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Genetik: Minimalisten auf dem Weg zur Selbstaufgabe

"Was ist zum Leben unbedingt notwendig?" lautet die grundlegende Frage für die Suche nach dem kleinsten Genom. Die aktuelle Schätzung liegt bei rund 400 000 Basenpaaren - aber vielleicht können es auch noch viel weniger sein.
Bakteriozyte mit <i>Carsonella rudii</i>
Was macht ein Insekt, dessen Nahrung bestimmte, absolut lebensnotwendige Bestandteile nicht bietet? Ganz einfach: Es sucht sich eine hilfsbereite Bakterienart, lädt diese in seinen Körper ein und lässt die Gäste dort die benötigten Substanzen produzieren. Quasi als Dank bietet das Insekt den Bakterien im Gegenzug einen sicheren und stabilen Lebensraum mit üppiger Nahrung – so ist beiden Seiten bestens gedient.

Die einverleibte Bakterienart lebt im Wirtsinsekt so gut, dass sie zwar darauf bedacht ist, den Gastgeber zuverlässig mit den gewünschten Substanzen zu versorgen, sich aber auf der anderen Seite im Lauf der Zeit auch immer mehr vom Wirt bedienen lässt. So trennt sie sich nach und nach von immer mehr Genen, die sie nicht mehr braucht, weil sie deren Produkte vom Wirt frei Haus geliefert bekommt. Derartige obligatorische Endosymbionten, die überhaupt nicht mehr alleine außerhalb des Insekts leben können, haben daher häufig nur noch ein winziges Genom – und das macht sie äußerst spannend für die Wissenschaft: An welchem Punkt ist die unterste Grenze des Genverzichts erreicht und das Bakterium nicht mehr lebensfähig?

Ein Meister der Reduktion ist das in der Baumlaus Cinara cedri lebende Bakterium Buchnera aphidicola, wie das Team um Vivente Pérez-Bocal von der Universität Valencia nun herausfand: Nur rund 416 000 Basenpaare finden sich auf seinem ringförmigen Chromosom und gut 6000 weitere Basenpaare beherbergt ein zusätzliches Plasmid speziell für die Synthese der Aminosäure Leucin. Auf dem Chromosom drängen sich 362 Gene zusammen – gerade mal ein Minimalsatz fürs Überleben. Immerhin verfügt B. aphidicola noch über die meisten Gene, die es für die Verdopplung und das Ablesen der Erbsubstanz benötigt – für alle weiteren Aufgaben benötigt es aber die Unterstützung des Wirtsorganismus.

Als womöglich fataler Fehler des Bakteriums könnte sich einmal sein Verzicht auf die Fähigkeit zur Synthese von Tryptophan herausstellen. Tryptophan ist nämlich eine der zehn lebenswichtigen Aminosäuren, die der Endosymbiont als Gegenleistung für die Wohnungsbereitstellung für den Wirt produziert. Der kleine Einwohner erfüllt also nicht nur seine Aufgabe nur unzureichend, sondern braucht außerdem selber einen Lieferanten für diese Aminosäure.

Eigentlich sollte damit der Tod des Paares besiedelt sein – doch ein weiterer Symbiont springt in die Bresche und versorgt die ganze Lebensgemeinschaft mit dem lebensnotwendigen Tryptophan. Denn Cinara cedri beherbergt noch andere Bakterien. Zunächst eine günstige Fügung, doch für B. aphidicola könnte die Hilfe auch der Anfang vom Ende sein. Denn erweist sich der zweite Symbiont als effektiver, ist der schwächere zum Aussterben verurteilt. B. aphidicola würde dann seinem ausgeprägten Reduktionsdrang zum Opfer fallen und aussterben.

Pachypsylla venusta mit Bakteriozyten | Frisch geschlüpfte Pachypsylla venusta: Die leuchtend gelben Strukturen im Inneren sind Bakteriozyten, spezielle Organellen, welche die symbiontischen Bakterien beherbergen.
Ein etwas glücklicheres Händchen bei der Minimalisierung scheint das in dem Pflanzensaft saugenden Insekt Pachypsylla venusta lebende Bakterium Carsonella rudii zu haben, dessen Genom die Arbeitsgruppe um Atsushi Nakabachi vom japanischen RIKEN-Labor analysierte [2]. C. rudii reduzierte sein Genom auf knapp 160 000 Basenpaare, die für gerade einmal 182 Gene ausreichen. Damit hält C. rudii den aktuellen Rekord im Minigenom. Der Endosymbiont hat sich den Großteil der Gene bewahrt, die er für die Synthese von Aminosäure benötigt. Aber er verfügt nur noch über einen Teil der Gene für bakterienspezifische Prozesse und hat sämtliche Gene für den Aufbau einer eigenen Hülle verloren. Damit hat er zum Wohle seines Wirtes einiges aufgegeben und ist nun von diesem vollkommen abhängig.

Pachypsylla venusta | Pachypsylla venusta: Das Insekt, das nur drei bis vier Millimeter groß ist, braucht zum Leben das Bakterium Carsonella rudii.
C. rudii fehlen viele Gene, die bisher als absolut lebensnotwendig angesehen wurden – wie kann der Minimalist da überhaupt existieren? Die Wissenschaftler vermuten, dass irgendwann im Verlauf des Entwicklungsprozesses – ähnlich wie bei Zellorganellen – einige Gene vom Gast auf den Wirt übertragen wurden. Es sieht fast so aus, als wäre C. rudiiauf dem besten Wege, eines Tages als Organelle zu enden. Damit würde der Minimalist zwar sich selbst ein Stück weit aufgeben, hätte es aber doch um einiges besser getroffen als B. aphidicola, das vollkommen zu verschwinden droht.

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