Teilchenphysik: Meuterei der Mesonen
Sie sind instabil, extrem kurzlebig und entstehen nur, wenn Atomkerne mit sehr großer Geschwindigkeit ineinanderkrachen: Mesonen sind Teilchen aus einem Quark und einem Antiquark. Für Physiker gehören sie seit Jahrzehnten zum Alltag, da sie in großer Anzahl an Teilchenbeschleunigern auftauchen. Allzu sehr im Vordergrund standen sie dort jedoch bisher nicht. Immerhin gelang mit ihnen der Nachweis, dass sich Materie und Antimaterie bei bestimmten Teilchenzerfällen nicht so spiegelbildartig verhalten, wie man es erwarten würde.
In letzter Zeit sind Mesonen allerdings vom eher unscheinbaren Hinterbänkler zum großen Hoffnungsträger avanciert: Je nachdem, wen man fragt, könnten sie sogar den Weg zu neuen Naturgesetzen jenseits der bekannten physikalischen Theorien weisen. Darauf deuten jedenfalls mehrere subatomare Reaktionen am weltgrößten Teilchenbeschleuniger hin, dem Large Hadron Collider (LHC) am Genfer Kernforschungszentrum CERN. Sie weichen von den Erwartungen der Experten ab – und 2019 wird deutlicher werden, ob die ungewöhnlichen Messdaten wirklich eine Fährte zu neuer Physik werden könnten.
Rätselhafte Myonen
Erzeugt man Mesonen in einem Teilchenbeschleuniger bei der Kollision hochenergetischer Teilchen, so zerfallen sie praktisch sofort wieder an Ort und Stelle: Meist hat man keine Chance, sie direkt in einem Detektor nachzuweisen. Stattdessen rekonstruieren die Forscher die Eigenschaften der zusammengesetzten Teilchen anhand ihrer Zerfallsprodukte. Beim Zerfall wandelt sich die ihnen gespeicherte Energie in andere Materieformen um.
Nach den etablierten Gesetzen der Teilchenphysik – dem so genannten Standardmodell – sollten die dabei entstehenden Partikel in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen: Beim Zerfall eines bestimmten Mesonentyps erwartet man etwa, dass gleich viele Elektronen wie Myonen ins Leben gerufen werden.
Myonen sind gewissermaßen die großen Geschwister des Elektrons. Gemeinsam mit so genannten Taus und den drei Varianten des Neutrinos bilden sie die Familie der »Leptonen«. Myonen sind deutlich schwerer als Elektronen, aber immer noch sehr viel leichter als alle Mesonen. Das Standardmodell behandelt die beiden Geschwister an und für sich gleich: Solange der Zerfall von Mesonen genügend Energie bereitstellt, sollten Myonen und Elektronen etwa gleich häufig unter den Zerfallsprodukten vertreten sein.
Einige Messdaten am LHC deuten jedoch darauf hin, dass diese »Leptonen-Universalität« bei manchen Zerfällen außer Kraft gesetzt sein könnte. Bei ihnen liegt die Produktionsrate beider Teilchensorten weiter auseinander als vom Standardmodell vorhergesagt. Und das ist nur eine von mehreren Beobachtungen, die nicht ganz den Erwartungen entsprechen. Auch bei anderen Zerfällen von Mesonen weichen die Ergebnisse vom Standardmodell der Teilchenphysik ab.
Sensation oder statistischer Ausreißer?
Noch sind diese Diskrepanzen zwischen Theorie und Messung nicht groß genug für eine Sensation: Es könnte sich schlicht um statistische Ausreißer handeln, die man bei den gewaltigen Datenmengen, die der LHC sammelt, hier und da erwarten würde. Von einer gesicherten Entdeckung ist üblicherweise erst bei einer statistischen Relevanz von fünf Sigma die Rede. Dann ist die Irrtumswahrscheinlichkeit unter Berücksichtigung aller bekannten Fehler kleiner als eins zu drei Millionen. Die verdächtigen Zerfälle weichen bisher nur um zwei bis drei Sigma von den Erwartungen ab.
