Depression: Mit Achtsamkeit aus dem schwarzen Loch
Still sitzen, sich auf seinen Atem konzentrieren, die eigenen Emotionen und den eigenen Körper bewusst wahrnehmen: Achtsamkeit klingt nach einem vergleichsweise simplen Rezept. Und doch legen Studien der letzten Jahre nahe, dass sie als gezielt eingesetzte Methode ein durchaus probates Mittel im Kampf gegen Depression ist.
In den späten 1970er Jahren entwickelte der mittlerweile emeritierte Mediziner Jon Kabat-Zinn am University of Massachusetts Medical Center die Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion. Kabat-Zinn ging es mit seinem Ansatz nicht um die Behandlung von psychischen Störungen. Vielmehr sollte die Methode ganz allgemein helfen, den Stresspegel zu senken und das seelische Wohlbefinden zu verbessern. Die Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion besteht aus einem achtwöchigen Workshop mit mehrstündigen Gruppensitzungen. Ausgebildete Trainer vermitteln Meditation, Techniken, sich seines Körpers bewusst zu werden, und Yogaübungen.
In den 1990er Jahren bildete der Ansatz dann die Grundlage für die Achtsamkeitsbasierte Kognitive Therapie zur Behandlung von wiederkehrenden Depressionen. Neben Übungen aus der Achtsamkeitsbasierten Stressreduktion kommen hierbei Methoden aus der klassischen kognitiven Verhaltenstherapie zum Einsatz: Einem depressiven Patienten wird beispielsweise beigebracht, mit ungewollt auftauchenden negativen Gedanken umzugehen. Entwickelt wurde der Ansatz speziell, um Rückfällen vorzubeugen, die ein großes Problem in der Depressionsbehandlung darstellen. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass die Patienten erneut in das tiefe dunkle Loch der tückischen Erkrankung fallen, steigt mit der Anzahl bereits erlittener depressiver Episoden rapide an.
"Wenn eine Depression zum ersten Mal ausbricht, stehen dahinter meist belastende Lebensereignisse, etwa der Verlust nahestehender Menschen oder Traumata", erklärt Oliver Kreh. Er ist Leitender Psychologe der AHG Klinik Tönisstein. "Wenn aber die Depression wiederkehrt, sind oft überhaupt keine belastenden Lebensereignisse im Spiel." Eine Vermutung ist: Das stark negative Denken bei Depressionen in Form etwa von Selbstvorwürfen wird durch das Schwanken von emotionalen Zuständen in Gang gesetzt. Betroffene denken: "Mir geht es schlecht – daran bin ich schuld!" Sie geraten in eine Abwärtsspirale aus trübseligen Emotionen und Gedanken.
Genau hier setzt die Achtsamkeitsbasierte Kognitive Therapie an. Anders als in einer Verhaltenstherapie geht es nicht darum, den Menschen Problemlösefertigkeiten an die Hand zu geben, um belastende Lebensereignisse zu meistern. "Sie sollen stattdessen lernen, eine andere Haltung zu negativen Emotionen und Gedanken zu entwickeln", sagt Oliver Kreh. Durch Meditation, durch die Beobachtung des Atems, gelingt es den Patienten ganz allmählich, Abstand zu gewinnen von störenden oder unangenehmen Vorstellungen. "Man lässt die Gedanken vorbeiziehen und lernt zu erkennen, dass Gedanken und Gefühle genau das sind: Gedanken und Gefühle, nicht unbedingt die Wahrheit." Auch den depressiven Gedanken "Ich bin wertlos und an allem selbst schuld" sieht man dann nur noch als Gedanken.
Relativ wirksam in der Rückfallprävention
Dass die Achtsamkeit nicht nur in der Theorie eine gute Idee ist, zeigen diverse Studien. "Die beste Metaanalyse zur Wirksamkeit von Achtsamkeitsbasierter Kognitiver Therapie für die Rückfallprävention ist eine dänische Studie aus dem Jahr 2011", so Johannes Michalak von der Universität Witten/Herdecke. "Bei Patienten mit drei oder mehr depressiven Episoden in der Vorgeschichte reduzierte sich das Rückfallrisiko um mehr als 40 Prozent", so der klinische Psychologe. Insgesamt gebe es Hinweise darauf, dass bei schwereren Fällen – Patienten mit mehr Rückfällen und stärker traumatisierenden Erlebnissen in der Kindheit – die Therapie wirksamer ist als bei leichteren Fällen.
"Man lässt die Gedanken vorbeiziehen und lernt zu erkennen, dass Gedanken und Gefühle genau das sind: Gedanken und Gefühle, nicht unbedingt die Wahrheit."Oliver Kreh
Zudem könnte die Achtsamkeitsbasierte Kognitive Therapie eine wichtige Alternative zu Antidepressiva darstellen. Die etwa von der britischen Gesundheitsbehörde NICE empfohlene Standardbehandlung bei wiederkehrenden Depressionen sieht nämlich vor, Antidepressiva mindestens zwei Jahre lang zur Vorbeugung einzunehmen. Doch nicht jeder Betroffene ist bereit, zu den Medikamenten zu greifen und mit etwaigen Nebenwirkungen wie einer verminderten Libido oder Gewichtszunahme zu leben. Außerdem hält die Wirkung der Tabletten auch nur so lange an, wie man sie einnimmt.
