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Evolution: Einzeller hortet hunderte Viren

Hunderte Viren lagert ein Einzeller in seinem Genom - dank einer molekularen Stummschaltung. Die Entdeckung zeigt, wie Viren bis heute die Evolution antreiben.
Künstlerische Darstellung ovaler Einzeller vor blauem Hintergrund.
Einzeller wie Amöben und Protisten sind die bevorzugten Opfer von Riesenviren. Ein solcher Organismus jedoch zähmt die Viren und nutzt sie für sich selbst.

Viren sind tödliche Feinde ihrer Wirtszellen. Doch ein kleiner Organismus hat hunderte Viren in sein Genom eingebaut, so dass er ihre Gene in seiner eigenen Evolution nutzen kann. Möglich macht das eine besondere molekulare Stummschaltung, mit der der Einzeller Amoebidium appalachense das virale Erbgut inaktiv macht. Wie ein Team um Luke A. Sarre von der Queen Mary University of London berichtet, enthalten die viralen Erbgutabschnitte des Organismus extrem viel 5-Methylcytosin – ein Erbgutbaustein mit angehängter Methylgruppe. In der jetzt in der Fachzeitschrift »Science Advances« erschienenen Untersuchung zeigt die Arbeitsgruppe, dass diese so genannte DNA-Methylierung das Viruserbgut gezielt stummschaltet. Fachleuten zufolge spielen Viren in der Evolution eine große Rolle, indem sie neue Gene bereitstellen. Der nun beschriebene Mechanismus erklärt, wie das genau funktionieren kann.

Forschungen haben gezeigt, dass Lebewesen seit Urzeiten immer wieder Erbgut austauschen, ein Prozess, den man als horizontalen Gentransfer bezeichnet. Fachleute gehen davon aus, dass Viren daran ein besonders großen Anteil haben. So sind ursprünglich virale Gene zum Beispiel an der Entwicklung der Plazenta beteiligt. Doch während relativ einleuchtend ist, dass ein Virus, versehentlich Genmaterial aus der infizierten Zelle in sein eigenes Erbgut einbaut, ist der umgekehrte Prozess schwieriger zu verstehen. Schließlich sind Viren in einer Zelle tickende Zeitbomben, die fast immer irgendwann ihren Wirt vernichten.

Doch die Studie des Teams um Sarre belegt nun, dass dieses Bild unvollständig ist. Die Erkenntnisse an Amoebidium appalachense verdeutlichen, wie komplex Viren mit ihren Wirtszellen wechselwirken können. Die Arbeitsgruppe fand hunderte Riesenviren in ihrem Erbgut eingebettet, stummgeschaltet durch die Methylierung. Solche Riesenviren sind nicht nur außergewöhnlich groß, sondern haben auch sehr komplizierte Genome mit Genen, die man sonst nur in Zellen findet. Das macht sie zu einem idealen Transportmittel für den horizontalen Gentransfer. Und Amoebidium macht davon reichlich Gebrauch: Rund 14 Prozent aller Proteingene des Einzellers gehören nicht ihm, sondern den chemisch stillgelegten Viren.

Die Daten legen nahe, dass der horizontale Gentransfer bei Amoebidium keineswegs ein seltenes, zufälliges Geben und Nehmen ist, sondern ein permanentes »Gen-Fließband«. Wie das Team berichtet, enthalten die mit Tieren eng verwandten Einzeller keineswegs stets den gleichen Satz stummgeschalteter Viren, sondern immer wieder andere. Außerdem scheinen sie nach und nach Teile des eingebauten Erbguts wieder abzustoßen – DNA ist kostspielig und Ballast wieder loszuwerden, lohnt sich. Die Ergebnisse zeigen einen dynamischen Prozess von Infektion, Einbau in die DNA und schließlich Entsorgung der Viren.

Im Zentrum dieses Prozesses steht das Stummschalten durch 5-Methylcytosin, ohne die virales Erbgut nicht sicher aufbewahrt werden könnte. Das deutet auf eine bisher unbekannte evolutionäre Funktion von 5-Methylcytosin. Die DNA-Methylierung, bei der Erbgutbausteine durch eine Methylgruppe verändert wird, ist unter Organismen weit verbreitet und hat diverse Funktionen von Parasitenabwehr über Genregulation bis hin zum Gedächtnis. Indizien weisen nun darauf hin, dass das bei Amoebidium entdeckte Erbgut-Fließband eine zentrale, womöglich ursprüngliche Funktion von 5-Methylcytosin darstellt. Denn viele ähnliche Einzeller bilden diese epigenetische Veränderung nicht – und sie bauen praktisch nie Riesenviren in ihr Erbgut ein, wie die Autorinnen und Autoren der Studie anmerken. Das legt nahe, dass Amoebidium tatsächlich die Riesenviren gezielt als evolutionäres Ersatzteillager hortet. Dabei könnten, so die Vermutung, immer wieder Erbgutteile zufällig aktiv werden und – wenn sie sich als nützlich erweisen – dauerhaft als neue Gene im Erbgut bleiben.

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  • Quellen

Sarre, L.A., Science Advances 10 vol. 28, 2024, 10.1126/sciadv.ado6406

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