Seit die Kunde der Anomalien im Frühjahr 2017 die Runde machte, hat der LHC fleißig weiter Daten gesammelt. Werden die verdächtigen Spuren damit stärker? Versinken sie wieder im statistischen Rauschen? Auf den kommenden Teilchenphysikkonferenzen dürften neue Daten präsentiert werden, die mehr Klarheit in diesen Fragen bringen werden.
Die »B-Physik« verheißt Hoffnung
Steht dann der Teilchenphysik ein Neuanfang bevor? Seit Jahren suchen die Physiker zunehmend verzweifelt nach etwas, das einen Weg jenseits des Standardmodells weisen könnte, der höchst erfolgreichen – aber mutmaßlich unvollständigen – Theorie des Mikrokosmos.
Wenn ja, wird es wohl eine Revolution unter dem Stern der »B-Physik«. Der Buchstabe kommt vom Namen der Bottom-Quarks oder kurz B-Quarks, die Bestandteil der verdächtigen Mesonen sind. Sie gehören zur dritten Generation der Quarks. Zur ersten gehören die so genannten Up- und Down- Quarks, aus denen Protonen und Neutronen bestehen. Zur zweiten Generation zählen die Strange- und Charm-Quarks, zur dritten und schwersten zählen neben den Bottom-Quarks noch die Top-Quarks.
Letztere sind allerdings so schwer und unglaublich kurzlebig, dass sich aus ihnen nicht einmal Mesonen bilden können. Somit sind Bottom-Quarks die schwersten verfügbaren Quarks, mit denen man das Gefüge der Natur anhand von Mesonen untersuchen kann. Das Rezept ist an sich ganz einfach: Physiker schießen Teilchenstrahlen mit hinreichend viel Energie aufeinander, so dass dabei Bottom-Quarks (beziehungsweise Bottom-Antiquarks) entstehen, die sich mit einem anderen Quark für kurze Zeit zu einem B-Meson zusammenschließen.
Am Large Hadron Collider untersuchen nicht nur die beiden Universaldetektoren ATLAS und CMS solche Zerfälle: Mit LHCb ist eine spezielle Messstation ganz auf die Analyse von B-Mesonen ausgerichtet. Und in Japan entsteht am Teilchenforschungszentrum KEK mit dem SuperKEKB sogar eine »B-Fabrik« der neuesten Bauart. Dort werden zwar nicht die hohen Energien des LHC erreicht. Aber dafür können die Forscher dort die Strahlenergie exakt so einstellen, dass möglichst viele B-Mesonen und möglichst wenig andere Teilchen erzeugt werden.
Das erleichtert die Analyse: Am CERN besteht ein großer Teil der Arbeit darin, die Unmengen an uninteressantem »Teilchenschrott« herauszufiltern, die bei den hochenergetischen Kollisionen mit dazugehören. SuperKEKB soll dabei den Weltrekord seines eigenen Vorgängers KEKB für die Produktion von B-Mesonen um den Faktor 40 überbieten und bis zu 800 B-Mesonen pro Sekunde liefern, die der Detektor Belle II präzise vermisst.
2018 ist bereits eine mehrmonatige Testphase angelaufen, 2019 soll das wissenschaftliche Programm starten. Die B-Physiker warten sehnsüchtig auf die Daten, um die Anomalien aus den LHC-Daten bestätigen oder verwerfen zu können. Dabei sind SuperKEKB und LHCb ein Stück weit Konkurrenten, ergänzen sich aber auch in ihren Fähigkeiten und dienen nicht zuletzt der gegenseitigen Kontrolle: Findet der eine etwas, wo der andere gar nichts sieht, war es am Ende vielleicht doch keine Entdeckung, sondern ein Fehler in der Datennahme oder in der Auswertung.
