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Überraschung in der Mathewelt: Eine anerkannte Vermutung erweist sich als falsch

Seit Jahrzehnten versuchten Fachleute, die so genannte Hochbettvermutung zu beweisen – und scheiterten. Kein Wunder: Denn nun zeigt sich, dass sie falsch ist.
Eine Person mit einem explodierten Kopf und darum herum befindlichen Zahlen
Die Suche nach einem Beweis der Hochbettvermutung nahm eine unerwartete Wendung. Entgegen allen Erwartungen erweist sie sich als falsch.

Seit die »Bunkbed Conjecture« (auf Deutsch: Hochbettvermutung) in den 1980er Jahren das erste Mal geäußert wurde, galt sie als offensichtlich richtig. »Alles, was unser Gehirn uns sagt, legt nahe, dass die Vermutung wahr sein sollte«, sagte die Mathematikerin Maria Chudnovsky gegenüber dem »Quanta Magazine«. Dennoch blieb ein Beweis aus. Mit gutem Grund. Denn nun haben der Mathematiker Igor Pak von der University of California in Los Angeles, sein Doktorand Nikita Gladkov und dessen ehemaliger Kommilitone Alexandr Zimin, der heute am Massachusetts Institute of Technology forscht, ein Gegenbeispiel gefunden, das die Hochbettvermutung zweifelsfrei widerlegt. Damit ist klar: Die Vermutung ist falsch.

Die Hochbettvermutung stammt aus der Graphentheorie. In diesem Bereich der Mathematik geht es um Netzwerke: um Punkte, so genannte Knoten, die durch Kanten miteinander verbunden sind. Die Vermutung beschäftigt sich damit, wie viele Möglichkeiten es gibt, sich durch eine bestimmte Art von Graphen zu bewegen – nämlich solche, die übereinandergeschichtet sind und an die Gestalt eines Hochbetts erinnern. Man nimmt dafür einen Graphen, kopiert ihn und platziert ihn unter dem Original. Dann verbindet man einige der Knoten im oberen Netzwerk mit jenen des unteren; man fügt also senkrechte Kanten hinzu.

Hochbett-Graph | Ein Hochbett-Graph entsteht, indem man ein Netzwerk (oben) kopiert und beide Strukturen übereinander anordnet und anschließend einige der Knoten durch vertikale Kanten verbindet.

Der niederländische Physiker Pieter Kasteleyn beschäftigte sich in den 1980er Jahren mit diesen mathematischen Strukturen, als er poröse Materialien untersuchte. Er wollte herausfinden, wie sich Flüssigkeiten in solchen Medien ausbreiten. Graphen sollen dabei die verschiedenen Wege durch die Materialien symbolisieren. Bei seinen Überlegungen stieß er irgendwann auf die Hochbettvermutung.

Bei dieser betrachtet man zunächst einen Hochbett-Graphen und würfelt für jede Kante (außer den vertikal hinzugefügten) aus, ob sie bleiben oder verschwinden soll. Die neue Hochbett-Struktur ist dadurch nicht mehr zwangsläufig symmetrisch (unten können andere Kanten verschwinden als oben). Nun untersucht man die Konnektivität des neuen Netzwerks. Angenommen, man pickt zwei Punkte – einen Start- und einen Endpunkt – im unteren Graph heraus: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass man über die Kanten vom Start- zum Endpunkt gelangen kann? Und wie verändert sich die Wahrscheinlichkeit, wenn man statt des Endpunkts im unteren Graphen den gespiegelten Endpunkt im oberen Graphen betrachtet? Sprich: Wie wahrscheinlich ist der untere Startpunkt mit einem Punkt im oberen Stock des Hochbetts verbunden? Die Hochbettvermutung besagt, dass diese Wahrscheinlichkeit immer kleiner oder gleich der Wahrscheinlichkeit ist, einen Weg auf gleicher Ebene zu finden.

»Die Wahrscheinlichkeit, zwei Punkte auf derselben Ebene zu verbinden, kann nicht kleiner sein als die, Punkte auf verschiedenen Ebenen zu verbinden«, schrieb Pak in seinem Blog. »Das ist natürlich völlig offensichtlich!«

Gegen den Strom schwimmen

Jahrzehntelang bissen sich Fachleute die Zähne an dem Problem aus. Sie wollten die Hochbettvermutung unbedingt beweisen – denn sie spielt nicht nur in der Mathematik eine wichtige Rolle; auch in der Physik ist man an einem Ergebnis interessiert. Doch Pak war skeptisch. Er kritisierte schon öfter, dass sich die Mathe-Community meist nur darauf versteife, nach Beweisen für Vermutungen zu suchen, anstatt sie in Frage zu stellen und auch nach Gegenbeispielen Ausschau zu halten. In diesem Fall war er – zusammen mit seinen zwei Kollegen – erfolgreich.

Zunächst hatten die Forscher versucht, mit Hilfe eines Computers nach einem Gegenbeispiel der Hochbettvermutung zu suchen. Sie hofften, dass der Rechner ein Beispiel für einen Graph finden würde, in dem die Konnektivität über die zwei Ebenen des Stockbetts größer ist als für Punkte auf der gleichen Ebene. Doch die gigantische Anzahl an verschiedenen Graphen, die dafür überprüft werden muss, überfordert jeden noch so leistungsfähigen Computer. Und auch KI-Algorithmen halfen ihnen nicht weiter.

Irgendwann wurden sie auf ein im Juni 2024 veröffentlichtes Ergebnis des Mathematikers Lawrance Hollom von der University of Cambridge aufmerksam, der ein Gegenbeispiel für ein ähnliches Problem der Graphentheorie gefunden hatte. Indem sie dieses Ergebnis mit ihren zuvor ausgearbeitete Methoden kombinierten, gelangten Gladkov, Zimin und Pak drei Monate später schließlich ans Ziel. Sie fanden einen riesigen Graphen mit 7523 Knoten und 15 654 Kanten, in dem die Wahrscheinlichkeit, eine Verbindung auf derselben Ebene zu finden, um den winzigen Wert von etwa 10–6500 kleiner ist als die Wahrscheinlichkeit, eine Verbindung auf derselben Ebene zu finden. Dieser Unterschied ist verschwindend klein – aber dennoch da.

»Was, wenn alle falschliegen?«Igor Pak, Mathematiker

Damit haben sie die Hochbettvermutung ein für alle Mal widerlegt. Für Pak ist das ein wichtiges Beispiel dafür, dass sich Mathematiker auch einmal auf Wege abseits des Mainstreams wagen sollten: »Man sollte immer nach Gegenbeispielen suchen. Für jede Vermutung. Besonders, wenn sich jeder so sicher ist. Was, wenn alle falschliegen?«

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