Eissturz an der Marmolata: Mehrere Faktoren machten den Gletscher instabil
Mindestens sieben Menschen starben bei der zerstörerischen Lawine an der Flanke des Bergs Marmolata in den Dolomiten, als ein Teil eines Gletschers am 3. Juli 2022 abbrach und zu Tal stürzte. Acht weitere Menschen wurden verletzt. Bis zu ein Dutzend weitere Opfer werden unter den Schuttmassen des Lawinenkegels vermutet. Über die genaue Ursache gibt es bisher keine offizielle Angabe, einiges spricht aber dafür, dass Wasser den Gletscher in Italien brechen ließ. Allerdings hat das Unglück eine lange Vorgeschichte, die solche potenziell katastrophalen Ereignisse auch in Zukunft häufiger werden lässt.
Gletscher wie jene an der Marmolata sind keine einheitlichen Eisblöcke. Sie bestehen aus unterschiedlich aufgebauten Schichten und sind von Klüften durchzogen. Vor allem aber enthalten sie oft Wasser, das durch den Gletscher sickert, die Spalten durchströmt und sich sogar in Seen unter dem Eis sammeln kann. Womöglich ließ solch ein See unter dem Eis, eine Wassertasche, den Gletscher bersten, vermutet der Meteorologe Daniel Schrott auf Twitter.
Incredible footage from an helicopter of the mountain rescue of the basal detachment in Marmolada.
— Alpine-Adriatic Meteorological Society (@aametsoc) July 3, 2022
Water lubrication at the base (or interstrata) and increased pressure in water-filled crevasses are probably the main causes for this catastrophic event pic.twitter.com/2OXRExkdjy
Dass angesammeltes Schmelzwasser Katastrophen an Gletschern auslösen kann, ist nicht neu. So starben am Mont-blanc etwa 200 Menschen, als 1892 rund 200 000 Kubikmeter Wasser aus dem Tête-Rousse-Gletscher strömten. Im Jahr 2010 pumpten Fachleute in einer beispiellosen Aktion eine weitere solche Tasche im Gletscher ab, um ein erneutes Ereignis dieser Art zu verhindern. Allerdings war die Katastrophe an der Marmolata keine Flut, sondern eine Lawine.
Ein warmes Jahr von vielen
Deswegen war es möglicherweise der Druck des Wassers, der den Marmolata-Gletscher bersten ließ, schreibt die Società Meteorologica Alpino-Adriatica. Dazu trug wohl auch die Form des Geländes unter dem Gletscher bei. Der Eisabbruch ereignete sich nahe einer Stelle, an der der Berghang von einem relativ flachen Teil, als Cirque bezeichnet, in einen steileren Hang übergeht. Der Gletscher reicht nicht den ganzen Hang hinab, sondern bildet einen hängenden Gletscher, der über dem Abhang Eisklippen und -türme, so genannte Séracs, bildet. Solche Bereiche werden bei hohen Temperaturen besonders leicht instabil.
Im Jahr 2022 kamen außerdem gleich mehrere Faktoren zusammen, die Gletscher schwächen. Zum einen waren Mai und Juni im gesamten Alpenraum sehr warme Monate. Sogar am Marmolata-Gletscher in rund 3000 Meter Höhe lagen die Temperaturen fast den ganzen Juni hindurch über dem Gefrierpunkt. Dadurch schmolz auf dem Gletscher ein großer Teil der schützenden Schneedecke.
Schnee fiel dieses Jahr ohnehin sehr wenig in den Alpen. Bis zu 70 Prozent dünner war die mittlere Schneebedeckung auf den Gletschern. Satellitenaufnahmen des Marmolata-Gletschers vom 27. Juni zeigen, dass große Bereiche dunklen Eises frei lagen, die mehr Sonnenwärme absorbieren als die helle Schneedecke. Den gleichen Effekt hat Saharastaub, der im Frühjahr 2022 gleich mehrfach in den Alpen niederging und Sonnenlicht stärker absorbiert als eine saubere Schneedecke.
All diese Faktoren trugen dazu bei, dass enorme Mengen Schnee und Eis schmolzen und in den Gletscher liefen. Zusätzlich regnete es in den letzten Junitagen. All das spricht dafür, dass Schmelzwasser eine Rolle beim Zusammenbruch des Gletschers spielte und die Lawine auslöste. Das auf dem Gletscher entstehende Schmelzwasser läuft nämlich nicht direkt ins Tal, sondern sickert teilweise durch Spalten in den Gletscher hinein.
Dadurch steigt der Wasserdruck in den Hohlräumen des Gletschers und destabilisiert die Eismassen gleich auf zwei Arten: Zum einen verringert höherer Wasserdruck an der Gletschersohle, dem Kontaktbereich zum Untergrund, die Reibung zwischen Gletscher und Fels. Zum anderen stemmt der Druck die wassergefüllten Hohlräume zwischen den Gletscherschichten auf und vergrößert sie. Gleichzeitig transportiert das Wasser Wärmeenergie ins Innere des Gletschers, so dass Eisbereiche, die den Gletscher stabilisieren, sich nach und nach erwärmen, dadurch an Festigkeit verlieren oder gar abschmelzen.
Die Zukunft ist eisfrei
Warum der Gletscher genau in jenem Moment schließlich brach, ist unklar – zwar war es zu der Zeit warm, aber es hatte in den Wochen davor schon heißere Tage gegeben. Ebenso lagen die stärksten Regenfälle bereits rund eine Woche zurück. Möglicherweise näherte sich der Gletscher einfach durch all diese Prozesse nach und nach einem kritischen Punkt, an dem schließlich der betroffene Bereich kollabierte.
Die Vorgeschichte der Katastrophe begann allerdings keineswegs erst mit dem besonders warmen Frühjahr 2022. Der heutige Marmolata-Gletscher ist nur ein Überrest der einst etwa zehnmal so großen Eismassen. Noch in den 1970er Jahren erreichte eine ähnliche Lawine aus Eis und Schutt vom Gletscher aus den zirka 1000 Meter tiefer liegenden Fedaia-Stausee und löste eine kleine Flutwelle aus. Doch der Klimawandel trifft steile, gipfelnahe Gletscher wie an der Marmolata besonders stark, denn diese bleiben nur bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt stabil.
Warme Phasen machen solche Gletscher schnell instabil, so dass sie sich durch die steigenden Temperaturen im Alpenraum stark zurückziehen. Schon in wenigen Jahrzehnten, schätzen Fachleute, könnte der Marmolata-Gletscher komplett verschwunden sein. Dasselbe Szenario droht auch bei vielen anderen Alpengletschern, weil die Alpen eine der Regionen in der Welt sind, in denen die Gletscher besonders stark schrumpfen: Zwischen 1997 und 2017 verloren sie im Mittel 24 Meter an Dicke.
Deswegen wird der Marmolata-Eissturz wohl nicht der letzte Gletscherbruch dieser Art sein. Auf ihrem Rückzug in höhere Lagen werden die alpinen Eisströme immer öfter ganz ähnliche Konstellationen erzeugen: hängende Gletscher mit instabilen Eisklippen. Gleichzeitig werden sich warme, schneearme Perioden häufen, in deren Folge instabile Gletscher ins Tal krachen.
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