
Wie hat es sich angefühlt, mit dem Gerät abzuheben? So wie in einem normalen Hängegleiter?
Nein, das ist etwas ganz anderes. In einem modernen Gleiter hängt man unterhalb der Tragfläche. Im Lilienthal-Gleiter hält man sich hingegen aufrecht mit seinen Händen fest und schaut mit seinem Kopf oben hinaus. Gleichzeitig spürt man die Kraft der Flügel in den Schultern, als seien einem Flügel gewachsen. Auch die Steuerung ist ganz anders: Sie erfolgt nicht mit den Händen, sondern mit Beinen, Bauch, Rücken und Schultern – dem ganzen Körper. Man denkt, man kann wirklich fliegen.
Wie kamen Sie auf das Projekt?
2016 hat das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) einen Nachbau des Lilienthal-Gleiters in einem Windkanal getestet. Anlass war das 125. Jubiläum des ersten Menschenflugs durch Otto Lilienthal. Die Experimente haben bei mir den Wunsch geweckt, den Gleiter auch wirklich fliegen zu wollen. Das ist ja auch in der Flugzeugentwicklung immer der nächste Schritt nach den Windkanaltests. Wenn alles durchgemessen ist, macht man einen Jungfernflug.
Das Ganze mussten Sie aber privat organisieren, richtig?
Ja, finanziert habe ich die Flugversuche aus eigener Tasche, alles in allem beliefen sich die Kosten auf mehrere zehntausend Euro. Allein der Nachbau des Doppeldeckers durch das Otto-Lilienthal-Museum in Anklam hat knapp 14 000 Euro gekostet. Beim Transport in die USA hat dann zum Glück die Fluglinie geholfen, die den Gleiter als gewöhnliches Fluggepäck mit Übergröße akzeptiert hat. Sonst wäre er in die Cargo-Kategorie gefallen, was die Sache für mich als Privatperson zu teuer gemacht hätte.
Sie haben also eine besondere Beziehung zu Lilienthal?
Bis vor ein paar Jahren wusste ich noch nicht sonderlich viel über ihn, habe seitdem aber viel gelesen. Es ist wirklich bewundernswert, wie systematisch er sich dem Menschenflug genähert hat. Er ist ohne Frage der Vater der Aerodynamik. Aber auch als Person finde ich ihn ungemein inspirierend. Er hat sich in allen möglichen Richtungen ausprobiert und hat vor Grenzen, die andere hingenommen haben, nicht Halt gemacht. Neben der Fliegerei hat er beispielsweise Theaterstücke geschrieben und diese dann zum Teil selbst aufgeführt. Er hatte auch ein soziales Gewissen: Als Unternehmer hat er 25 Prozent seiner Gewinne an seine Mitarbeiter ausgeschüttet.
Was hat Ihren Arbeitgeber, das DLR, denn an Ihren Testflügen gestört?
Die Flüge galten, wie Sie sich sicherlich vorstellen können, im Vorfeld als nicht gerade unbedenklich. Im Rahmen der Möglichkeiten hat uns das DLR trotzdem sehr umfassend unterstützt, in meinem Team waren ja auch ein Doktorand und ein Techniker des Instituts. Aber aus versicherungstechnischen und rechtlichen Gründen konnten die eigentlichen Tests dann nur in der Freizeit stattfinden, auf privates Risiko.
Wie haben Sie sich konkret vorbereitet?
Da ich noch keine Erfahrung mit Hängegleitern hatte, habe ich zunächst in Südfrankreich einen Flugschein für diese Geräte gemacht. Daneben haben wir uns mit Hilfe des Otto-Lilienthal-Museums einen neuen Nachbau des »Normalsegelapparats« anfertigt. Damit haben wir erste Flugtests auf einer Anhängerplattform gemacht, die von einem Auto gezogen wurde.
Das klingt abenteuerlich.
Der Gleiter und der Pilot waren natürlich gut mit Seilen gesichert, so dass man nur einen Meter abheben konnte. Etwas mutiger waren dann die Tests mit der Seilwinde, die wir statt des Hinterrads in einen Motorroller eingebaut haben. So konnten wir den Gleiter von einem Motor ziehen lassen und bis zu 220 Meter weit fliegen, wenn auch nur knapp über dem Boden. Trotzdem habe ich mir dabei immer wieder blaue Flecken geholt, wie bei einem ordentlichen Fußballspiel.
»Was Lilienthal gemacht hat, war schlicht tollkühn«Markus Raffel, DLR
Für die eigentlichen Flugversuche mussten Sie dann aber ins Ausland gehen?
Ja, uns war bis zuletzt nicht klar, ob Freiflüge in größerer Höhe in Deutschland legal gewesen wären. Das hängt unter anderem davon ab, wie man das Fluggerät klassifiziert. Ist es ein Segelflugzeug, ein Hängegleiter oder ein Gleitschirm? Wenn eines davon zutrifft, wären Flüge ohne Zertifizierung nicht legal gewesen. Ein Problem in Deutschland war auch der Wind: Wenn man hier bei Göttingen am Hang steht, mischen sich immer wieder Böen in den Aufwind, den man zum Starten braucht. Das macht die Sache gefährlich.
Und in den USA ist die Lage anders?
