Menschenevolution: Kultursprung durch Großeltern
Als ich meine Urgroßmutter kennen lernte, war sie fast 100 Jahre alt und ich sechs. Es war in den Sommerferien des Jahres 1963. Wir lebten in Philadelphia und besuchten sie und andere Verwandte in Los Angeles. Meine Großmutter mütterlicherseits, ihre Tochter, kannte ich gut. Sie half meiner Mutter oft mit ihren drei kleinen Kindern. Die Frauen erzählten damals viel von früher -zum Beispiel davon, was die Familie am Ende des Amerikanischen Bürgerkriegs und in der bewegten Zeit des Wiederaufbaus danach erlebt und durchgemacht hatte. Durch die spannenden Geschichten erfuhr ich von meinen Wurzeln und dem vier Generationen umfassenden Netz von Familienmitgliedern, zu dem auch ich gehörte. Auf ähnliche Weise geben überall auf der Welt ältere Menschen ihr Wissen an Kinder und Enkel oder andere Verwandtschaft weiter. Und wie meine Großmutter stehen viele von ihnen den jüngeren Generationen materiell und mit Tatkraft zur Seite. Beides sind wesentliche Züge unserer Gesellschaften.
Allerdings war es wohl nicht immer so, dass eine größere Anzahl der Menschen ein Alter erreichte, in dem sie Enkelkinder hatten. Vielmehr dürften Großeltern als Regelfall in der Menschheitsgeschichte sogar eine ziemlich junge Erscheinung sein, kaum älter als einige zehntausend Jahre. Anscheinend handelt es sich dabei um eine Errungenschaft des so genannten modernen Menschen. Der Umschwung fiel zeitlich etwa mit der Phase zusammen, als sich im Jungpaläolithikum, also im letzten Abschnitt der Altsteinzeit, so genanntes modernes Verhalten etablierte – als sich unter anderem eine ausgefeilte symbolhafte Kommunikation durchsetzte, wie sie auch zu Kunst und Sprache gehört.
Hängen die beiden Entwicklungen wohl miteinander zusammen? Denkbar ist, dass die Zahl der Menschen deutlich anwuchs, als mehr von ihnen ein höheres Alter erreichten. Die größeren Populationen wiederum dürften den sozialen Austausch verstärkt und selbst die Evolution mancher genetischen Merkmale vorangetrieben haben. Erklärt sich durch die Vorteile dieses Wechselspiels womöglich auch der Untergang archaischer Frühmenschen wie des Neandertalers?
Aber der Reihe nach. Um festzustellen, seit wann mehr ältere Menschen lebten, müsste man die Altersstruktur der Populationen erfassen: den Anteil von Kindern, Erwachsenen im fortpflanzungsfähigen Alter sowie potenziellen Großeltern. Doch Paläontologen finden niemals ganze Populationen fossil vor, sondern meist einzelne Individuen, und auch von denen oft nur wenige Knochenfragmente. Zudem lässt sich selbst bei gut erhaltenen Überresten das Alter der Geschlechtsreife nicht leicht abschätzen. Wir wissen nicht genau, wie schnell die Kinder früherer Menschenformen heranwuchsen und in welchem Alter sie erwachsen wurden. Sogar bei heutigen Bevölkerungen ist das ja durchaus unterschiedlich.
Einige wenige Fundstätten enthielten immerhin in derselben Schicht ausreichend viele menschliche Fossilien, um Rückschlüsse auf das Todesalter einzelner Individuen ziehen zu können. Zu den berühmtesten zählt eine Karsthöhle bei Krapina in Nordkroatien. Der Paläontologe Dragutin Gorjanović-Kramberger (1856 -1936) fand dort 1899 und in den Folgejahren Fossilien von etwa 70 Neandertalern, die meisten davon in einer zirka 130 000 Jahre alten Sedimentschicht. Manche der Knochen weisen gleiche erbliche Merkmale auf, die man sonst von Neandertalern so nicht kennt. Es scheint sich hierbei um Mitglieder ein- und derselben Population zu handeln.