Alternative zu Antidepressiva?
Forscher um den Psychiater Willem Kuyken von der University of Oxford verglichen im Jahr 2015 Antidepressiva und die Achtsamkeitsbasierte Therapie. Mehr als 400 Patienten, die bereits drei oder mehr depressive Episoden hinter sich hatten, teilten sie nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen ein. Die eine Hälfte nahm weiterhin Antidepressiva ein, die andere durfte sich der Achtsamkeit widmen. In beiden Fällen waren die Rückfallquoten im Verlauf von zwei Jahren vergleichbar. Sie lagen zwischen 40 und 50 Prozent. Auch die Kosten für die Behandlungen schlugen ähnlich zu Buche. "Die Achtsamkeitsbasierte Kognitive Therapie scheint also für Patienten, die sich auf eine psychotherapeutische Behandlung einlassen wollen, eine Alternative zur medikamentösen Rückfallprophylaxe zu sein", sagt Johannes Michalak.
Vorteile und Nachteile der achtsamkeitsbasierten kognitiven Therapie
Einer der Vorzüge der achtsamkeitsbasierten Methoden ist, dass sie kostengünstig sind, da sie im Gruppenformat angeboten werden. Außerdem können damit 12 bis 15 Patienten gleichzeitig versorgt werden, die sonst vielleicht lange auf einen Einzeltherapieplatz warten müssten.
Doch es gibt auch unbestreitbar Nachteile: Die Betroffenen müssen die Disziplin mitbringen, jeden Tag 40, 50 Minuten zu üben. Zudem kann Achtsamkeit bei Patienten zu erhöhtem Stress führen, vor allem zu Beginn der Behandlung. "Achtsamkeit ist beileibe kein Wellnessprogramm", sagt Johannes Michalak. Man wird mit sich selbst konfrontiert, sich der eigenen Denk- und Verhaltensmuster bewusster. "Das ist nicht für jeden Menschen angenehm." Aber das gilt natürlich auch für andere Therapien.
Zudem mehren sich die Hinweise, dass achtsamkeitsbasierte Ansätze nicht nur der Rückfallprävention dienen, sondern auch bei akuten Depressionen helfen könnten. "In einer qualitativ sehr guten amerikanischen Metaanalyse von 2010 reduzierten sich die Symptome bei akut depressiven Menschen durch die Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion und die Achtsamkeitsbasierte Kognitive Therapie deutlich", sagt Johannes Michalak. Ähnliche Ergebnisse förderte auch eine Metaanalyse aus dem Jahr 2014 zu Tage. Den Forschern um die Psychologin Clara Strauss von der University of Sussex zufolge waren die Ergebnisse achtsamkeitsbasierter Ansätze denen einer kognitiven Gruppenverhaltenstherapie vergleichbar.
Mitgefühl mit sich selbst
"Die achtsamkeitsbasierten Ansätze wirken Untersuchungen zufolge zum einen über Achtsamkeit", sagt Michalak. "Das heißt, je achtsamer die Patienten im Lauf von Achtsamkeitsbasierter Kognitiver Therapie geworden sind, desto weniger depressive Symptome wiesen sie 15 Monate nach der Behandlung auf." Zum anderen wirkte die Behandlung auch über eine Erhöhung des Mitgefühls mit sich selbst – je mitfühlender die Patienten wurden, desto weniger depressiv waren sie später. "Wenn man sich selbst gegenüber mitfühlender verhält, sind selbst die für Depression typischen negativen Gedankenmuster nicht mehr so schädlich", so der klinische Psychologe. Und auch noch ein anderer Aspekt scheint wichtig zu sein. "Metaphorisch ausgedrückt werden sich Patienten über die Achtsamkeit des Reichtums jedes Augenblicks bewusst."
Die Versorgungslage
"An vielen Kliniken in Deutschland werden mittlerweile Achtsamkeitselemente in die Behandlung von depressiven Patienten aufgenommen", sagt Johannes Michalak. "Für Achtsamkeitsbasierte Kognitive Therapie hingegen, in Reinform mit Kursen von acht Wochen, ist die Versorgungssituation in Deutschland vermutlich nicht so gut." Das liegt auch an den hohen Anforderungen an die Therapeuten. Sie müssen mindestens ein Jahr lang eigene Erfahrung mit Achtsamkeit und Meditation gesammelt haben. Gleichzeitig sollten sie sich natürlich auch mit den klinischen Störungen auskennen, die sie behandeln. Sie müssen also Ärzte oder Psychotherapeuten sein. Das sind relativ hohe Hürden. Qualifizierte Kurse zur Achtsamkeitsbasierten Stressreduktion hingegen seien sicherlich einfacher zu finden. "Aber depressive Menschen sollten dann auch noch zusätzlich eine Psychotherapie in Anspruch nehmen, wenn der Lehrer nicht gleichzeitig Psychotherapeut ist", rät der klinische Psychologe. Und Oliver Kreh ergänzt: "Die Versorgung in diesem Bereich nimmt immer mehr zu. Es gibt inzwischen anerkannte Ausbildungen zum Lehrer für die beiden achtsamkeitsbasierten Ansätze und auch einen eigenen Verband."
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