Medikamentenrückstände: Umweltverträgliches Frühableben
Was Menschen schon einmal geschluckt haben, ist keineswegs aus der Welt. Von Medikamenten bleibt man nicht verschont, egal wie gesund man ist. Der Grund: Viele Wirkstoffe sind so widerstandsfähig, dass sie praktisch unverändert nicht nur den Körper durchlaufen, sondern auch die Kläranlage. Andere Wirkstoffe wie Röntgenkontrastmittel oder Schmerzmedikamente schaffen es sogar bis ins Trinkwasser.
Bei Medikamenten sind strenge Umweltstandards, wie sie für fast alle anderen Industrieprodukte gelten, nur schwer durchzusetzen. "Seit 2006 ist auch für Medikamente eine Umweltprüfung vorgeschrieben, aber bei Pharmazeutika sind schlechte Umwelteigenschaften kein Grund, die Zulassung zu verweigern", erklärt der Lüneburger Wissenschaftler Klaus Kümmerer, der es sich auf die Fahne geschrieben hat, das Problem von seiner chemischen Seite her anzugehen: Wie müsste man die Strukturen von Arzneistoffen verändern, damit sie schon im Körper, spätestens aber in der Kläranlage in ihre Bestandteile zerlegt werden?
Abbaubarer Betablocker
Kümmerer hat für diese Aufgabe einen Lösungsweg, den er und sein Team an dem weit verbreiteten und kaum abbaubaren Medikament Propranolol demonstrierten. Sie veränderten das Molekül in einem mehrstufigen Prozess so, dass es unter realistischen Bedingungen binnen eines Monats von Bakterien komplett zersetzt wird.
Propranolol ist ein gutes Beispiel für das zu Grunde liegende Problem. Der Betablocker gehört bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu den Mitteln der Wahl. Allein in Deutschland schlucken Patientinnen und Patienten jedes Jahr über 3000 Tonnen des Wirkstoffs – und scheiden ihn danach zum großen Teil unverändert wieder aus. Kläranlagen sind gegen das widerstandsfähige Molekül genauso wie gegen viele andere Medikamente machtlos, und so gelangen sie in Flüsse, Seen und Grundwasser.
Insgesamt 150 Wirkstoffe hat das Umweltbundesamt bisher in Umweltproben nachgewiesen, die wahre Zahl liegt wohl deutlich höher. Während die Auswirkungen der Medikamentenrückstände auf Menschen noch unklar sind, zeigen viele Studien, dass Wasserorganismen aller Art längst die Folgen dieser Dauerbelastung spüren. Psychopharmaka ändern möglicherweise das Verhalten von Fischen, Antibiotika erzeugen nicht nur resistente Krankheitserreger, sondern schaden auch Algen. Und hormonähnliche Substanzen verändern bei Fischen und Amphibien Geschlechterverhältnis und Fruchtbarkeit.
Belastetes Trinkwasser
Auch im Trinkwasser findet man inzwischen Pharmazeutika, fast zwei Dutzend sind in Deutschland inzwischen aktenkundig. Man findet sie zwar nur in sehr geringen Konzentrationen von wenigen zehntel bis einigen hundertstel Mikrogramm pro Liter, Toxikologen betonen jedoch immer wieder, dass man negative Effekte auch kleiner Mengen gerade über längere Zeiträume nicht ausschließen könne.
Es ist dieser Kontext, für den Klaus Kümmerer und sein Wissenschaftlerteam von der Leuphana Universität Lüneburg dauerhafte Abhilfe sucht. Was nicht funktioniert, weiß man aus früheren Untersuchungen: Die Pharmazeutika in normalen Kläranlagen zu entfernen, erweist sich in vielen Fällen als aufwändig und teuer, zumal keineswegs überall auch Kläranlagen zur Verfügung stehen. Selbst aggressive chemische Methoden stoßen an ihre Grenzen, die zudem eigene Risiken bergen, wie Kümmerer zu bedenken gibt. "Das Problem beim chemischen Abbau in Kläranlagen ist ja, dass auch dabei Abbauprodukte entstehen. Über die wissen wir fast gar nichts."
Letztendlich bleibt eine gangbare Strategie übrig: Die Pharmazeutika müssen von Anfang an so konstruiert sein, dass sie spätestens in der Kläranlage durch biologischen oder chemischen Abbau das Zeitliche segnen. Normale Wirkstoffe tun das nicht – sie sind im Gegenteil meist darauf ausgerichtet, möglichst unempfindlich zu sein, damit sie einfacher zu lagern sind und länger wirken.