Ja, dort darf man alles, was leichter als 154 Pfund ist und nicht bereits zertifiziert wurde, ohne Pilotenschein fliegen. Und in Kalifornien, wo ich 2018 sowieso einen Forschungsaufenthalt absolviert habe, gibt es perfekte Hänge zum Gleitschirmfliegen. Auf mancher Düne in Richtung Pazifik ist der Wind meist ganz glatt.
Mussten Sie beim Nachbau die Pläne Lilienthals modifizieren?
Wir haben nichts verändert, was die Flugeigenschaften betrifft. Die einzigen Anpassungen waren solche, die wohl jeder Pilot gemacht hätte: Ich bin zwölf Kilogramm schwerer und zwölf Zentimeter größer, als Lilienthal es war. Daher haben wir die Spannweite des Eindeckers an meine Körperproportionen angepasst, sie ist mit sieben Metern nun etwas größer als in der Patentschrift beschrieben.
Lilienthals Gleiter kam mit sehr wenig Metall aus. Haben Sie exakt die gleichen Materialien verwendet?
Ja, mit kleinen Abweichungen. Lilienthal hat Knochenleim zum Verbinden der Holzteile und Kollodium zum Imprägnieren der Stoffflügel verwendet. Das sind Materialien, mit denen wir heute nicht mehr so gut umgehen können. Wir haben uns daher in beiden Fällen für Holzleim entschieden. Auch haben wir es nicht geschafft, in ausreichender Menge Weidenruten zu bestellen. Wir haben daher mehr Kiefernholz genutzt, das bei Lilienthal etwas weniger Raum eingenommen hat. Das Flugverhalten dürfte sich dadurch jedoch nicht verändert haben.
Was können Sie denn allgemein über die Flugeigenschaften sagen?
Der Flugapparat kann sicher gleiten, bei kleinen Störungen findet er also von selbst wieder ins Gleichgewicht. Das wussten wir bereits aus dem Windkanal. Wir wollten mit unseren Tests daher eine andere Frage beantworten: Muss man wie Lilienthal ein begabter Pilot mit artistischen Fähigkeiten sein, um das Gerät zu fliegen? Oder kann das im Grunde jeder Mensch?
Wie lautet Ihr Fazit?
Wir haben in Kalifornien zwei dreitägige Testreihen gemacht, 2018 mit dem Eindeckernachbau, 2019 mit dem Doppeldecker. Außer mir ist noch ein Hängegleiterlehrer aus den USA geflogen, der wie ich über 50 ist. Der Doppeldecker ist unserer Erfahrung nach sehr leicht zu steuern, den kann man sofort fliegen, würde ich sagen. Der Eindecker ist etwas herausfordernder, aber auch ihn kann man mit etwas Übung problemlos beherrschen.
Wenn sich das Gerät so gut steuern lässt: Wieso ist Lilienthal dann damit abgestürzt? Er hatte zu dem Zeitpunkt ja schon tausende Flüge auf seinem Konto.
Lilienthal scheint mit der Zeit übermütig geworden zu sein. Es gibt da eine interessante Anekdote aus der Woche vor seinem Absturz. Sie stammt von dem amerikanischen Physiker Robert Wood, der zu dieser Zeit in Berlin war und eines der Geräte kaufen wollte. Wood hat miterlebt, wie Lilienthal mit dem Doppeldecker sehr hoch geflogen ist. Als ihn dabei eine heftige Böe erwischt hat, konnte er das gerade so abfangen. Anschließend habe Lilienthal nur gesagt: Man erlebt eben jedes Mal was Neues.
In der darauf folgenden Woche hat ihn dieser Hochmut das Leben gekostet?
Ja, so scheint es. Lilienthal ist an diesem Tag mit dem Eindecker geflogen, den man wie gesagt nicht ganz so leicht kontrollieren kann wie den Doppeldecker. Als einen der Flügel in 15 Metern eine unvorhersehbare Luftverwirbelung erfasste, eine so genannten Sonnenböe, hat Lilienthal das mit seiner Körperkraft nicht mehr ausgleichen können. Vielleicht hat der heftige Luftstoß auch seinen Gleiter verformt, das wissen wir nicht. Jedenfalls ist er aus dieser Höhe zu Boden gefallen und am Tag darauf gestorben.
Würden Sie denn generell davon abraten, mit dem Normalsegelapparat in größere Höhen zu fliegen?
Die Frage stellt sich nicht mehr wirklich, da unsere Tests beendet sind. Wir haben unsere Gleiter an das Lilienthal-Museum in Anklam und an das Deutsche Technikmuseum in Berlin übergeben. Ich würde von solchen Höhenflügen aber unbedingt abraten. Die verwendeten Materialien sind dafür einfach nicht zuverlässig genug. Auch würde ich wohl nur bei sehr gleichmäßigem Wind starten. Was Lilienthal gemacht hat, war schlicht tollkühn.
Das von ihm entwickelte Konzept ist also doch nicht ganz konkurrenzfähig im Vergleich zu heutigen Gleitern?
Für die damalige Zeit war die Konstruktion ein Geniestreich. Konkurrenzfähig ist das Konzept heute wohl nicht mehr. Aber wenn man ein Gerät bauen will, in dem das Fliegen besonders viel Spaß macht: Dann ist Lilienthals Entwurf einem heutigen Hängegleiter meiner Meinung nach klar überlegen.
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