News: Mangelmutante
Irgendwann vor mehr als zwei Millionen Jahren betrat die Gattung Homo die Bühne der Evolution, ausgestattet mit einem großen Gehirn und - einem kleinen Gebiss. Die unterentwickelte Kiefermuskulatur könnte die Karriere des Emporkömmlings begründet haben.
Hansell Stedman hat sich bisher wenig mit den Vorfahren der Menschheit beschäftigt. Als Chirurg der University of Pennsylvania interessiert er sich eher für den Magen-Darm-Trakt seiner heutigen Patienten. Doch die Wege der Wissenschaft sind sonderbar, und so führte ihn ein Zufall in die Tiefen der menschlichen Evolution.
Denn neben seinen Pflichten als praktizierender Arzt forscht Stedman schon seit längerer Zeit über Muskeldystrophien, also erblich bedingten Muskelerkrankungen, die zu einem fortschreitenden Schwund der Muskulatur bei den Betroffenen führt. Zusammen mit seinen Kollegen durchforstete er daher die Daten aus dem Humangenomprojekt und wurde hier tatsächlich fündig: Auf Chromosom 7 liegt das Gen MYH16, ein bisher wenig beachteter Erbfaktor, der für eine Kette des Muskelproteins Myosin im Kiefer codiert.
Als die Forscher das Gen sich ein wenig näher anschauten, wurden sie stutzig: Das Gen wird in den Zellen der Kiefermuskulatur zwar abgelesen – die Abschrift der Boten-RNA ließ sich nachweisen – das zugehörige Protein MYH16 suchten die Wissenschaftler jedoch vergeblich. Lag hier eine erblich bedingte Muskelerkrankung vor?
Tatsächlich: Weitere Untersuchungen zeigten, dass an einer bestimmten Stelle in der DNA zwei Basen fehlten. Das Leseraster war durch den Ausfall verschoben, die Information für sämtliche nachfolgende Aminosäuren musste daher falsch sein, ein funktionsfähiges Protein konnte hieraus nicht entstehen.
Soweit noch kein überraschendes Ergebnis, sind doch derartige Leserastermutationen nicht ungewöhnlich. Folglich interessierten sich die Forscher nun dafür, wie häufig diese Mutation in der Bevölkerung auftritt. Sie ließen sich daher DNA-Proben aus der ganzen Welt zuschicken – und erlebten jetzt eine Überraschung: Die Häufigkeit betrug 100 Prozent. Egal ob die Proben aus Afrika, Südamerika, dem Baskenland, Island, Japan oder Russland stammten, überall trat im Gen MYH16 exakt die gleiche Mutation auf – die gesamte heutige Menschheit scheint an der gleichen "Muskelkrankheit" zu leiden.
Ganz anders sah es dagegen bei unseren tierischen Verwandten aus: Schimpanse, Bonobo, Gorilla, Orang-Utan, Rhesusaffe, Makak oder Wollaffe, sie alle konnten ein funktionsfähiges Protein MYH16 in ihrem Kiefer produzieren.
Unter der Annahme, dass die Mutationsrate in der Geschichte der Menschheit und seiner Vorfahren einigermaßen konstant geblieben ist, konnten die Forscher die Mutation datieren. Das Ergebnis: Die Mutation muss vor etwa 2,4 Millionen Jahren aufgetreten sein.
Jetzt wird es spannend: Ziemlich genau vor dieser Zeit betrat die Gattung Homo die Bühne der Evolution; die ältesten bekannten menschlichen Fossilien sind 2,3 Millionen Jahre alt. Und diese Fossilien unterscheiden sich in einem Punkt deutlich von ihren Vorgängern, den Australopithecinen: Sie weisen – wie heutige Menschen und im Gegensatz zu Affen – einen schwach ausgeprägten Kieferapparat auf.
Das Ergebnis verleitet Stedman und seine Kollegen zu einem mutigen Schluss: Bei unseren Vorfahren trat jene "Muskelkrankheit" auf, wodurch die Kiefermuskulatur geschwächt und der Kiefer damit kleiner und weniger funktionsfähig wurde. Damit war jedoch die gesamte Schädelarchitektur verändert – der Verzicht auf einen kräftigen Kauapparat schuf Platz für ein größeres Gehirn.
Eine Erbkrankheit als Voraussetzung für die menschliche Entwicklung? "Wir behaupten nicht, dass diese Mutation allein uns als Homo sapiens definiert", gibt Stedman angesichts seiner gewagten Hypothese zu. Anthropologen wie Owen Lovejoy von der Kent State University zeigen sich weniger begeistert: "Solch eine Behauptung widerspricht den Grundlagen der Evolution. Derartige Mutationen haben wahrscheinlich nur geringe Folgen." Und sein Kollege Ralph Holloway von der Columbia University geht mit seiner Kritik noch weiter: "Die Vorstellung, das Gehirn wird von der Kaumuskulatur behindert, ist einfach Blödsinn."