Wie so oft haben sich auch in Krapina Zähne am besten erhalten. Das kommt einer Altersanalyse zugute, nicht nur wegen der äußeren Abnutzungsspuren, sondern auch weil sich innere Zahnstrukturen altersabhängig verändern.
Was Zähne erzählen
Schon 1979 veröffentlichte der Paläoanthropologe Milford H. Wolpoff von der University of Michigan in Ann Arbor eine Studie zum erreichten Lebensalter der Krapina-Neandertaler. Er orientierte sich dabei am Durchbruch der drei hinteren Backenzähne (Molaren) und ihrem Abnutzungsgrad. Sie pflegen nacheinander mit größerem zeitlichem Abstand zu erscheinen. Als Anhaltspunkt nahm der Forscher eines der schnellsten Durchbruchsschemata beim heutigen Menschen. Nach seinen Analysen bekamen jene Neandertalerkinder den ersten hinteren Backenzahn mit ungefähr 6 Jahren, den zweiten mit 12 und den dritten mit 15.
Daraus folgt auch: Wenn der zweite hintere Backenzahn durchbricht, wurde der erste schon sechs Jahre lang benutzt, und so weiter. Zeigt ein erster Backenzahn 15 Jahre Abrieb, dürfte das Individuum ungefähr 21 Jahre alt geworden sein. War der zweite so lange in Gebrauch gewesen, zählte es 27 Jahre, beim dritten entsprechend etwa 30. Weil die Abnutzung recht gleichmäßig erfolgt, beträgt die Unsicherheit nur rund ein Jahr nach oben und unten. Am zuverlässigsten sind solche Analysen für eine Population, wenn Zahnfossilien von vielen Kindern und Jugendlichen verglichen werden können. Für Krapina trifft das zu: Wolpoff vermutete, dass die Überreste sämtlich von jungen Menschen stammten. Viele ältere Kinder waren dabei sowie junge Erwachsene, aber offenbar keine älteren Leute jenseits Ende 20.
Allerdings eignet sich diese Methode bei stark abgenutzten Zähnen nicht mehr gut zur Altersbestimmung älterer Individuen. Hatte Wolpoff darum womöglich etwas übersehen? Nachdem ich mich schon einige Jahre lang mit dem Lebensalter von frühen Menschen befasst hatte, beschloss ich 2005, mir das Krapina-Material nochmals mit einer neuen Methode anzusehen. Als Mitarbeiter gewann ich Jakov Radovčić vom Kroatischen Naturkundemuseum in Zagreb sowie an meiner Universität die Forscher Steven A. Goldstein, Jeffrey A. Meganck, Dana L. Begun und einige Studenten. Wir nutzten hochauflösende 3-D-Mikrocomputertomografie, die fossiles Material nicht zerstört.
Unser Augenmerk galt insbesondere dem Sekundärdentin, der harten Hauptmasse im Innern eines Zahns. Dieses Zahnbein bildet sich lebenslang, weshalb seine Menge auch bei abgenutzter Krone Rückschlüsse auf das Alter des Trägers erlaubt. Unsere ersten Ergebnisse – ergänzt von Scans des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig – bestätigten Wolpoffs Befund. Somit wurde wohl tatsächlich keiner der Krapina-Neandertaler mehr als 30 Jahre alt. Das muss aber nicht bedeuten, dass Neandertaler niemals länger lebten: Einige wenige Individuen von anderen Fundorten dürften etwa ein Alter von 40 Jahren erreicht haben.
