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Medizin: Mit Computeralgorithmen zu besseren Krebsimpfstoffen

In der Tumormedizin ruhen große Hoffnungen auf Krebsimpfstoffen. Diese lassen sich mit Hilfe von Computerverfahren deutlich optimieren.
Menschliche T-Lymphozyten (blau) attackieren eine Krebszelle (gelb). Kolorierte Raster-Elektronen-Mikroskopische Aufnahme.
Menschliche T-Lymphozyten des Immunsystems (blau) attackieren eine Krebszelle (gelb). Nachträglich kolorierte, rasterelektronenmikroskopische Aufnahme. Mit Krebsimpfstoffen lässt sich das Immunsystem gezielt dazu bringen, Tumoren anzugreifen.

Krebsimpfstoffe auf Basis von mRNA gelten als große Hoffnungsträger. Mit ihrer Hilfe lassen sich Tumoren individuell bekämpfen, indem sie das Immunsystem der behandelten Personen dazu bringen, die entarteten Zellen gezielt anzugreifen. Zudem können mRNA-Vakzine in relativ kurzer Zeit entwickelt und hergestellt werden – was es erlaubt, einer diagnostizierten Krebserkrankung rasch entgegenzuwirken.

Im Jahr 2017 zeigte eine Arbeitsgruppe um die Mediziner Özlem Türeci und Ugur Sahin, die Gründer des Unternehmens BionTech in Mainz: Mit personalisierten (auf einzelne Erkrankte zugeschnittenen) mRNA-Vakzinen lassen sich bei Melanom-Patienten starke Immunreaktionen gegen die Krebszellen auslösen (siehe »Spektrum der Wissenschaft« Januar 2018, S. 30). Mitte 2023 meldete die Firma Moderna in Cambridge, USA, ähnliche Erfolge. In einer klinischen Phase-II-Studie des Unternehmens hatte ein mRNA-Impfstoff, gemeinsam mit einem Immuncheckpoint-Inhibitor verabreicht, Hautkrebspatienten wesentlich besser vor einem Rückfall geschützt als der Inhibitor allein.

Gute Nachrichten kommen jetzt auch von einem Team um Luis Rojas vom Memorial Sloan Kettering Cancer Center in New York. Die Forscherinnen und Forscher setzten ein RNA-Vakzin gegen Pankreaskarzinome ein – eine Krebsart mit meist ungünstiger Prognose, die als besonders schwer zu behandeln gilt. Nach chirurgischer Entfernung des Tumors kehrt die Krankheit bei neun von zehn Behandelten binnen weniger Monate zurück. In Rojas Studie reagierten rund die Hälfte der Patienten, die nach der Operation geimpft worden waren, wie gewünscht und entwickelten eine kräftige Immunreaktion gegen den Tumor. Diese Personen zeigten selbst nach 18 Monaten keine Anzeichen eines Rückfalls. Bei Patienten mit schwacher Immunreaktion hingegen war die Krankheit im Schnitt nach 13 Monaten wieder da.

Angriff des Immunsystems

Solche personalisierten mRNA-Krebsimpfstoffe sollen das Immunsystem gegen so genannte Tumor-Neoantigene lenken. Das sind neu auftauchende Molekülstrukturen, die aus Mutationen in den Tumorzellen hervorgehen, wenn eine Krebserkrankung entsteht und sich verbreitet. Neoantigene gelten als optimale Angriffsziele einer Krebsimmuntherapie – erstens, weil das Immunsystem sie üblicherweise als »fremd« einstuft und deshalb attackiert. Zweitens, weil sie für den Tumor spezifisch sind: Normale Körperzellen besitzen solche Strukturen nicht und werden daher vom Angriff verschont.

Um solche Neoantigene zu finden, sequenzieren Mediziner zunächst das Genom der Tumorzellen. Daraus ermitteln sie krebstypische Mutationen, die zu veränderten Proteinen führen. Anschließend verwenden sie Computeralgorithmen, um zu analysieren, ob sich die schadhaften Eiweiße als Angriffsziele einer Krebsimmuntherapie eignen.

T-Lymphozyten der Immunabwehr, die von den mRNA-Krebsimpfstoffen vorrangig aktiviert werden, erkennen die veränderten Proteine nicht als Ganzes, sondern kurze Bruchstücke daraus, so genannte Peptide. Zellen, die das schadhafte Eiweiß herstellen, zerlegen es in Fragmente, welche sie zu ihrer Oberfläche transportieren und dort auf Molekülkomplexen namens HLA (human leucocyte antigen, auch Haupthistokompatibilitätskomplex genannt) präsentieren. Damit ein Neoantigen sich als Ziel eignet, muss die Tumorzelle ein entsprechend verändertes Peptid produzieren, das von einem HLA-Komplex der Außenwelt gezeigt und von T-Lymphozyten des Patienten erkannt wird.

