Reproduzierbarkeit: Meinung: Das Willenskraft-Problem der Psychologie
Willenskraft nutzt sich ab – und ist trainierbar. Hunderte Veröffentlichungen, Zeitungsartikel und Alltagstipps basieren auf dieser 1998 erstmals veröffentlichten Theorie, die seit der Jahrtausendwende fester Bestandteil psychologischen Fachwissens ist. Doch 24 unabhängigen Arbeitsgruppen gelang es nun in einer gemeinsamen Studie nicht, den vermeintlich fundamentalen, als "ego depletion" bekannten Effekt aufzuspüren. Für sich betrachtet ist das nur ein Einzelergebnis. Aber es legt beispielhaft offen, wie ernst die methodischen Probleme in der Psychologie und auch den restlichen empirischen Wissenschaften inzwischen sind.
Sind psychologische Experimente wiederholbar?
Denn der Befund ist nur die neueste Eskalationsstufe eines Streits, der die Psychologie seit einem Jahr in ihren Grundfesten erschüttert. Im Juni 2015 nämlich versuchten Freiwillige das eigentlich Selbstverständlichste der wissenschaftlichen Welt: Experimente zu wiederholen und dabei das Gleiche herauszubekommen. Die Forscherinnen und Forscher kamen zu einem dramatischen Ergebnis – nicht einmal die Hälfte der untersuchten Experimente aus der Verhaltenspsychologie sei reproduzierbar.
Der Streit über die Bedeutung des Befunds entzweit inzwischen die Fachwelt. Reproduzierbarkeit, also die Voraussetzung, einen Versuch unter den gleichen Bedingungen mit einem identischen Ergebnis zu wiederholen, ist die Grundlage aller Regeln und Gesetze, die sich aus empirischen Daten ableiten. Wenn kaum die Hälfte aller Experimente vertrauenswürdig ist, wanken auch die auf sie gegründeten Theoriegebäude.
Deswegen haben Fachkollegen den ursprünglichen Befund heftig und zum Teil zu Recht kritisiert – die Reproduktionsstudie ist tatsächlich lückenhaft und teilweise selektiv. Doch die neue Untersuchung über Willenskraft ist methodisch nur schwer angreifbar, auch weil Roy Baumeister, einer der ursprünglichen Entdecker der "ego depletion", als Berater mitwirkte.
Die Association for Psychological Science hatte im Herbst 2014 als Reaktion auf Zweifel an der Existenz des "Ego-depletion"-Effekts eine große, vorab registrierte Studie aufgelegt, die ein fundamentales Experiment zur "ego depletion" überprüfen sollte. Die Theorie besagt, dass Willenskraft eine begrenzte Ressource ist: Wenn man für eine Aufgabe Willenskraft aufwendet, steht für die nächste weniger zur Verfügung. Demnach würden laut Theorie die Versuchspersonen bei einer Aufgabe, die Selbstkontrolle erfordert, schlechter abschneiden, wenn sie sich vorher schon beherrrschen mussten.
Das Ergebnis ist nun ziemlich eindeutig: Von 24 beteiligten Arbeitsgruppen fanden nur zwei den gesuchten Effekt, eine entdeckte das Gegenteil. Über alle Tests gemittelt, scheint es den Effekt nicht zu geben. Zumindest jedenfalls nicht so wie bisher vermutet.
Sind Verhaltenstests allgemein gültig?
Natürlich gibt es diverse Erklärungsansätze, weshalb ausgerechnet dieser Versuchsaufbau einen so prominenten Effekt nicht gefunden hat. Demnach seien Details des Experiments ungeeignet oder unterschieden sich in Feinheiten, so dass es sich eben nicht um echte Reproduktionen handelte. Auf Letzteres deuten die Ergebnisse der Studie tatsächlich hin – sie schwanken sehr stark zwischen den verschiedenen Gruppen, berichtet der beteiligte Wissenschaftler Martin Hagger.
Natürlich scheitert ein beträchtlicher Teil der Versuche vielleicht daran, dass kleine Details der Versuchsanordnung nicht identisch sind – das aber wäre sogar noch schlimmer. Interessant für die Forschung ist nicht der Einzelfall, sondern das, was man verallgemeinern kann. In diesem Fall die allgemeinen Regeln, die menschlichem Verhalten zu Grunde liegen. In letzter Konsequenz macht es keinen Unterschied, ob die Studien in der Psychologie nicht reproduzierbar sind oder nicht verallgemeinerbar – beides beschädigt ihre Aussagekraft.
Und es ist keineswegs nur die Psychologie, die hier an einem Scheideweg steht – auch in anderen Fachgebieten stellt sich die Frage nach der Glaubwürdigkeit von Forschungsergebnissen angesichts von Manipulation und Interessenkonflikten, aber auch methodischen Problemen rund um Statistik und Signifikanz. Was derzeit in der Psychologie passiert, sollten Forscherinnen und Forscher auf anderen Gebieten sehr genau beobachten. Die Krise ist real, und sie ist weit davon entfernt, sich in Wohlgefallen aufzulösen.
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