Trotzdem: Eine so geringe Lebenserwartung können wir uns heute kaum vorstellen. Mit 30 befinden wir uns gerade in der Blüte des Lebens. Auch Angehörige von Naturvölkern werden in der Regel über 30 Jahre alt. Doch unter den frühen Menschen stehen die Neandertaler von Krapina nicht allein da. Zu den wenigen anderen Fossilstätten mit vielen Individuen gehört die Sima de los Huesos (Knochengrube) von Atapuerca in Nordspanien, wo zahlreiche Überreste eines mutmaßlichen Neandertalervorläufers entdeckt wurden. Die dortigen Fundschichten reichen teils 600 000 Jahre zurück, und das Altersprofil der ausgegrabenen Frühmenschen ähnelt dem von Krapina. Viele von ihnen starben als Jugendliche oder junge Erwachsene. Die wenigsten erreichten das dortige Höchstalter von Mitte 30.
Nun könnten solche Fundsituationen auf Katastrophen zurückgehen -oder die Fossilierungsbedingungen verhinderten, dass Überreste älterer Personen erhalten blieben. Allerdings finden wir das charakteristische Altersmuster auch dann wieder, wenn wir ein größeres Spektrum des Fossilmaterials einbeziehen, also auch Orte mit Knochen von ganz wenigen Individuen. Demnach war jung zu sterben damals durchaus die Regel. Frei nach einem dem britischen Philosophen Thomas Hobbes (1588 – 1679) zugeschriebenen Spruch war das Leben der Vorzeit offenbar hart, grausam und kurz.
Schon vor diesen Dentinuntersuchungen, die eine recht genaue Altersaufschlüsselung erlauben, hatte ich zusammen mit der Anthropologin Sang-Hee Lee von der University of California in Riverside ein Forschungsprojekt begonnen, bei dem wir nach Anzeichen für unterschiedliche Lebenserwartungen im Verlauf der Menschenevolution fahnden wollten. Auch bei dieser Studie analysierten wir Zähne. Und zwar bewerteten wir deren Abnutzung – die zu der Zeit am besten geeignete Methode. Nach reiflicher Überlegung beschlossen wir, nicht die erreichten Lebensjahre zu ermitteln – das absolute Alter der Personen –, sondern die Fossilien grob bestimmten Alterskategorien zuzuordnen. Denn je weniger Individuen ein- und dieselbe Fundstelle und -schicht birgt, umso schwerer lässt sich anhand des wenigen Materials das genaue Sterbealter abschätzen. Deswegen fragten wir einfach, ob eine Person das Großelternalter erreicht hatte – und welches Muster sich ergab, wenn man nach unserem Schema Zahnfossilien aus verschiedenen Phasen der Menschenevolution betrachtete. Als "alt" bezeichneten wir potenzielle Großeltern, als "jung" junge Erwachsene und ermittelten deren Zahlenverhältnis. Also: Welcher Anteil der Erwachsenen wurde zu verschiedenen Zeiten der Evolution "alt"?
Junge Großeltern der Steinzeit
Praktischerweise für unsere Studie brechen die dritten hinteren Backenzähne (unsere Weisheitszähne) bei Primaten ungefähr bei Eintritt der Geschlechtsreife durch – also wenn die Tiere erwachsen werden. Auch für Menschen galt das in der jüngeren Vergangenheit noch. Anhand von Befunden an Neandertalern und heutigen Naturvölkern schlossen wir, dass Frühmenschen ihre dritten hinteren Backenzähne mit rund 15 Jahren bekamen. Ungefähr in dem Alter mögen sie folglich auch ihr erstes Kind gehabt haben. Und mit etwa 30 konnten sie unter Umständen schon Großeltern werden.
Folglich zählten wir jedes Individuum, das mindestens 30 Jahre alt geworden war, als "alt". An sich war das genaue Lebensalter für unsere Erhebungsmethode aber nicht so wichtig. Es kam uns ja nur darauf an, den Eintritt ins Erwachsenen- und ins Großelternalter zu erkennen – und das konnten wir, egal ob die Geschlechtsreife bei 10 oder bei 20 Jahren einsetzte. Die Vorgehensweise erlaubte uns, eine beträchtliche Anzahl von Fossilien auch aus weniger umfangreichen Fundstellen zu untersuchen. Auf diese Weise bestimmten wir anhand von Zahnfossilien bei insgesamt 768 Individuen die Kategorie des erreichten Lebensalters. Wir ordneten die Fossilien vier Gruppen, sprich Evolutionsepochen zu.
