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Wahrnehmung: Mit anderen Augen

Vieles ist in asiatischen Ländern anders als bei uns, einiges davon offensichtlich, anderes mehr im Verborgenen, manches sehr komplex, etliches grundlegend. So offenbaren beispielsweise Augenbewegungen, wie verblüffend verschieden Chinesen und Amerikaner die Welt sehen.
Tiger im Blick
Ein Tiger im Wald, ein Flugzeug vor einer Bergkette – Motive, die uns im Fernsehen, auf Werbeplakaten, in Büchern, einfach überall rund um den Globus immer wieder begegnen. Die an sich wenig aufregenden Bilder werden aber spannend, wenn sie jeweils von einem Amerikaner und einem Chinesen beschrieben werden: Haben die beiden wirklich dasselbe betrachtet? Es scheint fast: nein.

Denn wie sich immer wieder bestätigt, legen Asiaten offenbar mehr Wert auf Zusammenhänge zwischen Objekten und verknüpfen sie auch stärker mit dem Hintergrund als ihre westlichen Testgenossen. Ihre Beschreibung klingt daher ganz anders als die der eher Vordergrundobjekt-orientierten Westler. Und: Asiaten erkennen beispielsweise Szenen seltener wieder, in denen ein schon bekanntes Vordergrundmotiv mit neuem Hintergrund präsentiert wird – vielleicht eine Folge der anderen Sichtweise, die Dinge mehr im Kontext als für sich allein stehend zu erfassen, spekulieren Forscher.

Bleibt nur die Frage: Wann entsteht diese unterschiedliche Sicht der Dinge? Schon beim Betrachten der Szene? Danach, beim Ablegen der Informationen? Oder erst beim Wiederaufwärmen, wenn sie nun auf Nachfrage wieder in Worte gefasst werden sollen? Wann greifen Schere und Retuschierpinsel des Kulturkreises?

Richard Nisbett und seine Mitarbeiter von der Universität von Michigan luden 25 europäische und nordamerikanische Studenten sowie 27 chinesische Gaststudenten in ihr Labor und führten ihnen einen eben solchen Bilderreigen verschiedener Motive von Objekt mit Hintergrund vor. Nach einer kurzen Pause präsentierten sie ihnen eine neue Zusammenstellung bereits gezeigter, aber auch neuer Objekte mit ebenso schon bekannten und auch neuen Hintergründen. Dann sollten die Teilnehmer entscheiden, welche Objekte sie bereits zuvor gesehen hatten.

Versuchsaufbau | Während die Probanden das Tigerbild betrachteten, erfassten die Forscher die Augenbewegungen der Testteilnehmer. So konnten sie verfolgen, wann der kulturelle Retuschierpinsel einsetzt.
Und wieder schnitten die Chinesen schlechter ab – das alte Bild. Doch dieses Ergebnis interessierte die Forscher gar nicht, denn ihr Augenmerk galt etwas ganz anderem: den willkürlichen wie unwillkürlichen Augenbewegungen ihrer Teilnehmer. Welchen Abschnitt des Bildes betrachtete wer wie lange, wohin sprang der Fokus in den Sakkaden – sprungartigen Blickwechseln –, wer fixierte und wer ließ den Blick eher schweifen – all das zeichneten die Wissenschaftler mit Hilfe eines am Kopf montierten Augenbewegungsmessers auf.

Mit dem Blick eines Amerikaners | Amerikanische Testteilnehmer konzentrierten sich stärker auf das Objekt im Vordergrund, das sie früher und länger in Augenschein nahmen als ihre chinesischen Kollegen.
Und diese Resultate offenbarten nun kulturelle Unterschiede schon nach wenigen hundert Millisekunden. So besahen sich zwar alle Teilnehmer insgesamt den Hintergrund mehr als das vordergründige Objekt, was jedoch schlicht an der Tatsache gelegen haben dürfte, dass er auch mehr Raum auf dem Bild einnahm als Tiger oder Flugzeug und Co, erklären die Forscher. Dafür sprang der Blick der Amerikaner aber schneller auf das Objekt im Vordergrund und haftete dort auch länger als bei den Chinesen.

Die Sicht eines Chinesen | Chinesische Studenten erfassten mit weitaus mehr Aufmerksamkeit als die Amerikaner auch den Hintergrund des Motivs.
Fixierte Blicke galten bei beiden Gruppen häufiger dem Objekt als dem Hintergrund, insgesamt jedoch fokussierten die Chinesen ihren Blick weitaus öfter auf einzelne Bildpunkte als ihre westlichen Testgenossen – aber nur, weil sie auch dem Hintergrund entsprechend mehr Aufmerksamkeit widmeten. Alles in allem also erfassten die Asiaten schon beim Betrachten des Bildes mehr die Gesamtkomposition, während die amerikanischen Studenten eine Objektvorliebe zeigten.

Die Unterschiede im visuellen Gedächtnis zwischen den Kulturen könnte also darin begründet sein, dass die einzelnen Informationen von Bildern schon beim Betrachten unterschiedlich gewichtet aufgenommen und dementsprechend differenziert wiedergegeben werden: Wer im Vergleich länger den Tiger betrachtet als den Dschungel, dürfte nachher auch mehr Details über die Fellzeichnung berichten können – dafür aber weniger darüber, ob das Tier nun vor blühenden Büschen oder auf einer Waldlichtung stand.

Auslöser der verschieden gewichteten Aufmerksamkeit sehen Nisbett und seine Mitarbeiter in der frühen Kindheit: Kinder in westlichen Staaten wachsen unter ganz anderen Bedingungen und Erziehungsvorbildern auf als ihre Altersgenossen in der asiatischen Welt. So seien allein schon die Familienverbände in Ostasien wesentlich komplexer verknüpft und mit festen Rollen versehen, weshalb schon früh ein Blick aufs Ganze gefördert werde, um den Zusammenhalt und das Funktionieren der Gemeinschaft zu sichern, meinen die Forscher. In der westlichen Welt hingegen beschränkten sich die Familienbande eher auf kleinere Gruppen, und die Eigenständigkeit des Einzelnen werde sehr groß geschrieben – kein Wunder, dass hier für sich stehende Objekte eher in den Vordergrund treten, während Zusammenhänge geringere Bedeutung haben.

Die Ergebnisse seien eine nützliche Mahnung an uns alle, meint Nisbett: Wächst die Welt auch zusammen, so bleiben doch kulturelle Unterschiede in der Gewichtung, wem oder was nun besondere Aufmerksamkeit zu widmen ist. Deshalb sehen wir trotz aller Verschmelzung immer noch verschiedene Aspekte der Welt auf unterschiedliche Weise – mit jedem Wimpernschlag.

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