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Weder isoliert noch kollabiert: Menschen der Osterinsel erreichten Südamerika vor den Europäern

Angeblich hatten die Rapa Nui ihre Insel einst bis zur Unbewohnbarkeit zerstört. Eine Genstudie räumt nun mit diesem Mythos auf und belegt: Die Menschen waren sogar so geschickt, dass sie bis nach Südamerika und zurück gesegelt sind.
Moai auf der Osterinsel
Hunderte Moai stehen auf Rapa Nui, auch bekannt als Osterinsel. Wen die steinernen Kolossalköpfe darstellen, ist unbekannt. Doch vermutlich sollten sie reiche Ernten garantieren.

Rapa Nui, auch bekannt als Osterinsel, fasziniert Menschen weltweit. Obwohl das Eiland weit abgelegen im Pazifischen Ozean liegt, haben polynesische Seefahrer die Insel vor mehr als 800 Jahren angefahren und besiedelt. Sie rodeten Bäume und pflanzten Süßkartoffeln, sie schlugen die berühmten kolossalen Köpfe aus Felsen und richteten die Moai auf. Doch dieses Leben sei nicht lange gut gegangen. So behaupten es zahlreiche Fachleute seit Langem: Als die Bevölkerung auf Rapa Nui wuchs, hätten die Menschen ihre Umwelt immer weiter ausgebeutet, bis es schließlich im 17. Jahrhundert zum ökologischen Kollaps kam. Die Insel warf nichts mehr ab, nur wenige tausend Menschen hätten den Ökozid überlebt, so die gängige Erzählung der Wissenschaft.

An dieser These gibt es inzwischen jedoch erhebliche und begründete Zweifel. Dass die Bewohnerzahl auf Rapa Nui nie kritisch einbrach, belegt nun auch eine aktuelle Studie in »Nature«. Eine Forschergruppe um Víctor Moreno-Mayar von der Universität Kopenhagen, Bárbara Sousa da Mota von der Universität Lausanne und Tom Higham von der Universität Wien untersuchten die Überreste von 15 Menschen, die von der Insel Rapa Nui stammten. Ihre Genanalysen ergaben, dass die Bevölkerung auf Rapa Nui vor dem 18. Jahrhundert nie dramatisch zurückgegangen ist, es demnach zu keinem Kollaps gekommen sein kann.

Außerdem bestätigten die Forscher eine andere Vermutung: Die Rapa Nui müssen bereits vor den Europäern bis nach Südamerika gelangt sein. Sehr wahrscheinlich irgendwann zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert kamen sie in Kontakt mit amerikanischen Indigenen und zeugten gemeinsame Nachkommen.

Was die Gendaten der Rapa Nui verraten

Das Forscherteam wertete die Überreste von 15 Menschen aus, die heute im Muséum national d’histoire naturelle in Paris aufbewahrt werden, ursprünglich aber von der Osterinsel stammten. Wie Radiokarbondatierungen ergaben, gehen die Knochen in die Zeit zwischen 1670 und 1950 zurück. Allerdings dürften die Individuen früher gelebt haben, weil ihre Überreste in den 1870er und 1930er Jahren ausgegraben wurden. In Verbindung mit den genetischen Daten konnten die Fachleute nun mehrere Erkenntnisse gewinnen. Alle 15 Menschen waren polynesischer Herkunft und eng verwandt mit den heutigen Bewohnern von Rapa Nui. Ungefähr zehn Prozent ihres Erbguts stammen jedoch von anderswo her: Jene Genabschnitte gleichen Sequenzen in den Genomen von Indigenen der südamerikanischen Pazifikküste. Anhand der Länge jener Abschnitte lässt sich auch berechnen, wann ungefähr sich die Rapa Nui und die Südamerikaner vermischt hatten: »15 bis 17 Generationen, bevor die untersuchten Individuen gelebt haben«, schreiben Stephan Schiffels und Kathrin Nägele vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig in einem Begleitkommentar in »Nature«.

