Medizin-Nobelpreis 2021: Wie fühlt der Körper Schmerz, Druck und sich selbst?
Wenn Anfang Oktober die wichtigsten Preise der Wissenschaft vergeben werden, ist das immer ein schöner Anlass, sich darüber zu freuen, was hartnäckige und neugierige Menschen so alles herausfinden können. Und ab und an erinnert die Preisverleihung auch daran, wie viel unverstandene Selbstverständlichkeiten es in unserer Welt gibt – bis jemand kommt, sie untersucht, beschreibt und am Ende eben doch versteht. Der Nobelpreis für Medizin und Physiologie ehrt in diesem Jahr 2021 zwei Forscher, die genau das getan haben: den Sinnesphysiologen David Julius und den Molekularbiologen Ardem Patapoutian. Sie erhalten die Auszeichnung dafür, die lange unbekannte Funktionsweise von zwei Typen von Sinnessensoren des Menschen erforscht zu haben; jenen Rezeptoren, die uns Schmerz und Druck sowie Wärme und Kälte spüren lassen.
Das für Druckschmerz und Temperatur verantwortliche Sensorium war für Sinnesphysiologen lange ärgerlich mysteriös geblieben, und das noch mindestens bis zur letzten Jahrtausendwende. Damals wusste man schon längst im Detail, wie zum Beispiel Licht oder Schallwellen die für sie zuständigen Rezeptoren in Auge und Ohr reizen, um so optische und akustische Neurone zu aktivieren und Informationen ins Gehirn zu senden. Aber wo waren Sensoren für Hitze oder Schmerz? Wie könnten sie überhaupt aussehen?
Der scharfe, heiße, schmerzhafte Geschmack von Chili
Der 1955 in New York geborene David Julius, heute an der University of California in San Francisco, hat sich in den 1990er Jahren auf die Suche nach den Sensoren der Schmerzwahrnehmung gemacht. Zum wichtigsten Hilfsmittel wurde ihm dabei ein chemischer Wirkstoff, der verlässlich Schmerzreize auslöst, die Julius dann in Experimenten analysieren konnte: Das in rotem Pfeffer, Peperoni und Paprika enthaltene Capsaicin, welches je nach Dosis einen mehr oder weniger schmerzhaft brennenden Geschmack hinterlässt – etwa auf der Zunge von Menschen, die scharfen Chili essen.
Klar war, dass Capsaicin Sensoren auf schmerzsensitiven Zellen reizt. Nur welche? Der Bauplan der Sensoren musste im Erbgut dieser Zellen stecken, und Julius und seine Mitarbeiter machten sich mit hohem Aufwand auf die Suche: Sie isolierten zunächst sämtliche RNA-Bauanleitungen, die von den chilisensitiven Sinneszellen produziert werden, und erstellten daraus buchstäblich Milliarden unterschiedliche cDNA-Schnipsel – eine Bibliothek von genetischen Einzelinformationen, in der auch ein Fragment stecken musste, das die Bauanleitung für die gesuchten Hitze- oder Schmerzsensoren der Zelle enthält. Abertausende solcher Fragmente schleusten sie einzeln in das Erbgut von Zellen einer Linie ein, die nicht auf Chili reagiert. So schufen sie leicht unterschiedliche Zellvarianten, von denen zumindest eine, so die Idee, nun auch für Capsaicin sensitive Rezeptoren bilden können sollte, anders als ihre Mutterzelllinie.
Am Ende lohnte sich die Mühe: Eine unter den vielen veränderten Zellen reagierte tatsächlich auf Capsaicin; sie baute demnach auch den dafür zuständigen Rezeptor, den die Forscher nun genauer untersuchen konnten. Das Protein bekam zunächst den Namen VR1 – für Vanilloid-Rezeptor 1, Capsaicin gehört chemisch zur Gruppe der Vanilloide – und wurde schließlich unter dem Namen TRPV1 berühmt.
Weitere Untersuchungen machten klar, dass das Rezeptorprotein in der Zellmembran steckt und auf Temperaturreize reagiert: Bei als schmerzhaft empfundenen Hitzereizen von über 40 Grad Celsius wird es aktiv und lässt Kalziumionen durch die Membran. Der Schmerz-Temperatursensor arbeitet damit ähnlich wie andere Sensorproteine als Ionenkanal. Das Protein wird, wie nachfolgende Studien in den Jahren nach der Entdeckung zeigen konnten, in verschiedenen schmerzleitenden Neuronen von Mäusen und Menschen produziert und fehlt dagegen in Nervenleitungen mit anderen Aufgaben, so etwa in Neuronen, die für die Weiterleitung von nicht schmerzhaften Druckreizen zuständig sind.