Um Propranolol seine Langlebigkeit zu nehmen, verwendeten Kümmerer und seine Kollegen einen mehrstufigen Ansatz: Im ersten Schritt erzeugten sie mit Hilfe von UV-Licht aus dem ursprünglichen Medikament viele chemisch verwandte Stoffe. Anschließend testeten sie ihr Substanzgemisch darauf, ob die für die Wirkung wichtigen Teile des Moleküls noch intakt waren und welche dieser potenziellen Ersatzstoffe sich am besten biologisch abbauen ließen.
Tatsächlich fanden sie mit 4-Hydroxypropranolol eine Substanz, die nach einem Monat in einer Standardbakterienlösung komplett abgebaut war, aber trotzdem noch fast so gut wirkte wie das Originalmedikament. Bemerkenswert ist vor allem, dass ein so vergleichsweise schlichter Ansatz zum Erfolg geführt hat. Nicht nur, dass mit dem Ergebnis eine Route zu biologisch abbaubaren Medikamenten offen steht, die Strategie ist auch relativ kostengünstig: Man muss keineswegs bei der Medikamentenentwicklung noch einmal ganz von vorn anfangen – Startpunkt kann ein bereits bestehender Wirkstoff sein. Zielstruktur und Wirkprinzip bleiben unverändert.
Allerdings hat die Sache einen kleinen Haken – durch die neue Struktur ändern sich die Eigenschaften des Moleküls. "Alle Teile eines Wirkstoffmoleküls tragen zu seinem Verhalten im menschlichen Körper bei, nicht nur der Abschnitt, der die eigentliche Wirkung erzielt", erklärt Siegfried Throm, Geschäftsführer in Forschung/Entwicklung/Innovation des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller e. V. (VFA). Das betreffe vor allem die Pharmakokinetik, also die Fragen danach, wie lange ein Stoff im Blut verweilt, wann die Wirkung einsetzt und wie lange sie anhält. "Gerade Molekülveränderungen, die die biologische Abbaubarkeit im Abwasser fördern, dürften oft auch die Stabilität des Wirkstoffs im Körper und damit seine Wirkdauer verringern."
Es fehlen Anreize
Kümmerer dagegen betont, dass eines der Ziele seiner Forschungsarbeit eben sei, zu zeigen, dass diese Probleme keine grundsätzliche Hürde sind: "Die Industrie hat sich immer mit dem Argument gewehrt, die Anforderungen an Medikamente seien mit Abbaubarkeit nicht vereinbar. Deswegen ist es wichtig, dass wir zeigen: Es geht." In Kooperation mit dem Deutschen Krebsforschungszentrum sei es seiner Arbeitsgruppe bereits gelungen, Wirksamkeit und Abbaubarkeit eines Zytostatikums gleichzeitig zu verbessern. Details möchte er nicht nennen – die Ergebnisse seien noch nicht publiziert.
Zumal, das zeigt ein Blick in die Literatur, biologisch abbaubare Stoffe in der Medizintechnik längst Thema sind – allerdings bisher nicht bei Medikamenten, sondern bei neuartigen Wirkstofftransportern wie Nanokapseln, Hydrogelen oder anderen Hilfsstoffen. Auch die Industrie selbst beschäftigt sich damit, betont Throm: "Pharmaunternehmen müssen sich mit den Umwelteigenschaften ihrer neuen Medikamente befassen und den Behörden Daten zur Umweltverträglichkeit liefern."
In einem jedenfalls sind sich Throm und Kümmerer einig: So sehr Pharmazeutika in der Umwelt ein Problem sind, Nutzen und Sicherheit für die Patienten stehen in der Medikamentenentwicklung auch zukünftig an erster Stelle. Zusammen mit den Kosten, die auch bei der Neuzulassung von Wirkstoffen anfallen, scheint es ohne entsprechende Gesetzgebung zuerst einmal wenig Anreize für Hersteller zu geben, speziell in diese Richtung zu forschen. Einen Silberstreif am Horizont sieht Pharmavertreter Throm dennoch: "Immer mehr neue Wirkstoffe sind gentechnisch hergestellte Proteine, beispielsweise Antikörper oder Enzyme. Sie sind schon vom Design her sehr gut abbaubar."
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