Auch der Biologe Peter Currie vom australischen Victor Chang Cardiac Research Institute äußert sich skeptisch. Schließlich bleibe rätselhaft, warum sich eine solche Mutation, die ja wohl zunächst schädlich war, so hartnäckig in unserem Erbgut halten konnte. Es könnte allerdings sein, dass die damaligen Hominiden gleichzeitig ihre Ernährungsgewohnheiten umgestellt haben und mehr weicheres Fleisch statt harter Pflanzenkost bevorzugten. Oder sie setzten verstärkt ihre Hände statt ihrer etwas verkümmerten Kiefer bei der Suche nach dem täglich Brot ein.
Denn neben seinen Pflichten als praktizierender Arzt forscht Stedman schon seit längerer Zeit über Muskeldystrophien, also erblich bedingten Muskelerkrankungen, die zu einem fortschreitenden Schwund der Muskulatur bei den Betroffenen führt. Zusammen mit seinen Kollegen durchforstete er daher die Daten aus dem Humangenomprojekt und wurde hier tatsächlich fündig: Auf Chromosom 7 liegt das Gen MYH16, ein bisher wenig beachteter Erbfaktor, der für eine Kette des Muskelproteins Myosin im Kiefer codiert.
Als die Forscher das Gen sich ein wenig näher anschauten, wurden sie stutzig: Das Gen wird in den Zellen der Kiefermuskulatur zwar abgelesen – die Abschrift der Boten-RNA ließ sich nachweisen – das zugehörige Protein MYH16 suchten die Wissenschaftler jedoch vergeblich. Lag hier eine erblich bedingte Muskelerkrankung vor?
Tatsächlich: Weitere Untersuchungen zeigten, dass an einer bestimmten Stelle in der DNA zwei Basen fehlten. Das Leseraster war durch den Ausfall verschoben, die Information für sämtliche nachfolgende Aminosäuren musste daher falsch sein, ein funktionsfähiges Protein konnte hieraus nicht entstehen.
Soweit noch kein überraschendes Ergebnis, sind doch derartige Leserastermutationen nicht ungewöhnlich. Folglich interessierten sich die Forscher nun dafür, wie häufig diese Mutation in der Bevölkerung auftritt. Sie ließen sich daher DNA-Proben aus der ganzen Welt zuschicken – und erlebten jetzt eine Überraschung: Die Häufigkeit betrug 100 Prozent. Egal ob die Proben aus Afrika, Südamerika, dem Baskenland, Island, Japan oder Russland stammten, überall trat im Gen MYH16 exakt die gleiche Mutation auf – die gesamte heutige Menschheit scheint an der gleichen "Muskelkrankheit" zu leiden.
Ganz anders sah es dagegen bei unseren tierischen Verwandten aus: Schimpanse, Bonobo, Gorilla, Orang-Utan, Rhesusaffe, Makak oder Wollaffe, sie alle konnten ein funktionsfähiges Protein MYH16 in ihrem Kiefer produzieren.
Unter der Annahme, dass die Mutationsrate in der Geschichte der Menschheit und seiner Vorfahren einigermaßen konstant geblieben ist, konnten die Forscher die Mutation datieren. Das Ergebnis: Die Mutation muss vor etwa 2,4 Millionen Jahren aufgetreten sein.
Jetzt wird es spannend: Ziemlich genau vor dieser Zeit betrat die Gattung Homo die Bühne der Evolution; die ältesten bekannten menschlichen Fossilien sind 2,3 Millionen Jahre alt. Und diese Fossilien unterscheiden sich in einem Punkt deutlich von ihren Vorgängern, den Australopithecinen: Sie weisen – wie heutige Menschen und im Gegensatz zu Affen – einen schwach ausgeprägten Kieferapparat auf.
Das Ergebnis verleitet Stedman und seine Kollegen zu einem mutigen Schluss: Bei unseren Vorfahren trat jene "Muskelkrankheit" auf, wodurch die Kiefermuskulatur geschwächt und der Kiefer damit kleiner und weniger funktionsfähig wurde. Damit war jedoch die gesamte Schädelarchitektur verändert – der Verzicht auf einen kräftigen Kauapparat schuf Platz für ein größeres Gehirn.
Eine Erbkrankheit als Voraussetzung für die menschliche Entwicklung? "Wir behaupten nicht, dass diese Mutation allein uns als Homo sapiens definiert", gibt Stedman angesichts seiner gewagten Hypothese zu. Anthropologen wie Owen Lovejoy von der Kent State University zeigen sich weniger begeistert: "Solch eine Behauptung widerspricht den Grundlagen der Evolution. Derartige Mutationen haben wahrscheinlich nur geringe Folgen." Und sein Kollege Ralph Holloway von der Columbia University geht mit seiner Kritik noch weiter: "Die Vorstellung, das Gehirn wird von der Kaumuskulatur behindert, ist einfach Blödsinn."
Auch der Biologe Peter Currie vom australischen Victor Chang Cardiac Research Institute äußert sich skeptisch. Schließlich bleibe rätselhaft, warum sich eine solche Mutation, die ja wohl zunächst schädlich war, so hartnäckig in unserem Erbgut halten konnte. Es könnte allerdings sein, dass die damaligen Hominiden gleichzeitig ihre Ernährungsgewohnheiten umgestellt haben und mehr weicheres Fleisch statt harter Pflanzenkost bevorzugten. Oder sie setzten verstärkt ihre Hände statt ihrer etwas verkümmerten Kiefer bei der Suche nach dem täglich Brot ein.
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