Die erste enthielt die jüngeren Australopithecinen von vor rund 3 bis vor 1,5 Millionen Jahren – Vormenschen von Ost und Südafrika aus der Verwandtschaft von "Lucy". Eine zweite Gruppe bildeten frühe Vertreter der Gattung Homo, die vor 2 Millionen bis vor 500 000 Jahren in Afrika, Asien und Europa lebten. Die dritte Gruppe umfasste die europäischen Neandertaler, 130 000 bis 30 000 Jahre alte Fossilien. Als vierte Gruppe betrachteten wir moderne Europäer der frühen jüngeren Altsteinzeit (des frühen Jungpaläolithikums) von vor rund 30 000 bis vor 20 000 Jahren – also Menschen, die bereits Zeugnisse einer hochstehenden Kultur hinterließen.
Mit einer Zunahme der Lebenserwartung hatten wir zwar gerechnet, aber das Ergebnis verblüffte uns doch. Denn nur zwischen den ersten drei Gruppen verzeichneten wir ein leicht ansteigendes durchschnittliches Sterbealter. Zwischen Neandertalern und europäischen Jungpaläolitikern gab es dagegen einen regelrechten Sprung: Das Verhältnis "alt" zu "jung" der Erwachsenen zum Zeitpunkt ihre Todes stieg plötzlich bei den Menschen den jüngeren Altsteinzeit um das Fünffache. Bei den Neandertalern gab es neben zehn Personen, die als junge Erwachsene gestorben waren, nur vier, die älter als 30 Jahre wurden. Ganz anders die Jungpaläolithiker: Auf zehn "jung" Gestorbene kamen nun gleich 20 potenzielle Großeltern. Zuerst fragten wir uns, ob die vielen Grabfunde von modernen Menschen aus der jüngeren Altsteinzeit das Bild verfälscht hatten. Aber eine neue Berechnung ohne die Fossilien aus Bestattungen ergab Ähnliches. Offenbar wurde ein höheres Lebensalter tatsächlich erst sehr spät in der Menschheitsgeschichte von der Ausnahme zur Regel.
Wie mag sich dieser dramatische Wandel erklären? War das so deutlich längere Leben der Jungpaläolitiker etwa eine genetisch gesteuerte, rein biologische Eigenschaft, die sich mit dem modernen Menschen herausbildete? Oder verdankte es sich einem erst später erfolgten Verhaltenswandel?
Als der anatomisch moderne Mensch vor weit über 100 000 Jahren in Afrika entstand, hatte er noch lange nicht das kulturelle Niveau wie viel später in Europa. Vielmehr stand er über Jahrzehntausende etwa auf der gleichen – der mittleren Altsteinzeit (dem Mittelpaläolithikum) zugerechneten – Technologiestufe wie der Neandertaler. Beide scheinen sich zwar gelegentlich an höherer Kultur versucht zu haben, und speziell der moderne Mensch besaß diesbezüglich offenbar ein lange unterschätztes Potenzial (siehe SdW 12/2009, S. 66 und 12/2010, S. 58). Aber vor der jüngeren Altsteinzeit waren das wohl eher Randerscheinungen.