So unvoreingenommen wie möglich
Im Augenblick laufen am CERN mehrere Analysen zu den B-Mesonen. Beteiligte Forscher betonen, dass sie dabei so unvoreingenommen vorgehen wie möglich: »Um bei den neuen Studien sicherzugehen, dass wir das Ergebnis nicht auf Grund subjektiver Tendenzen verfälschen, ›verstecken‹ wir das eigentliche Resultat mit Hilfe von geheimen Faktoren«, sagt Giovanni Passaleva, Sprecher der LHCb-Kollaboration. Diese werden erst dann wieder entfernt, wenn das Komitee die gesamte Analyse für sauber und fertig entwickelt befindet. Kurzum: Bis kurz vor der Publikation der Ergebnisse wissen also nicht einmal die Autoren selbst, ob sich in ihren Daten spannende Anomalien verbergen oder nicht.
2019 werden die Forscher den Vorhang lüften. Unabhängig davon, wie die Sache ausgehen wird, ist klar: Ein Stück weit ist die Suche nach solchen Anomalien auch eine Rückbesinnung auf die alten Tugenden der Teilchenphysik. In den vergangenen Jahren hatten sich die Forscher – sowohl die Experimentatoren als auch die Theoretiker – sehr auf die direkte Jagd nach Partikeln konzentriert, die dank dem LHC möglich geworden war.
Diese direkte Suche hat einen enorm wichtigen Fund zu Tage gebracht: das Higgs-Boson. Es erklärt, woher andere Elementarteilchen ihre Masse beziehen. Aber so wichtig dieses Teilchen war, um den »Baukasten« des Standardmodells der Teilchenphysik komplett zu machen – überraschend war seine Entdeckung nicht. Im Gegenteil, die Teilchenphysiker hatten jahrzehntelang verzweifelt nach dem Higgs gesucht.
Überraschungen in Form neuer, unerwarteter Teilchen sind stattdessen bislang ausgeblieben. Die Suche nach Anomalien bei schon bekannten Teilchenreaktionen – also die indirekte Suche – hat sich aber früher häufig als sehr erfolgreich erwiesen. »In der Vergangenheit haben manchmal winzige Abweichungen in Bereichen, die man eigentlich glaubte verstanden zu haben, neue und tiefer liegende Strukturen offenbart«, sagt Carsten Niebuhr, Teilchenphysiker am Deutschen Elektronen-Synchrotron (DESY) in Hamburg.
Kleine Erweiterung statt Revolution
Mit Blick in die Zukunft müssten diese Diskrepanzen gar nicht in die ganz große Revolution münden. Eine Meuterei würde vielen Physikern schon reichen: So müsste eine Neuentdeckungen im B-Sektor gar nicht die theoretischen Modelle sprengen und eine völlige Revision der bisherigen Theorien erfordern – es könnte auch einfach eine kleine Erweiterung des Standardmodells mit sich bringen. Auch das wäre aus Sicht der Forscher bereits ein großer Erfolg.
Eine mögliche Erklärung für die beobachteten Anomalien bei den B-Mesonen wären etwa so genannte Leptoquarks, die verschiedene Theoretiker vorgeschlagen haben. Diese hypothetischen Teilchen vereinigen die Eigenschaften von Quarks und leichten Teilchen wie Elektronen oder Myonen. Unter Theoretikern sind sie derzeit unter anderem deshalb populär, weil man mit ihnen die Asymmetrie zwischen Materie und Antimaterie kurz nach dem Urknall erklären kann. Auch ein »Z Strich« genanntes Teilchen wäre ein möglicher Kandidat, der gegenwärtig heiß diskutiert wird. Wie die Chancen für diese oder andere Neuentdeckungen stehen, wird 2019 zeigen – im besten Fall geht es als Jahr der B-Physik in die Geschichte ein.
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