Schwierige Prognose

Um anhand der Mutationen im Tumorgenom vorherzusagen, welche Peptide die Krebszellen auf ihrer Außenseite präsentieren werden, setzt man Computeralgorithmen ein. Diese greifen auf biochemische Daten zurück, die aus Laborexperimenten stammen – etwa aus der Analyse sämtlicher Eiweißbruchstücke, die an ein bestimmtes HLA-Molekül koppeln. Damit die Algorithmen zutreffende Prognosen liefern, muss bekannt sein, 1) welche Peptide der Zellapparat der Tumorzellen aus den mutierten Proteinen erzeugt und 2) ob sich diese Peptide an die HLA-Komplexe des jeweiligen Patienten binden. Selbst wenn sie dort der Außenwelt präsentiert werden, hängt es von weiteren – bis jetzt nicht vollständig verstandenen – Faktoren ab, ob die T-Lymphozyten sie als Angriffsziel erkennen. Weil all das mit Unklarheiten behaftet ist, liefern die derzeit eingesetzten Computeralgorithmen oft nur ungenaue Vorhersagen.

Herstellung von personalisierten Krebsimpfstoffen |

Nach dem Entnehmen einer Gewebeprobe aus dem Tumor sequenzieren Fachleute die DNA der Krebszellen (im Bild oben links). Sie versuchen mutierte Gene zu finden, welche die entarteten Zellen dazu bringen, veränderte Proteine herzustellen. Parallel dazu werden die RNAs der Krebszellen sequenziert, um herauszufinden, welche Erbanlagen die Krebszellen in Proteine umschreiben und ob die identifizierten mutierten Gene darunter sind. Gleichzeitig ermitteln die Mediziner, welche Typen von HLA-Molekülkomplexen die jeweils behandelte Person besitzt (»HLA-Typisierung«, Bildmitte).

Die Krebszellen zerlegen einen Teil ihrer Proteine in Bruchstücke, so genannte Peptide (1), von denen einige an die HLA-Molekülkomplexe auf der Zelloberfläche koppeln. Dort sind sie für die Außenwelt sichtbar (im gelben Kasten oben und rechts). Um mit Computeralgorithmen vorherzusagen, welche Peptide die Krebszellen auf diese Weise präsentieren, prüfen Fachleute zunächst, ob die Proteine der Krebszellen mutierte Abschnitte enthalten, die als Peptide an die HLA-Molekülkomplexe koppeln können (2). Dann untersuchen sie, ob die Krebszellen jene Proteine (und damit die entsprechenden Peptide) wirklich herstellen. Das tun die Zellen mit Hilfe eines Eiweißkomplexes namens Proteasom (3). Schließlich testen die Mediziner, wie wahrscheinlich es ist, dass die T-Zellen der erkrankten Person eine Peptidsorte, welche die Tumorzellen auf ihren HLA-Komplexen präsentieren, erkennt und bekämpft (4). Anhand der dabei gewonnenen Erkenntnisse wird ein Krebsimpfstoff produziert, der das Immunsystem des Patienten auf diese Peptide aufmerksam macht, so dass es gegen sie vorgeht.

2016 hat das Parker Institute for Cancer Immunotherapy in San Francisco gemeinsam mit dem Cancer Research Institute in New York ein Projekt namens TESLA (Tumor Neoantigen Selection Alliance) ins Leben gerufen. Dessen Ziel lautet, die Methoden zu prüfen und wenn möglich zu verbessern, die Fachleute zur Vorhersage von Tumor-Neoantigenen nutzen. 25 Forschungsgruppen weltweit erhielten den Auftrag, aus sechs unterschiedlichen Tumorgenomen potenziell geeignete Neoantigene abzuleiten – jeweils anhand verschiedener Computeralgorithmen. Alle Beteiligten verfügten über dasselbe biologische Material: Zellen aus drei Melanomen und ebenso vielen Lungenkarzinomen. Diese wurden zunächst auf Mutationen untersucht; auf der Grundlage der dabei gewonnenen Erkenntnisse erstellte jede Gruppe ihre eigene Liste an Peptiden, die als Neoantigene geeignet schienen. In Laborversuchen prüften die Experten dann, ob T-Lymphozyten der Patienten die Proteinfragmente tatsächlich als Ziele erkannten.