Um zu entscheiden, ob der Sprung hin zu einem längeren Leben kulturell oder genetisch bedingt war, mussten wir anatomisch moderne Menschen untersuchen, die aber noch kein modernes Verhalten besaßen, sondern der mittleren Altsteinzeit zuzurechnen waren. Lee und ich nahmen uns dazu Mittelpaläolithiker vor, die vor rund 110 000 bis vor 40 000 Jahren in Vorderasien gelebt hatten. Wir verglichen sie mit Neandertalern derselben Region und desselben Zeitraums, die eine entsprechende, einfache Werkzeugindustrie besaßen – die somit unter ähnlichen geografischen und klimatischen Bedingungen lebten und auch in ihrer kulturellen Komplexität ähnlich waren. Tatsächlich ergab die statistische Auswertung diesmal zwischen Neandertalern und modernen Menschen keinen nennenswerten Unterschied im Verhältnis der beiden Sterbekategorien. Genauer gesagt enthielten beide Gruppen einen ungefähr gleich hohen Anteil an jung wie an betagt verstorbenen Erwachsenen. Damit wurden in Vorderasien also mehr Neandertaler "alt" als in Europa – und bei den modernen Menschen weniger. Ein rein biologischer Grund für den auffälligen Zuwachs der Lebensdauer bei den europäischen Jungpaläolitikern im Vergleich zu archaischen Menschenformen schied somit aus.
Moderne und archaische Menschen in Vorderasien
Dass es bei den Neandertalern des Orients verhältnismäßig mehr ältere Leute gab als unter ihren zeitgenössischen Verwandten in Europa, erstaunt nicht wirklich. Denn im Nahen Osten herrschte damals ein gemäßigteres, viel angenehmeres Klima als im eiszeitlichen Europa, was das Leben vermutlich leichter machte. Umso mehr beeindruckt allerdings die Langlebigkeit der frühen modernen Europäer in ihrer harschen Umwelt. Immerhin war das Verhältnis von alt zu jung verstorbenen Erwachsenen bei ihnen trotz des widrigen Klimas mehr als doppelt so hoch wie vorher bei modernen Menschen der mittleren Altsteinzeit in Südostasien.
Welche kulturellen Neuerungen diese Entwicklung ermöglichten, wissen wir nicht genau. Unzweifelhaft wirkte sich aber nun das Vorhandensein von mehr Älteren seinerseits auch günstig auf die Lebensumstände aus. Denn zumindest bei heutigen Jäger-und-Sammler-Völkern spielen Großeltern eine bedeutende Rolle. Nach wissenschaftlichen Erhebungen an traditionell lebenden Menschengruppen, wie sie etwa die Anthropologen Kristen Hawkes von der University of Utah in Salt Lake City und Hillard Kaplan von der University of New Mexico in Albuquerque durchführten, unterstützen Großeltern ihre erwachsenen Nachkommen in der Regel ökonomisch wie auch sozial nach Kräften. Das erlaubt diesen, selbst mehr Nachwuchs in die Welt zu setzen. Dank der Hilfe steigen zudem die Überlebenschancen der Enkel.
Aber Großeltern fördern und stärken ebenfalls in besonderem Maß komplexe Beziehungsgeflechte – so wie es meine Oma und meine Uroma taten, wenn sie mir von unserer weitläufigen Verwandtschaft erzählten. Unsere engeren sozialen Strukturen und unser Miteinander beruhen wesentlich auf solchem Wissen. Senioren vermitteln auch auf vielen anderen Gebieten Sachverstand und Erfahrungen. Das reicht bei traditionellen Kulturen vom Umgang mit Umweltbedingungen bis hin zu technischem Knowhow. Die Alten kennen sich zum Beispiel mit giftigen Pflanzen und mit Wasserstellen für Dürrezeiten aus. Sie wissen um die besten Tricks beim Körbeflechten oder Fertigen von Steinmessern.
