Australiens Megafauna: Rätselhafter Riesenvogel war eine »Giga-Gans«
Vor nur 50 000 Jahren streiften Giganten über den australischen Kontinent. Darunter waren ein nashorngroßes Wombat, eine Eidechse so lang wie ein Krokodil, ein wuchtiges Känguru und ein Beutellöwe. Nun haben Fachleute den Schädel eines zwei Meter großen und 225 Kilo schweren flugunfähigen Vogels geborgen und rekonstruiert, dem sie den Spitznamen Giga-Gans gaben. Dabei beendeten sie eine mehr als ein Jahrhundert währende Spekulation über die Abstammung der Art.
Kamelreitende Paläontologen gruben 1893 ein beinahe vollständiges Skelett des massiven Vogels aus, der zehntausende Jahre zuvor im Schlick des Callabonna-Sees in Südaustralien versumpft war. Während der Körper bemerkenswert gut erhalten gewesen sei, war der Schädel »sehr fragwürdig« – krümelig, zerdrückt und verzerrt –, sagt die Evolutionsbiologin Phobe McInerney, die kürzlich an der Flinders University in Australien promovierte.
Ohne ein klares Bild des Kopfes nahmen viele Fachleute an, dass der als Genyornis newtoni bezeichnete Vogel eine Mega-Version des Emus gewesen sei. Dieser flugunfähige, straußenähnliche Laufvogel lebt heute in Australien. Andere glaubten, er sei eine Art Hühnervogel gewesen. Doch das waren nur Vermutungen. Alle großen Vögel sehen vom Hals abwärts ungefähr gleich aus, erklärt McInerney. Unabhängig von der evolutionären Abstammung eines Vogels »passieren immer die gleichen Dinge, wenn der Körper groß und flugunfähig wird«, sagt sie: Stummelflügel, ein breiter Rumpf und massive Beine.
»Der Schädel ist der Ort, an dem sich die komplexeren Familienmerkmale erhalten«, sagt McInerney. »So haben wir die letzten etwa 120 Jahre nach besseren Schädelfossilien gesucht.«
Und nun haben McInerney und ihre Kolleginnen und Kollegen an der Flinders University sie gefunden. In einer am Montag veröffentlichten Publikation in der Fachzeitschrift »Historical Biology« beschreiben sie einen kompletten Genyornis-Schädel und dazu eine Sammlung wunderschön erhaltener Schädelfragmente, ausgegraben zwischen 2013 und 2019 am Callabonna-See. »Den Schädel vollständig außerhalb der Erdschichten und vom Dreck befreit zu sehen war definitiv ein Wow-Ereignis«, sagt McInerney. »Wir waren nicht wirklich sicher, was wir zu erwarten hatten, und wir fanden immer neue Teile des Schädels, die im Inneren versteckt waren.«
Das Gesicht der Giga-Gans
Die Fossilien enthüllten ein einzigartiges Gesicht – völlig anders als jeder andere lebende oder ausgestorbene Vogel, aber am ehesten noch ähnlich einer Ente oder Gans. Das legt nahe, dass »Genyornis« zu den Gänseartigen gehört: eine Ordnung der Vögel, auch Wasservögel genannt, die von Enten und Schwänen bis hin zu den südamerikanischen Wehrvögeln reicht.
»Es gibt keine enge Analogie dieser Vögel« anderswo auf der Welt, sagt Nic Rawlence, ein Paläoökologe an der University of Otago in Neuseeland und nicht an der Forschung beteiligt. »Sie sind ein wahrhaft australisches Inselexperiment, so einzigartig wie Koalas und Kängurus«, sagt er. »Mit dieser erstaunlichen neuen Entdeckung können wir nun tatsächlich beginnen, die Evolution und das Verhalten dieses Tiers zu rekonstruieren.«
Der weite Öffnungswinkel, die hohe Beißkraft und die Muskelansätze des Genyornis-Schnabels legen nahe, dass er feine motorische Kontrolle hatte. Das lässt die Fachleute spekulieren, dass der Vogel sich ernährte, indem er Blätter und Früchte von Pflanzen in Ufernähe abriss. Die Schädelfossilien enthüllten außerdem Anpassungen an Lebensräume mit Wasser, zum Beispiel Strukturen, die Wasser daran hinderten, in die Gehörgänge einzudringen. Das seien weitere Indizien, dass dies im Wesentlichen eine riesige Gans war, die in Süßwasserhabitaten lebte, sagt McInerney.
Wahrscheinlich begegneten australische Ureinwohner Genyornis. Riesenvögel tauchen in Felskunst und Geschichten auf, und in mindestens einer Ureinwohnersprache gibt es ein Wort für »Riesenemu«.
Manche Fachleute interpretierten Bruchstücke riesiger verkohlter Eierschalen als Belege dafür, dass Menschen Genyornis-Eier kochten und aßen. Die genaue Identität der Schalen ist jedoch bisher umstritten.
Forscherinnen und Forscher diskutieren außerdem nach wie vor, weshalb Australiens Megafauna verschwand. Als Menschen auf dem Kontinent ankamen, trocknete seine einst üppig bewachsene Landschaft bereits aus. Das Aussterben mag durch den Klimawandel, Jagd oder eine Kombination beider Faktoren bedingt sein. Heute ist der Callabonna-See überwiegend trocken, salzig und baumlos – kein Ort für eine Wasser liebende Giga-Gans.
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