Allgemeinmedizin: Manche Hausärzte fühlen sich durch Leitlinien eingeschränkt
Rund die Hälfte der Hausärzte richtet ihre Entscheidungen in Diagnostik und Therapie an den vorhandenen Leitlinien aus. Das geht aus einer Umfrage unter Hausärztinnen und Hausärzten hervor, die nun in der »Zeitschrift für Allgemeinmedizin« erschienen ist. Gleichzeitig sehen fast 60 Prozent der befragten Allgemeinmediziner darin eher eine Beschränkung der ärztlichen Handlungsfreiheit.
Zu wissen, wie viele Ärzte Leitlinien befolgen – und vor allem wieso nicht –, ist wichtig. Denn die Schriften geben fundierte Empfehlungen, wie eine Erkrankung festzustellen und zu behandeln ist. Sie richten sich vor allem an Ärztinnen und Ärzte, aber auch an Pflegekräfte und andere Fachleute im Gesundheitswesen. Das Ziel ist, Patientinnen und Patienten angemessen und nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft zu versorgen.
Schon immer hätten Leitlinien sehr unterschiedliche Reaktionen bei Allgemeinärzten hervorgerufen, schreiben die Autoren Michael Jansky und Julian Wagner vom Zentrum für Allgemeinmedizin und Geriatrie an der Universitätsklinik Mainz. Zwar bestehe gerade bei primärversorgenden Ärzten und Ärztinnen ein hoher Bedarf an systematischen Entscheidungshilfen zur diagnostischen Abklärung, der Verlaufskontrolle oder zum Krankheitsmanagement.
Jedoch stünden manche Inhalte der Leitlinien im Widerspruch zum gelebten Behandlungsalltag. Dazu gehören beispielsweise Anamnese, Diagnostik und Therapie, und sie berücksichtigten die Zeit- und Ressourcenknappheit in einer Hausarztpraxis teilweise zu wenig. Vor diesem Hintergrund waren die Ergebnisse der Umfrage mit Spannung erwartet worden.
Wesentliche Erkenntnisse im Überblick
Befragt hat das Team 734 von 3839 aktiven Hausärzten in Hessen zwischen Dezember 2019 und März 2020. Damit hat jeder fünfte Hausarzt des Bundeslandes teilgenommen. Die wichtigsten Erkenntnisse:
- 51 Prozent der Studienteilnehmer sind Leitlinien gegenüber sehr positiv oder eher positiv eingestellt, 41 Prozent (eher) negativ und 8 Prozent liegen dazwischen (»schwer zu sagen«).
- Die Differenzen zwischen Stadt und Land sind dabei auffällig: 67 Prozent der Ärzte mit mittel- und großstädtischem Praxisstandort schätzen Leitlinien der Umfrage zufolge positiv ein, bei jenen in Kleinstädten und in ländlichen Gemeinden sind es dagegen lediglich 36 Prozent.
- 70 Prozent sehen Leitlinien dennoch als nützlich für eine verstärkte Evidenzorientierung an, 58 Prozent glauben, sie seien nützlich dafür, Unter- und Überversorgung abzubauen.
- Je 26 Prozent der Hausärzte und -ärztinnen geben an, Leitlinien im hausärztlichen Alltag häufig oder gelegentlich anzuwenden. 36 Prozent tun dies eher selten und 12 Prozent nie.
- Insbesondere Praktizierende in ländlichen Regionen und oberhalb des Durchschnittsalters von 54 Jahren sehen in den Leitlinien überwiegend eine Beschneidung der ärztlichen Handlungsfreiheit.
Die Mehrheit der Befragten legt laut Umfrage Wert darauf, dass die gemeinnützige Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin genuin Leitlinien erarbeiten soll. Das allerdings ist nicht der einzige Wunsch.
Auf Nachfrage ergab sich, dass sich 45 Prozent wünschen, nicht medikamentöse Behandlungen stärker zu beachten. Außerdem halten es 40 Prozent für wichtig, sich mehr mit Fragen der Lebensqualität auseinanderzusetzen. Ebenfalls Thema: Therapieoptionen vergleichen und dabei auch alternative Therapiemethoden einbeziehen.
Insbesondere Ärzte, die Leitlinien nur selten anwenden, wollen stärker in deren Entwicklung miteinbezogen werden. Hier gibt es einen möglichen Ansatz, damit künftig noch mehr Patientinnen und Kranke die Behandlung bekommen, die ihnen wirklich hilft.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.