Mit Hilfe statistischer Methoden konnten die Forschenden um Moreno-Mayar ebenfalls berechnen, wie sich die Bevölkerung der Osterinsel entwickelt hatte. Dazu prüften sie, wie viele Gensequenzen die untersuchten Individuen in ihrem Erbgut gemeinsam haben – wie stark also deren genetische Vielfalt ausgeprägt war. Zu erwarten wäre, so schreiben Schiffels und Nägele, dass die Diversität nach der Besiedlung von Rapa Nui zurückging; ein solcher Prozess sei typisch für Inselbevölkerungen. Und das geschah offenbar auch auf Rapa Nui: Bald nachdem die ersten Menschen um 1200 auf der Insel eingetroffen waren, sank die genetische Vielfalt. Die Bevölkerungszahl hingegen erfuhr danach »höchstwahrscheinlich bis vor mindestens 200 Jahren ein stetiges Wachstum«, erklären die beiden Archäogenetiker. Jedenfalls lassen die Erbgutdaten keinen vorherigen Einbruch in den Bewohnerzahlen erkennen.

Rapa Nui erlebte demnach keinen Bevölkerungskollaps. Zumindest nicht, bevor 1722 die ersten Europäer und in den 1860er Jahren peruanische Sklavenhändler angelandet waren, die ein Drittel der Bevölkerung verschleppten. Das Ergebnis von Moreno-Mayar und seinen Kollegen wird durch eine andere Studie bestätigt, die jüngst im August 2024 in »Science Advances« erschienen ist.

Fachleute um den Archäologen Dylan Davis von der Columbia Climate School erfassten dazu die einstigen Kulturflächen auf Rapa Nui. Die Menschen hatten in so genannten Steingärten vor allem Süßkartoffeln, aber auch Bananen und Zuckerrohr angebaut. Diese Gärten nahmen laut Davis nie mehr als zirka 200 Hektar ein. Mit den entsprechenden Erträgen hätten etwa 2000 bis 3000 Menschen versorgt werden können. Das entspricht auch der Einwohnerzahl, von der die ersten Europäer auf der Osterinsel berichteten. Nicht, wie oft vermutet, 15 000 Menschen hatten also auf Rapa Nui gelebt, sondern nur wenige Tausend, die zudem die Insel jahrhundertelang nachhaltig bewirtschaftet hatten.

Ankunft der Rapa Nui in Südamerika

Dass die Rapa Nui ungefähr im 14. Jahrhundert bereits nach Südamerika gelangt waren, überrascht Experten indes kaum. »Wir wissen, dass die ursprünglichen polynesischen Seefahrer, die Rapa Nui vor mindestens 800 Jahren entdeckten und besiedelten, zu den hervorragendsten Seefahrern und Reisenden der Welt gehörten«, sagt die Anthropologin Lisa Matisoo-Smith von der University of Otago laut dem neuseeländischen Science Media Centre. Die Vorfahren der Rapa Nui befuhren bereits seit mindestens 3000 Jahren den Pazifik, »sie segelten tausende Kilometer auf dem offenen Ozean nach Osten und entdeckten nahezu alle bewohnbaren Inseln im weiten Pazifik«, so Matisoo-Smith. »Es wäre überraschender, wenn sie die Küste Südamerikas nicht erreicht hätten.«

Kulturhistorische Studien und mündliche Überlieferungen der Rapa Nui würden die neuen Ergebnisse außerdem stützen, betont Phillip Wilcox von der University of Otago, der ebenfalls nicht an der aktuellen Arbeit beteiligt war. Er bemängelt aber, dass Moreno-Mayar und Co solche Studien nicht in ihre Arbeit aufgenommen haben. »Mir ist bekannt, dass in einigen mündlichen Überlieferungen die Namen von Vorfahren amerikanischer Indigener vorkommen«, erklärt Wilcox. Auch die Orte, an denen diese lebten, seien genannt. Aus diesen Geschichten der Rapa Nui lässt sich laut Wilcox zudem erschließen, dass die polynesischen Seefahrer nach Amerika gelangt waren – und nicht umgekehrt Indigene vom Doppelkontinent zur Osterinsel.

Wie die Forscher berichten, sollen die Überreste der 15 Rapa Nui im Muséum national d’histoire naturelle in Paris an ihren Herkunftsort überführt werden. Wilcox und Matisoo-Smith loben das Vorhaben – sowie die Tatsache, dass die Forschungen zusammen mit Angehörigen indigener Gemeinschaften auf Rapa Nui durchgeführt wurden.

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  • Quellen

Davis, S. D. et al.: Island-wide characterization of agricultural production challenges the demographic collapse hypothesis for Rapa Nui (Easter Island). Science Advances 10, 2024

Moreno-Mayar, J. V. et al.: Ancient Rapanui genomes reveal resilience and pre-European contact with the Americas. Nature 633, 2024

Schiffels, S., Nägele, K.: Rapa Nui’s population history rewritten using ancient DNA. Nature 633, 2024

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