Direkt zum Inhalt

Unbekannte Tierarten: Manchmal sieht man nur mit dem DNA-Test gut

Etliche Tierarten wurden jahrhundertelang übersehen, weil sie sich äußerlich kaum von ihren Verwandten unterscheiden. Mit modernen Methoden bringen Biologen nun immer mehr dieser kryptischen Vielfalt ans Licht.
Rinjani-Zwergohreule

Ein seltsames Pfeifen hallte durch die Dämmerung, geheimnisvolle Stimmen schienen sich eine Art akustisches Duell zu liefern. Oder sangen sie eher ein Duett? George Sangster vom Schwedischen Naturkundemuseum in Stockholm war jedenfalls fasziniert. Eigentlich war er mit seiner Frau auf die indonesische Insel Lombok gekommen, um die Rufe der Langschwanz-Nachtschwalbe (Caprimulgus macrurus) – einer Art Ziegenmelker – genauer zu analysieren. Doch nun gab es zu Füßen des Vulkans Gunung Rinjani noch Interessanteres zu hören. Die Forscher zeichneten die rätselhaften Geräusche auf und spielten sie wieder ab, um die unbekannten Rufer anzulocken. Tatsächlich entdeckten sie im Scheinwerferlicht mehrere Zwergohreulen, die sich von den Lautsprechern offenbar herausgefordert fühlten.

Nun ist die Anwesenheit dieser Nachtvögel in Indonesien keine Überraschung. Wissenschaftler haben in der dortigen Inselwelt schließlich schon mehrere Arten der Gattung Otus beschrieben, auf Lombok sollte nach gängiger Lehrmeinung die Molukken-Zwergohreule (Otus magicus) leben – nur klang deren Stimme ganz anders als die von George Sangsters nächtlichen Besuchern. Und auch zu den übrigen Arten der Region wollte das Pfeifkonzert so gar nicht passen. Dabei sind bei Eulen gerade die Rufe sehr typisch für die einzelnen Arten.

Neue Eulen für Lombok

Lebte also eine bis dahin unbekannte Eule auf Lombok? George Sangster hielt das durchaus für wahrscheinlich. Und nicht nur er. Nur ein paar Tage nach seinem schwedischen Kollegen wunderte sich auch Ben King vom American Museum of Natural History in New York über die exzentrischen Laute, die er in einer anderen Region der Insel hörte. "Das war ein echter Zufall", schildert George Sangster die praktisch gleichzeitige Entdeckung. "Zumal seit hundert Jahren niemandem irgendetwas Besonderes an diesen Eulen aufgefallen war." So lange war die Eule auf Lombok schon bekannt, doch hatte man sie eben stets der Molukken-Zwergohreule zugeordnet.

Rinjani-Zwergohreule | Ein Jahrhundert lang ordnete man sie der falschen Art zu. Erst als Biologen genau zuhörten, identifizierten sie die Rinjani-Zwergohreule als eigenständige Spezies.

Inzwischen sind die beiden Forscher zusammen mit weiteren Kollegen der Sache auf den Grund gegangen. Akribisch haben sie Rufe und Museumsexemplare von allen möglichen indonesischen Zwergohreulen verglichen und ihren Verdacht bestätigt gefunden: Seit Februar ist die aus rund 50 Arten bestehende Gattung der Zwergohreulen um ein weiteres Mitglied reicher: die Rinjani-Zwergohreule (Otus jolandae) vor, die nur auf der Insel Lombok lebt.

Solche Entdeckungsgeschichten sind keineswegs selten, denn in sämtlichen Lebensräumen der Erde scheinen sich noch zahllose unerkannte Arten zu verbergen. Und dabei handelt es sich nicht nur um scheue Heimlichtuer, die bislang noch kein Forscher zu Gesicht bekommen hat. Im Gegenteil: So manche biologische Neuentdeckung hatte zuvor schon seit Jahrhunderten vor der Nase von Wissenschaftlern gelebt. Nur war sie unter ähnlich aussehenden Verwandten eben nicht weiter aufgefallen. Solche "kryptischen Arten" lassen sich oft nur durch einen Blick ins Erbgut entlarven: Mit den modernen Methoden der Molekularbiologie haben Forscher in den letzten Jahren immer wieder festgestellt, dass sich hinter einem altbekannten Namen in Wirklichkeit drei oder vier verschiedene Arten verbergen – oder sogar noch mehr. Eine regelrechte Inflation hat es zum Beispiel bei den Lemuren gegeben. Von diesen urtümlichen Primaten, die auf Madagaskar leben, waren 1999 immerhin 31 Arten bekannt. Im Jahr 2008 waren es schon 97.