Nach Untersuchungen eines Teams um den Mathematiker Pontus Strimling von der Universität Stockholm trägt das Wiederholen entscheidend zur Weitergabe von Regeln und Gepflogenheiten – also zur Tradierung – in einer Kultur bei. Deswegen werden wichtige Zusammenhänge besser überliefert, wenn mehrere Generationen zusammenleben und dieselben Sachverhalte immer wieder zur Sprache kommen. Schon in der Steinzeit könnte das außerdem bedeutet haben: Weil die älteren Menschen gern dafür sorgten, dass ihr soziales Wissen über Verwandtschaftsbeziehungen wie auch andere soziale Netze nicht verloren ging, stärkten sie immer wieder das Bewusstsein der jüngeren Generationen hierfür. Das förderte vermutlich die Pflege solcher Beziehungen – und dies war nicht zuletzt ein Rahmen für gegenseitige Hilfeleistungen, wenn Not am Mann war. Solcher Beistand mag seinerseits mit ein Grund dafür gewesen sein, dass mehr Menschen älter wurden.
Die gestiegene Lebenserwartung brachte vermutlich einen Populationszuwachs mit sich – nicht nur wegen der jetzt stark vergrößerten Altersgruppe der Senioren, sondern auch dadurch, dass die potenziellen Großeltern oft noch selbst im fortpflanzungsfähigen Alter waren. Und eine große Bevölkerungszahl kann eine Triebfeder für neue Verhaltensmuster sein. Ob kulturelle Komplexität bestehen bleibt, hängt – laut Adam Powell vom University College London und seinen Kollegen – unter anderem von der Populationsdichte ab, die dafür hoch genug sein muss. Größere Populationen begünstigen demnach ausgedehnte Handelsnetze und verzweigte Kooperationssysteme. Zugleich scheint es die Menschen dann danach zu verlangen, ihre individuelle sowie ihre Gruppenidentität etwa durch Schmuck oder Körperbemalung auszudrücken. So deuten Anthropologen auch die vorübergehenden, durchaus bemerkenswerten frühen kulturellen Aufschwünge im südlichen Afrika.
Charakteristisch für die Menschen der jüngeren Altsteinzeit waren nun gerade Phänomene wie der verbreitete Gebrauch von Symbolen oder Werkzeuge aus besonderen, vor Ort nicht vorhandenen Materialien. Dass solches Verhalten damals so rasant zunahm, mag sehr wohl eine Auswirkung der anwachsenden Bevölkerung gewesen sein.
Möglicherweise beschleunigte die Populationszunahme sogar die menschliche Evolution. Nach Untersuchungen von John Hawks von der University of Wisconsin in Madison treten in einer größeren Bevölkerung mehr Mutationen auf, und vorteilhafte genetische Abweichungen können sich in den Folgegenerationen leichter ausbreiten. Solche Effekte dürften in unserer jüngeren Vergangenheit sogar noch gravierender geworden sein. Die Zahl der Menschen stieg deutlich, als vor 10 000 Jahren die Landwirtschaft einsetzte und die ersten Pflanzen domestiziert wurden. Damit gingen Ernährungsumstellungen einher. Neuerungen wie diese – oder auch Ortsveränderungen in klimatisch andere Gebiete – sorgten immer wieder dafür, dass andere Genvarianten Vorteile boten und sich darum in den betreffenden Populationen bald durchsetzten. Gregory Cochran und Henry Harpending von der University of Utah in Salt Lake City beschrieben viele solche genetischen Befunde. Das Spektrum reicht von Erbanlagen für die Hautfarbe bis hin zu neuen Genen für Verdauungsenzyme, etwa für Milchzucker (siehe auch SdW 3/2011, S. 28). Lebensdauer und kulturelle Neuerungen haben sich höchstwahrscheinlich schon in der jüngeren Altsteinzeit gegenseitig angetrieben. Vielleicht wurden die Menschen zunächst als Begleiteffekt irgendeines kulturellen Wandels etwas älter. Doch irgendwann bildete die Großelterngeneration schließlich ein festes Kennzeichen dessen, was Anthropologen unter Modernität und modernem Verhalten verstehen. Die damit einhergehenden Innovationen trugen ihrerseits zum Ansehen der Älteren bei – die möglichst lange leben sollten. Die Bevölkerung wuchs an, mit allen bekannten Folgen für Kultur und Erbausstattung. So gehören Alter und Weisheit eben doch zusammen.
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