Jemen: Mit dem Algorithmus gegen Cholera
Als die Amerikanerin Rita Colwell im Jahr 1975 ihre erste große wissenschaftliche Untersuchung von Cholera-Ausbrüchen in Bangladesch unternahm, gab es gerade einmal eine Hand voll Supercomputer, die eine brauchbare Wettervorhersage hätten ausspucken können. Die kleiderschrankgroßen Cray-1 kosteten damals zwischen fünf und acht Millionen US-Dollar, wogen über fünf Tonnen und hatten einen maximalen Arbeitsspeicher von acht Megabyte. Selbst Colwell hätte sich wohl nicht träumen lassen, dass mehr als 40 Jahre später ein solches Gerät – wenn auch um zig Größenordnungen leistungsfähiger – in der Lage sein würde, Cholera-Ausbrüche schon Wochen im Voraus vorherzusagen.
Die inzwischen 84-jährige Mikrobiologin hat seitdem maßgeblich zur Erforschung und Bekämpfung der bakteriellen Durchfallerkrankung beigetragen. Colwell entdeckte bereits in den 1960er Jahren, dass die Ausbrüche der Krankheit mit dem Plankton im Meer zusammenhingen: Traten vor der Küste besonders viele dieser kleinen Krebse auf, kam es an Land zu Krankheitsfällen. Das Bakterium lebt unter anderem auf den Panzern der Kleinstlebewesen und ernährt sich dort vom Chitin.
In den folgenden Jahrzehnten fand sie immer mehr Indizien dafür, dass Cholera-Epidemien vom Wetter beeinflusst werden. »Es geht um Niederschlag, um Wassertemperaturen und auch um den Salzgehalt des Wassers – alles, was das Wachstum des Planktons und damit auch des Cholera-Bakteriums beeinflusst. Deswegen wissen wir heutzutage sehr gut, welche Bedingungen wir beobachten müssen, wenn wir Ausbrüche untersuchen oder prognostizieren wollen«, erläutert Colwell. Mit ihrem Team begann sie, diese Faktoren in ein Computermodell zu speisen, das künftige Hotspots identifizieren sollte.
Das tut not, denn Cholera ist weltweit weiter auf dem Vormarsch, und der Klimawandel begünstigt Ausbrüche. Die Krankheit tritt vor allem in warmen Entwicklungsländern auf, dort, wo klimatisch günstige Bedingungen für den Wirt auf schlechte hygienische Zustände und hohe Menschendichten treffen – zum Beispiel in städtischen Slums oder auch in Flüchtlingslagern südlich der Sahara und Südasiens. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO erkranken jährlich schätzungsweise 1,3 bis 4 Millionen Menschen an Cholera, zwischen 21 000 und 143 000 von ihnen sterben. Dass diese Schätzungen so weit auseinanderklaffen, liegt an der hohen Dunkelziffer. Nur fünf bis zehn Prozent der Erkrankungen werden laut WHO gemeldet.
Der Krieg verschärft das Cholera-Problem
All das gilt auch für den Jemen. Doch in dem Land am Südzipfel der Arabischen Halbinsel kommt noch ein weiterer typischer Faktor hinzu: menschengemachte Krisen. »Cholera ist eine Krankheit, die mit Armut zu tun hat – mit mangelhaftem Zugang zu Sanitäranlagen und zu sicherem Trinkwasser. Der Bürgerkrieg im Jemen verstärkt solche Faktoren natürlich noch zusätzlich«, erläutert Colwell. Der Krieg vernichtet Infrastruktur – besonders Wasserwerke und die Kanalisation der Städte. Bei schwerem Regen laufen die Kanäle über, und mit dem verschmutzten Wasser verbreitet sich das Bakterium. So wurden allein 2017 rund eine Million Cholera-Erkrankungen im Jemen gezählt, nirgendwo auf der Welt gab es mehr. Unter den mehr als 2000 Toten waren zahlreiche Kinder. Doch für UNICEF und andere Hilfsorganisationen ist es wie beim Hasen und dem Igel: Wann immer sie zur Bekämpfung ansetzten, war die Cholera bereits dort.
Ein Prognosemodell könnte das ändern, hofft Colwell. Gemeinsam mit ihrem Team feilt sie inzwischen seit Jahrzehnten an ihrem Modell, um immer genauer und für immer größere Zeitspannen vorherzusagen, wo der nächste Krankheitsausbruch stattfinden wird. Im Mittelpunkt stand dabei der Golf von Bengalen. »Es war keine Entwicklung, die über Nacht kam. Zwischen 1986 und 1996 ermittelten wir mit Hilfe von NASA-Satelliten die Oberflächentemperaturen der Küstengewässer von Bangladesch, und es gelangen uns erste Prognosen. Darüber haben wir im Jahr 2000 publiziert«, berichtet die Forscherin. Zusammen mit Antar Jutla, einem Experten für Bau- und Umweltingenieurwissenschaften von der West Virginia University in Morgantown, arbeitete Colwell später an einem Computeralgorithmus, der nicht nur Niederschlag und Wassertemperaturen in Betracht zog, sondern auch andere Faktoren: Bevölkerungsdichte, Zugang zu sauberem Wasser und Situationen in den verschiedenen Jahreszeiten. »So haben wir das Computermodell über die Jahre hinweg noch aussagekräftiger gemacht«, sagt Colwell. Inzwischen nutzt der Algorithmus nicht nur Daten aus der Meteorologie, sondern auch aus Hydrologie und Epidemiologie.