Allerdings kann man bei der Fahndung nach kryptischen Arten auch auf ganz klassischem Weg Erfolg haben – aufmerksames Zuhören zum Beispiel ist nicht nur bei Eulen sinnvoll. Auch bei anderen Vögeln, bei Fledermäusen oder Fröschen lassen sich äußerlich ähnliche Arten oft gut an der Stimme unterscheiden. Und bei eher schweigsamen Vertretern der Tierwelt hilft vielleicht auch genaues Hinschauen, selbst wenn das in manchen Fällen ein bisschen indiskret ist.

Was ein Penis verrät

"Bei Schnecken finden sich die wichtigsten anatomischen Unterscheidungsmerkmale an den Genitalien", erzählt beispielsweise Heike Reise vom Senckenberg Museum für Naturkunde in Görlitz. Sie und ihre Kollegen beschäftigen sich mit landlebenden Nacktschnecken, vor allem mit den Ackerschnecken der Gattung Deroceras. "Von diesen Tieren sind bisher ungefähr hundert Arten beschrieben, es gibt mit Sicherheit aber noch mehr", meint die Forscherin. Äußerlich sehen die Tiere sich allerdings ziemlich ähnlich. Es gibt zwar durchaus Unterschiede in Größe und Färbung, doch beides kann innerhalb der gleichen Art ebenfalls beträchtlich variieren.

Umso lohnender ist ein genauer Blick auf den Penis der Tiere. Denn der kann je nach Art mit den verschiedensten Anhängseln und Seitentaschen, Drüsen und Falten ausgerüstet sein. Wozu all diese Strukturen dienen, ist in vielen Fällen noch rätselhaft. Jedenfalls scheint jede Art ein etwas abgewandeltes Design entwickelt zu haben. Und da Ackerschnecken Zwitter sind, besitzt auch jedes Tier einen Penis mit den entsprechenden Merkmalen. "Man muss allerdings bedenken, dass es sich dabei um Weichteile handelt", sagt Heike Reise. Anders als etwa ein starres Insektenbein lässt sich ein Schneckenpenis deshalb nur schlecht vermessen. Und sein Aussehen hängt auch davon ab, wie er gerade liegt. Das macht den Forschern die Arbeit nicht gerade leichter. Zumal auch die Unterscheidungsmerkmale an den Geschlechtsorganen nicht immer ganz eindeutig sind.

"Mit Anatomie allein kommt man deshalb bei der Bestimmung oft nicht weiter", erklärt Reise. "Viel aufschlussreicher ist das Paarungsverhalten." Gerade die Mitglieder der Gattung Deroceras sind für ihre reichlich exzentrischen sexuellen Gewohnheiten bekannt. Da leisten sich die Tiere ein langes Vorspiel, winden sich umeinander und streicheln sich mit speziellen Reizkörpern. Dann plötzlich stülpen beide Partner gleichzeitig ihre männlichen Geschlechtsorgane aus und übertragen Sperma von einem Penis zum anderen – und zwar wechselseitig und oft in rasantem Tempo. Bei einigen Arten schießen die Genitalien fast explosionsartig hervor und die Übergabe ist in nicht einmal einer Sekunde erledigt.

Baumfrosch | Gerade im Amazonasbecken warten noch zahlreiche unbekannte Arten auf ihre Entdeckung. Allein bei den Amphibien könnte es noch 1900 kryptische Spezies geben.

Um diese Vorgänge genau beobachten und analysieren zu können, holen sich die Görlitzer Forscher lebende Schnecken ins Labor. Sie setzen jeweils zwei paarungsbereite Tiere zusammen und nehmen sämtliche sexuellen Handlungen aus verschiedenen Perspektiven auf Video auf – stilecht bei Rotlicht. "Das können die Schnecken nicht sehen, so dass sie nicht gestört werden", erläutert die Görlitzer Biologin. Die so gedrehten Sexfilme aus der Weichtierwelt zeigen deutliche Unterschiede zwischen den Arten. Mal dauert das Vorspiel länger, mal kürzer, mal werden zu unterschiedlichen Zeiten bestimmte Drüsen ausgestülpt. Mal führen die Tiere ihre Geschlechtsorgane unter dem Körper zusammen, mal ist der Kontakt von oben zu erkennen. Wenn die Forscher solche Abweichungen im Paarungsverhalten beobachtet haben, lassen sich auf den zweiten Blick oft auch noch feine anatomische Unterschiede zwischen den Tieren entdecken. "Auf diese Weise sind wir schon mehrmals auf kryptische Arten aufmerksam geworden", sagt Heike Reise.