Magere Übereinstimmung

Die Ergebnisse waren ernüchternd: Die Prognosen deckten sich untereinander nur zu höchstens 20 Prozent; lediglich eine Minderheit der Neoantigen-Vorhersagen erwies sich als zutreffend. Das ist ungünstig, denn Krebsimpfstoffe können nicht gegen beliebig viele Tumormerkmale eine Abwehrreaktion entfachen: In der Regel enthalten sie 10 bis 20 Peptide beziehungsweise deren mRNA-Sequenzen. Hinzu kommt, dass manche Krebsherde nur wenige Mutationen aufweisen. Im klinischen Umfeld kann es deshalb vorkommen, dass Mediziner das einzige geeignete Neoantigen eines Tumors identifizieren müssen.

Die TESLA-Initiative brachte aber noch etwas anderes ans Licht: Erweitert man die Algorithmen, indem man zusätzliche Filterkriterien einbaut, verbessert sich ihre Genauigkeit erheblich. So hat sich erwiesen, dass nicht nur die Bindungsstärke zwischen einem Peptid und einem HLA-Komplex wichtig dafür ist, ob es sich als Neoantigen eignet. Auch die Bindungsdauer spielt eine maßgebliche Rolle; denn damit T-Lymphozyten ein Proteinbruchstück als Angriffsziel erkennen können, muss genug Zeit für ein Aufeinandertreffen der Immunzellen mit den molekularen Komplexen bleiben. Darüber hinaus ist der Fremdheitsgrad des Proteinbruchstücks von Belang. Je körperfremder es dem Immunsystem erscheint, desto wahrscheinlicher wird es von den T-Zellen angegriffen. Bauten die Fachleute solche Kriterien in die Computeralgorithmen ein, schnitten diese in der Neoantigen-Vorhersage besser ab. Die Übereinstimmung zwischen Prognose und Laborergebnis ließ sich dadurch bis auf 70 Prozent steigern.

Derlei Computerverfahren bedienen sich zunehmend der Methoden des maschinellen Lernens und der neuronalen Netzwerke. Indem sie gezielt mit großen Datenmengen trainiert werden, die vor allem aus der Immunopeptidomik stammen (der Analyse sämtlicher Peptide, die von HLA-Komplexen auf der Zelloberfläche präsentiert werden) sowie aus immunologischen Untersuchungen, liefern sie inzwischen immer akkuratere Vorhersagen. Zudem versuchen die Fachleute, das Spektrum der erfassten Mutationen zu erweitern: Bis jetzt haben die Computermodelle vor allem Einzelnukleotidvarianten (Veränderungen individueller »Buchstaben« im DNA-Strang) beachtet, weil diese relativ häufig auftreten und vergleichsweise leicht aufzuspüren sind. Andere Arten von Defekten, etwa fusionierte Gene, die chimäre Proteine hervorbringen, könnten aber bessere Neoantigene liefern, da solche Eiweißprodukte dem Immunsystem fremder erscheinen. Weiterhin möchte man künftig stärker beachten, auf welche Neoantigene so genannte CD4+-T-Lymphozyten ansprechen, eine Unterklasse der Immunzellen. Bis jetzt lag der Fokus vor allem auf CD8+-T-Lymphozyten, die als zytotoxische T-Zellen bezeichnet werden und die Tumorzellen direkt angreifen. CD4+-T-Zellen spielen dagegen eine koordinierende Rolle im Immungeschehen und könnten für den Erfolg von Krebsimpfungen nicht minder wichtig sein.

Noch ist unklar, inwieweit verbesserte Verfahren, um Tumor-Neoantigene zu ermitteln, zu wirksameren Krebsimpfstoffen führen. Die Daten von Rojas und seinem Team machen aber Hoffnung. Obwohl die Forschungsgruppe noch mit Vorhersage-Algorithmen arbeitete, die nicht nach dem neuesten Kenntnisstand optimiert waren, erwiesen sich einige der vorhergesagten Neoantigene als geeignete Ziele für mRNA-Krebsimpfstoffe. Die Hälfte der Pankreaskarzinom-Patienten, die mit entsprechenden Vakzinen behandelt wurden, entwickelte starke Immunantworten gegen mindestens eines der 20 eingesetzten Peptide. Bei einem der Studienteilnehmer beobachteten die Mediziner, wie das scharf geschaltete Immunsystem eine entstehende Lebermetastase angriff und binnen dreier Monate vollständig vernichtete – offensichtlich, weil es in dem Tumorherd die passenden Zielantigene erkannt hatte. Genau dieses Packen der Krankheit an der Wurzel, bei dem die Körperabwehr proaktiv gegen neue Metastasen vorgeht, möchten Ärztinnen und Ärzte mit Hilfe optimierter Krebsimpfstoffe nun immer öfter erreichen.

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