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News: Mit Hirnströmen sprechen

Nicht mehr sprechen, mit anderen keinen Kontakt mehr aufnehmen, nicht einmal kleinste Zeichen geben zu können - eine erschreckende Vorstellung. Für Menschen, die aufgrund eines Unfalls oder einer neurologischen oder muskulären Krankheit vollkommen gelähmt sind, ist das bittere Realität. Sie haben oft keine Möglichkeit mehr, mit ihrer Umwelt zu kommunizieren. Eine Arbeitsgruppe am Tübinger Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie hat ein spezielles Biofeedback-Programm entwickelt, um Schwerstgelähmten Kommunikationsmöglichkeiten zu schaffen.
"Kommunikation durch Selbstkontrolle der Hirnströme" heißt das neuartige Programm. Die Forscher um Professor Niels Birbaumer erarbeiteten ein Thought Translation Device, ein Verfahren, bei dem durch Lernprozesse eigentlich unwillkürliche Vorgänge wie Herzfrequenz, Muskelspannung oder Hirnströme beeinflußt und in Signale an die Umwelt umgewandelt werden können.

Nach mehrjähriger Entwicklungsarbeit und Grundlagenforschung wenden die Tübinger Medizinpsychologen ihre Ergebnisse auf klinische Probleme mit speziellen Therapieverfahren an: In einem langen Training lernen die Betroffenen, den niederfrequenten Anteil ihrer Hirnströme, sogenannte langsame Hirnpotentiale, bewußt zu dirigieren und dadurch zwei vom Computer unterscheidbare Signale direkt aus dem Gehirn heraus zu erzeugen. Über einen Cursor auf dem Bildschirm wird den Patienten der Verlauf ihrer Hirnströme zurückgemeldet: So lernen sie, die Erregungspotentiale selbst zu kontrollieren. Der Kernpunkt des Verfahrens: Der Computer wird allein mit den Gedanken gesteuert. Mit dem Biofeedback-Programm, das die Techniker der Abteilung Medizinische Psychologie entwickelt haben, besteht damit erstmals für schwerstgelähmte "Locked-in-Patienten" die Möglichkeit, Signale nach außen zu senden: Das neue System der Psychologen wird zum Kommunikationsinstrument.

Um sinnvoll und in vertretbarer Zeit Buchstaben oder andere Befehle aus dem Menü des Computerprogramms auszuwählen, müssen die Signale aus dem Gehirn schnell und präzise sein. Um das zu erreichen, müssen die Patienten einem Sekunden-Rhythmus folgen, der ihnen vom Programm mittels Tönen vorgegeben wird: Alle zwei Sekunden müssen sie mit ihrem Gehirn eines der beiden Signale erzeugen. Seit zwei Jahren arbeitet die Tübinger Arbeitsgruppe mit insgesamt acht Patienten, die durch Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) gelähmt sind. Derzeit sind fünf Schwerstgelähmte in das Therapieprogramm der Wissenschaftler um Professor Birbaumer integriert. Inzwischen erreicht die Arbeitsgruppe mit ihren ALS-Patienten regelmäßige Trefferquoten von 70 bis 90 Prozent richtiger Hirnantworten.

Im Alphabetcomputer bekommen die Patienten die Buchstaben in Blöcke unterteilt und nach Häufigkeit sortiert dargeboten. Wählt der Patient durch das Hirnstromsignal einen Block aus, erscheinen die Buchstaben wiederum in Gruppen unterteilt auf dem Bildschirm – bis der Patient schließlich die Möglichkeit hat, einen einzelnen Buchstaben anzusteuern. Ein zeitintensive Kommunizieren: Bei einer Treffsicherheit von 90 Prozent und einem Menü mit 32 Zeichen dauert die Auswahl eines konkreten Buchstabens im Durchschnitt 30 bis 45 Sekunden.

Drei der Patienten der Tübinger Arbeitsgruppe sind mittlerweile in der Lage, einzelne Wörter und Sätze zu schreiben. Ein Patient versendet bereits Briefe, die er ausschließlich mit seinem Gehirn geschrieben hat. Um eine hohe und stabile Trefferquote zu erreichen, verfolgt die Forschergruppe am Institut für Medizinische Biologie und Verhaltensneurobiologie der Eberhard-Karls-Universität Tübingen zur Zeit zwei Richtungen: Zum einen versuchen die Forscher, auf der Basis der modernen Lerntheorie für jeden Patienten eine optimale Lernstrategie herauszufinden. Zum anderen müssen die Patienten nicht nur lernen, deutlich unterscheidbare Hirnsignale zu erzeugen: Die Wissenschaftler wollen die Analysetechniken soweit verbessern, daß sie die Hirnstrommuster ihrer Patienten zuverlässiger erkennen können. Individuell müssen die Programme zur Mustererkennung dafür an jeden Patienten angepaßt werden.

Die bisherigen Ergebnisse der Gruppe um Professor Birbaumer sind ermutigend: Die Forscher hoffen, das Thought Translation Device in absehbarer Zeit soweit entwickeln zu können, daß es für schwerstgelähmte Patienten noch attraktiver wird. Damit werden Locked-in-Patienten den furchtbaren Zustand völliger Kommunikationsunfähigkeit durchbrechen, sich ihrer Umgebung wieder mitteilen können – eine hoffnungsvoll stimmende Perspektive für die Betroffenen.

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