Im Januar 2018 erhielten Colwell und Jutla einen Anruf von der staatlichen britischen Entwicklungshilfeagentur Department for International Development (DFID). »Sie hatten über unsere Arbeit im ›Scientific American‹ gelesen und wollten wissen, ob unsere Algorithmen auch auf andere Weltregionen übertragbar wären. Sie waren schon im Jemen tätig, und wir hatten genau die Computermodelle, die sie brauchten«, berichtet Antar Jutla. Im Mai 2018 fand schließlich ein Test statt – und obwohl der Algorithmus anhand von Daten aus Asien und Afrika entwickelt worden war, gelang es ihm, einen Ausbruch im Jemen zu prognostizieren, der im Juni dann auch tatsächlich stattfand.
Seitdem koordiniert das DFID den Erfahrungsaustausch und Wissenstransfer zwischen den amerikanischen Wissenschaftlern, der UNICEF und Met Office, dem britischen meteorologischen Dienst. Dank dieser Zusammenarbeit stehen den Forschern nun auch die gewaltigen Datenmengen des Met-Office-Supercomputers in Exeter zur Verfügung, der täglich durchschnittlich 215 Milliarden Wetterbeobachtungen rund um den Globus verarbeitet. Bis aus dessen Computermodellen aussagekräftige Fakten abgeleitet werden konnten, habe es »einiger Gespräche und Tests« bedurft, sagt Helen Ticehurst, die beim Met Office für internationale Entwicklung zuständig ist. Inzwischen aber produziere das System Daten, mit denen die UNICEF ihre vorbeugenden Einsätze gegen Cholera-Ausbrüche im Jemen vorausplanen könne.
Trefferquote: 92 Prozent
Ticehurst berichtet, wie das amerikanische Modell mit den Daten des britischen Computers Vorhersagen auf einer Karte des Jemen präsentiert. Auf dieser Karte ist der Jemen in Raster von jeweils vier Quadratkilometern aufgeteilt. Jedes Raster wird dann mit Farbwerten für Niederschlag, Wärme und andere meteorologische Daten versehen. Das ist für Laien nicht einfach zu lesen, doch das Met Office hilft: »Mit Hilfe dieser Karte formulieren unsere Experten dann schriftliche Anweisungen für die Einsatzgruppen der UNICEF«, sagt Ticehurst. Diese Gruppen werden dann in jene Verwaltungsdistrikte des Landes geschickt, wo Regen und andere Faktoren dem Algorithmus zufolge Cholera-Ausbrüche erwarten lassen. Dort verteilen sie Pakete mit Material für bessere Hygiene sowie Chlortabletten zur Säuberung von verseuchtem Wasser, und sie erklären den Menschen, wie sie eine Ansteckung vermeiden können.
Bislang lag das Computermodell mit seinen Vorhersagen zu 92 Prozent richtig. Während 2017 in den schlimmsten Wochen bis zu 50 000 neue Cholera-Erkrankungen im Jemen registriert wurden, kam es in der ersten Jahreshälfte 2018 pro Woche nur noch auf etwas über 2000 neue Fälle, selbst wenn es regnete.
Wie hoch ist der Anteil des Computermodells an diesem Rückgang? Um das zu klären, sind noch genauere wissenschaftliche Studien nötig, räumen die Mediziner ein. Zumal sich die Fallzahlen bis Mitte 2019 erneut stark erhöhten, Ende April 2019 kletterte die Zahl neuer Cholerafälle auf mehr als 30 000 pro Woche. Doch von der positiven Wirkung des Algorithmus sind die Forscher bereits überzeugt. »Wir sind begeistert davon, nun solche Datenkapazitäten haben, dass wir Ausbrüche bis zu vier Wochen im Voraus berechnen können«, sagt Rita Colwell. Das sei nicht nur für den Jemen wichtig: »Unser Computermodell lässt sich auch auf andere Weltregionen und andere Krankheiten übertragen – zum Beispiel auf Infektionen, die sich über Stechmücken verbreiten, wie Dengue oder West-Nil-Fieber.«
Im Jemen versuchen die Forscher nun, den Vorhersagezeitraum um weitere vier Wochen auszudehnen, auf insgesamt acht Wochen. Vier Wochen klingt nach wenig, brächte aber einen entscheidenden Vorteil. Denn dann, sagt Colwell, »hätten wir sogar Zeit für Impfungen«.
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