News: Maßgeschneiderte Zelloberflächen
„Unser vorrangiges Ziel ist es, die Zelloberfläche zu kontrollieren“, sagt Bertozzi, Mitglied des Biomolecular Materials Program der Materials Sciences Division am Berkeley Lab und Assistenzprofessorin für Chemie an der University of California in Berkeley. „Wir haben angefangen, die bio-organische Chemie der Zellen so weit zu verstehen, daß wir Zellen wie komplexe Maschinen behandeln können – um wirkliche zelluläre Ingenieursarbeit zu leisten.“
Auf allen Zelloberflächen befinden sich Oligosaccharide – komplexe Strukturen, aus einfachen Zuckern bestehend. Verschiedene Arten von Zellen weisen unterschiedliche Oligosaccharide auf, und sogar die gleiche Art von Zellen weist verschiedene Muster auf, je nach ihrem Entwicklungsstadium oder je nach der Umgebung. Dadurch hat die Zelle eine für sie charakteristische Oberfläche, welche die Interaktion mit der Außenwelt bestimmt.
„Wir haben uns gefragt, wie wir aus diesen Unterschieden Kapital schlagen können“ sagt Bertozzi. Zusammen mit seinen Mitarbeitern Lara Mahal und Kevin Yarema begann Bertozzi neue Zelloberflächen zu entwerfen, die sich an synthetische Materialien anheften würden. „Wir entschlossen uns, den natürlichen Stoffwechsel der Zelle auszunutzen, um maßgeschneiderte Oligosaccharide zu bekommen.“
Bertozzi folgerte, daß, wenn die Zelle richtig entworfenen synthetischen Zucker mit neuartigen chemischen Eigenschaften als Nahrung aufnimmt, der Zucker möglicherweise in ein Oligosaccharid integriert und an die Oberfläche transportiert würde. Das Ergebnis wäre eine Zelle mit neuen Oberflächeneigenschaften.
Um die Technik zu demonstrieren, wählten die Wissenschaftler ein Analogon zur Sialsäure, einem Zucker, der in seiner natürlichen Form oft in den Oligosacchariden menschlicher Zellen gefunden wird. „Wir planten einen Zucker zu verwenden, der mit der Sialsäure verwandt ist, einer, der eine nicht natürliche funktionale Gruppe trägt. Wir hofften, daß die Zellen, wenn sie diesen Zucker zu sich nehmen, ihn zusammen mit seiner funktionalen Gruppe in ihre Oligosaccharide einbauen und dadurch mit den künstlichen Markern ausgestattet würden.“
Zur Markierung der Sialsäure benötigte Bertozzis Team eine funktionale Gruppe, die man normalerweise nicht auf Zelloberflächen findet, die aber auch nicht schädlich war; diese Gruppe sollte mit anderen Gruppen auf synthetischen Materialien reagieren können – und zwar unter physiologischen Bedingungen, wie einer feuchten Umgebung und den bei Säugetieren vorkommenden Körpertemperaturen.
Die Wissenschaftler wählten eine Ketongruppe. Ketone, die selten auf Zelloberflächen gefunden werden, reagieren stark mit einer funktionalen Gruppe namens Hydrazid; die spezielle Reaktivität der Ketongruppe könnte eine selektive Affinität für Materialien ermöglichen, die Hydrazid-Gruppen enthalten, wie beispielsweise Keramik, organische Dünnschichten und Metalle.
Der chemische Vorläufer der Sialsäure ist N-acetyl-Mannosamin – auch bekannt unter dem Begriff ManNAc. Bertozzi und ihre Kollegen versorgten Zellen mit einem künstlich synthetisierten Vorläufer genannt ManLev, der identisch ist, bis auf die Tatsache, daß er eine Keton-Gruppe enthält. Die Zellen erzeugten deshalb Sialsäure-Oligosaccharide mit Ketongruppen und bauten sie in großer Menge in ihre Oberflächen ein – über eine Million Kopien an den Oberflächen der meisten Zellen. Darüber hinaus entdeckten die Forscher, daß sie das Vorkommen der Ketone durch Regulierung des Mengenverhältnisses von natürlichem (ManNAc) und künstlichem (ManLev) Vorläufers, die in die Zellen gegeben wurden, präzise steuern konnten.
Die Technik, Zelloberflächen zu modifizieren, um spezifische Reaktionen zu erreichen, gilt als ein sehr vielversprechender Weg für die Konstruktion biokompatibler Materialien und künstlicher Organe. Das Interesse von Bertozzis Gruppe geht jedoch noch weiter. „Wir prüfen die Zellen anderer Organismen, wie Pflanzen und Mikroben. Wir untersuchen Biosensoren, in denen Zellen, die sich an spezifische Komponenten ankoppeln, mit einem elektronischen Signalgeber kombiniert werden können, um so Veränderungen in der Umgebung anzuzeigen“ – eine Art kybernetischer Kanarienvogel in einer Kohlenzeche.
Ein weiterer möglicher Einsatz zeigte sich schon, als Bertozzi, Mahal und Yarema die Technologie entwickelten. „Viele menschliche Krebszellen, einschließlich Dickdarm-, Brust-, und Prostatakrebs und bestimmte Arten von Leukämie, weisen anomale Oligosaccharid-Muster auf“, sagt Bertozzi. „Sie enthielten extrem hohe Konzentrationen an Sialsäure. Die Möglichkeiten waren offensichtlich.“
Bertozzi und ihre Kollegen zeigten, daß mit Ketongruppen versehene Krebszellen gegenüber einem Derivat des natürlichen Pflanzengifts Ricin auf einzigartige Weise anfällig sind. Das Ricin-Analogon, künstlich mit der reaktiven Hydrazid-Gruppe ausgestattet, reagierte mit den Keton-markierten Zellen. „Es funktionierte“, sagt Bertozzi. „Wir haben sie abgetötet.“
Auch eine Methode, bei der Keton-markierte Krebszellen durch Verwendung Hydrazid-markierter Verbindungen, die für einen guten Kontrast sorgen, bei der Magnetresonanztomographie deutlich erkennbar werden, wird derzeit erprobt.
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