Ein noch nicht ganz verstandener Multisensor
Bis heute arbeiten Forscherinnen und Forscher übrigens daran, die genaue Arbeitsweise des Rezeptors zu beschreiben und herauszuarbeiten, warum so unterschiedliche Reize wie Hitze und ein chemischer Stoff wie Capsaicin derart ähnlich wirken. Klar ist, dass Capsaicin an einer bestimmten Stelle des Rezeptors andockt und der Kanal sich in einem zweistufigen Prozess öffnet. Wieso dies auch bei Hitze geschieht, ist noch immer nicht wirklich verstanden.
Sicher ist dagegen, dass Schmerzreize nicht immer nur von TRPV1, sondern auch von verschiedenen weiteren, ähnlichen Rezeptoren wahrgenommen werden. So spüren etwa gentechnisch veränderte Mäuse ohne TRPV1 durchaus Schmerzen. Verantwortlich sind dafür Rezeptoren wie der Hitzesensor TRPM3 und weitere Ionenkanäle wie TRPA1, der beispielsweise auf reizende Substanzen wie Meerrettich und andere, auch schädlichere Chemikalien reagiert.
Ohne den Einsatz von Julius und seinem Team hätten solche Entdeckungen noch auf sich warten lassen, schreibt das Nobelpreiskomitee in der Begründung der Nobelpreiskür 2021. Zeitgleich mit Julius war aber auch der zweite Laureat schon ein gutes Stück bei seiner nobelpreisgekrönten Arbeit vorangekommen: Der 1967 im Libanon geborene Ardem Patapoutian. Er forscht heute am Howard Hughes Medical Institute in Kalifornien.
Patapoutian hatte sich ebenfalls schon früh mit temperatursensitiven Rezeptoren wie TRPV1 auseinandergesetzt. Dabei interessierte ihn auch, ob Hitze- und Kälterezeptoren womöglich ähnlich arbeiten. 2002 kamen er und sein Team sowie die Gruppe um Julius mit ähnlichen Methoden unabhängig voneinander zum Schluss, dass Kälte vom Rezeptor TRPM8 erkannt wird, einem den Hitzesensoren verwandten Kanalprotein. Patapoutian forschte zudem an einem anderen Typ von Sensor: dem Druckrezeptor, der bei Menschen leichte und stärkere Berührungen meldet.
Was den Körper sich selbst fühlen lässt
Druck- oder Berührungssensoren hatten Wissenschaftler zunächst nur bei verschiedenen Mikroorganismen identifiziert – und schnell vermutet, dass diese mit dem Sinnessystem der Menschen oder anderer Wirbeltiere nicht viel gemein haben dürften. Also machten sich Patapoutian und seine Mitarbeiter auf die Suche nach alternativen Rezeptoren: In arbeitsintensiven Experimenten stupsten sie die Zellen mit Mikropipetten an und warteten auf Reaktionen. Dabei fiel ihnen schließlich eine Zelllinie auf, die auf den mechanischen Reiz mit elektrischen Signalimpulsen reagierte. In dieser Zelllinie haben sie dann 72 Genkandidaten identifiziert, die das Verhalten erklären könnten – und solche Gene einzeln abgeschaltet, um den Versuch mit 72 genetisch subtil veränderten Kandidaten zu wiederholen. Am Ende entdeckte das Team ein einzelnes Protein, das nicht fehlen darf, damit Berührungsreize erkannt werden: ein bis dato völlig unbekannter mechanosensitiver Ionenkanal, der später den Namen Piezo1 bekam. Etwas später identifizierten die Rezeptorforscher dann eine Variante davon, genannt Piezo2. Beide zusammen werden aktiv, wenn die Membranen einer Zelle belastet werden.
Die Aufgabe dieser Druckrezeptoren ist allerdings weit vielfältiger, als dem Körper nur einen von außen kommenden Berührungsreiz der Haut weiterzumelden. Piezo2 etwa gibt als typischer Propriorezeptor ständig Signale ab und reagiert dabei auf jene subtilen Formveränderungen einzelner Körperzellen, wie sie bei den unbewussten Bewegungen im Alltag auftreten – ihnen verdanken wir, dass wir unser Körpergewicht in unterschiedlichsten Positionen ständig im Gleichgewicht halten. Propriorezeptoren wie die von Patapoutian und seinen Kollegen untersuchten sind als Sensoren für eine ganze Reihe weiterer, meist unbewusster Körperprozesse wichtig, wie bei der Regulation des Blutdrucks oder der Blasentätigkeit.
Die Arbeit von David Julius und Ardem Patapoutian hat mit klassischer Grundlagenforschung Wissenslücken in der Physiologie geschlossen – sie hat aber so auch neue Forschungsansätze denkbar gemacht, etwa im Bereich der angewandten Medizin. Ein Beispiel ist die Schmerzforschung, wie der aktuelle Nobelpreisträger schon 2007 in »Spektrum der Wissenschaft« zusammengefasst hat: Mit dem Wissen um die Bau- und Funktionsweise der Schmerzrezeptoren lassen sich vielleicht Wirkstoffe entwickeln, die sehr präzise bei den Sensoren selbst ansetzen – für bessere Schmerzlinderung bei weniger Nebenwirkungen.
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