Fahndungserfolge

In einem dieser Fälle geht es um eine inzwischen fast weltweit verbreitete Ackerschnecke, die sich als Schädling in Gemüsekulturen unbeliebt gemacht hat. Wissenschaftler hatten diese kriechenden Kosmopoliten lange für Vertreter der Mittelmeer-Ackerschnecke (Deroceras panormitanum) gehalten, die ursprünglich aus Süditalien stammt. Zwar gab es schon länger den Verdacht, dass sich hinter diesem Namen mehrere Arten verbergen könnten. Doch so ganz sicher war niemand. Bis Heike Reise und ihre Kollegen feststellten, dass sich das Paarungsverhalten von Süditalienern und Kosmopoliten massiv unterscheidet. Nun heißt der Schädling Deroceras invadens.

Als nächstes wollen die Senckenberg-Forscher anhand von genetischen Markern untersuchen, ob die gefräßigen Gemüsevertilger weltweit alle zu dieser neuen Art gehören. Hinter der bekannten Schadschnecke könnten sich schließlich durchaus noch mehr kryptische Arten verbergen. Das aber wäre nicht nur für Systematiker interessant. Heike Reise und ihre Kollegen erhoffen sich von ihrer Arbeit auch Hinweise darauf, warum diese Schädlinge so erfolgreich sind, und wie man sie vielleicht besser bekämpfen kann. Und sie wollen herausfinden, ob die strengen Kontrollen und drastischen Bekämpfungsmaßnahmen sinnvoll sind, mit denen die USA eine weitere Einschleppung der kriechenden Kosmopoliten verhindern wollen. Wenn in Nordamerika schon das gleiche gefräßige Kollektiv unterwegs ist wie in Europa, kann man sich den teuren Aufwand vielleicht sparen.

Ein zweiter Fahndungserfolg des Görlitzer Teams hat dagegen keine wirtschaftliche Bedeutung. Die bis vor Kurzem als Deroceras rodnae bekannten Schnecken krochen friedlich durch Wälder und Bergland der Sächsischen und Böhmischen Schweiz, ohne irgendwelche nennenswerten Schäden anzurichten. Anhand des Paarungsverhaltens hat sich nun herausgestellt, dass ihr Bestand in eine westliche und eine östliche Art zerfällt, deren Verbreitungsgebiete in der Sächsischen Schweiz zusammenstoßen. Die westlichen Weichtiere gehören nun zur bislang unerkannten Art Deroceras juranum, die östlichen heißen weiter Deroceras rodnae. Wobei Letztere möglicherweise noch eine weitere kryptische Art in ihren Reihen haben, die bisher noch nicht beschrieben ist und die nur in der Sächsischen und der Böhmischen Schweiz vorkommt. "Das aber wäre aus Naturschutzsicht sehr interessant", sagt Reise. Solche so genannten Endemiten, die weltweit nur in einem einzigen, kleinen Gebiet leben, stehen auf der Prioritätenliste von Artenschützern schließlich ziemlich weit oben. Egal, ob es sich um eine einzigartige Eule auf Lombok handelt oder um eine Schnecke aus der Sächsischen Schweiz.

Neuigkeiten für den Artenschutz

Auch für Naturschützer liefert die Fahndung nach neuen Arten also interessante Informationen. So gelten viele Tiere und Pflanzen wegen ihrer großen Verbreitung als nicht akut gefährdet. Was aber, wenn es sich gar nicht um eine einzige Art handelt? Dann hätte man es plötzlich mit einer ganzen Reihe von Kandidaten mit viel kleineren Beständen und Verbreitungsgebieten zu tun, die also stärker bedroht wären als bisher angenommen.

Unbekannte Kröte | Allein während einer einzigen Expedition entdeckte ein Team um Chris Funk zwölf neue Amphibienarten wie diese winzige Kröte.

Einem solchen Fall sind Reises Kollegen von den Senckenberg Naturhistorischen Sammlungen in Dresden auf die Spur gekommen. Das Team um Uwe Fritz hat sich mit der Chinesischen Weichschildkröte (Pelodiscus sinensis) beschäftigt. Diese bizarren Tiere mit dem weichen Panzer, dem langen, biegsamen Hals und der rüsselartigen Nase hat der deutsche Zoologe Arend Friedrich August Wiegmann 1835 zum ersten Mal beschrieben. Zwei Tiere, die ihm damals das Vorbild für diese Artbeschreibung lieferten, lagern heute noch im Berliner Museum für Naturkunde. Eines davon war für genetische Untersuchungen zu alt und zu vertrocknet, aus dem anderen aber konnten die Forscher das Erbmaterial DNA isolieren. Dessen Sequenzen haben sie mit denen von heute noch lebenden Chinesischen Weichschildkröten verglichen – und siehe da: Statt einer Art verbergen sich hinter dem Namen Pelodiscus sinensis mindestens vier.

Das hat gleich mehrere Konsequenzen: Zum einen sind diese Reptilien nicht nur in der asiatischen Küche beliebt. Da sie sich leicht züchten lassen, kommen sie oft auch als Versuchstiere in physiologischen und embryologischen Studien zum Einsatz. "Bisher wurden diese Schildkröten zwar als Modell in vielen wissenschaftlichen Arbeiten verwendet, aber keiner wusste, welche Art es denn war", erläutert Uwe Fritz. Das aber hat mitunter zu ziemlich widersprüchlichen Ergebnissen geführt, weil bei den einzelnen Versuchen unterschiedliche Arten am Start waren. Zudem sind die neuen Erkenntnisse wichtig für den Schutz der Tiere: Die Weltnaturschutzunion IUCN führt Pelodiscus sinensis als "gefährdet" auf der Roten Liste der bedrohten Arten. Einige der neu entdeckten kryptischen Arten aber sind wohl noch stärker bedroht, befürchten die Dresdner Forscher.

"Dass wir so wenig über die Artenvielfalt wissen, ist eine der größten Herausforderungen für den Naturschutz", meint auch in Fort Collins. Er und seine Kollegen haben unter den Fröschen des Amazonasbeckens nach kryptischen Arten gesucht. Sie befürchten nämlich, dass gerade bei diesen Tieren nicht mehr viel Zeit für Bestandsaufnahmen bleibt, denn weltweit schrumpfen die Bestände vieler Amphibien in alarmierendem Tempo. In Ecuador und fünf weiteren Ländern haben sich die Froschfahnder auf die Suche nach bis dahin unbekannten Vertretern der Gattungen Engystomops und Hypsiboas gemacht. Sie haben DNA-Proben gesammelt, die Größe und Form verschiedener Amphibien vermessen und die Stimmen der Tiere analysiert. Der Erfolg der aufwändigen Suche kann sich sehen lassen. Statt der bekannten zwei Arten von Engystomops leben im Amazonasregenwald zwischen fünf und sieben. Und die Hypsiboas-Laubfrösche stellen statt zwei Vertretern sogar sechs bis neun. "Diese Arten sind seit Millionen von Jahren da, aber erst jetzt können wir sie dank neuer Techniken entdecken", freut sich Chris Funk.

Zwar sei das Amazonasbecken längst als biologische Schatzkammer bekannt, betont der Wissenschaftler. "Trotzdem haben wir seine Artenvielfalt offenbar immer noch unterschätzt." Noch wissen er und seine Kollegen nicht, ob sich auch in anderen Gattungen ein ähnlich hoher Prozentsatz von kryptischen Arten verbirgt. Sollte das aber der Fall sein, könnten allein in Amazonien nach Schätzungen der Forscher noch mehr als 1900 Amphibienarten auf ihre Entdeckung warten – zum Vergleich: Weltweit kennt man bislang insgesamt rund 6500 Spezies. "Und dabei sind Frösche und andere Wirbeltiere noch relativ gut untersucht", sagt Chris Funk. Was mag sich erst alles in weniger gut erforschten Gruppen wie den Insekten oder Pilzen verbergen? Für Arten-Fahnder gibt es also noch viel zu tun.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.