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Soziale Medien: Die Macht des Hashtags

Die sozialen Medien verändern radikal die Diskussion über Sexismus und Genderprobleme in der Wissenschaft. Wissenschaftler untersuchen, welche Faktoren eine Onlinediskussion in einen Shitstorm verwandeln.
Hashtag aus Menschen

Als Fiona Ingleby im April 2015 über das Peer-Review-Verfahren einer Fachzeitschrift twitterte, erwartete sie eigentlich nicht allzu viele Reaktionen. Mit nur rund 100 Followern im sozialen Netzwerk hoffte die Evolutionsgenetikerin von der University of Sussex bei Brighton in Großbritannien lediglich auf etwas Unterstützung und Anteilnahme ihrer engsten Kollegen. Tatsächlich erhielt sie aber eine überwältigende Welle von Reaktionen.

In vier spitzen Tweets hatte die Wissenschaftlerin ausführlich ihre Frustration über einen »PLoS One«-Gutachter geäußert, der ihre Forschungsergebnisse über die Ungleichbehandlung von Geschlechtern im Zeitraum zwischen Promotion und Postdoc-Position zerpflücken wollte. Er behauptete, Männer hätten eine »etwas bessere Gesundheit und Ausdauer«; und außerdem würde das »Hinzufügen von ein oder zwei männlichen Biologen« als Koautoren die Analyse aufwerten. Infolge ihrer Tweets entwickelte sich ein ausgewachsener Shitstorm auf Twitter, der mehr als 5000 Retweets, einen populären Hashtag (#addmaleauthorgate) und eine öffentliche Entschuldigung der Zeitschrift zur Folge hatte. »Es war völlig verrückt«, sagt Ingleby. »Ich musste die Twitter-Meldung bei meiner E-Mail ausschalten.« Ihre Erfahrungen sind aber gar nicht so ungewöhnlich, wie es vielleicht den Anschein hat.

Die sozialen Medien machten eine wachsende öffentliche Diskussion über das andauernde Problem von Sexismus in der Wissenschaft erst möglich. Als ein männlicher Wissenschaftler der Europäischen Weltraumbehörde ESA bei einer großen Medienveranstaltung im November 2014 ein Hemd mit halbnackten Frauen trug, war Twitter voll mit Kritik. An gleicher Stelle waren schon im Juni 2015 die ersten Meldungen über den Biologen und Nobelpreisträger Tim Hunt aufgetaucht, der zuvor über »Probleme mit Frauen« im Labor gesprochen hatte. Mitte Oktober desselben Jahres ließen dann viele Astronomen ihrem Ärger und ihrer Enttäuschung über Geoffrey Marcy auf Twitter freien Lauf, jenen Exoplanetenjäger von der University of California in Berkeley, der mindestens ein Jahrzehnt lang Mitarbeiterinnen sexuell belästigt hat.

»Ich arbeite jetzt seit 15 Jahren in diesem Bereich«, schrieb die Planetenwissenschaftlerin Sarah Hörst von der Johns Hopkins University in Baltimore in Maryland. »Das Ganze betrifft mich auch, und wir werden die Dinge in Zukunft anders handhaben, wenn ich etwas damit zu tun habe.«

Wissenschaftliche Untersuchungen über den Aufstieg der sozialen Medien sollen herausfinden, welche Faktoren eine reine Onlinediskussion in einen wütenden Twitter-Sturm wandeln. Solche Ereignisse haben oft weit reichende und unvorhersehbare Konsequenzen, sowohl für die Teilnehmer als auch für die Zielpersonen. Manchmal bewirkt eine ausgiebige öffentliche Diskussion auch etwas: So wurde beispielsweise Inglebys Paper von »PLoS One« erneut begutachtet, und die Zeitschrift arbeitet mit dem betreffenden Editor und Gutachter nicht mehr zusammen. Frauen, die sich öffentlich gegen Sexismus äußern, erhalten allerdings oft starken Gegenwind in Form von Beleidigungen bis hin zur Androhung körperlicher Gewalt.

Noch ist unklar, ob die in den sozialen Medien geführte Diskussion über Sexismus in der Wissenschaft tatsächlich zu dauerhaften Veränderungen führt, doch laut so manchem Wissenschaftler könnte sie zumindest eine gewisse Solidarität mit den Frauen quer durch die Disziplinen erreichen. »Man kann vielleicht keine Ansichten ändern, aber doch Menschen finden, die einem den Rücken stärken«, hofft die Kommunikationswissenschaftlerin Brooke Foucault Welles von der Northeastern University in Boston in Massachusetts. »Und das gibt Kraft.«

Schöne neue Welt

Am 12. November 2014 landete die Rosetta-Mission der ESA mit einer Raumkapsel auf einem Kometen – ein wahrer Meilenstein in der Weltraumforschung. Doch dieser Tag wird in bestimmten Internetforen wohl eher wegen der Darstellung leicht bekleideter Frauen auf Matt Taylors Hemd in Erinnerung bleiben. Der Wissenschaftler des Rosetta-Projekts trug sein Hawaii-Hemd, als er Reportern im Missionshauptquartier in Darmstadt Interviews gab und Fragen in einem Webcast der ESA beantwortete. Auch seine Kommentare waren zweideutig: »Rosetta ist sexy, aber ich habe nie gesagt, sie sei einfach gewesen«, erläuterte er den Zuschauern. Schon kurz danach twitterten die ersten Zuschauer der historischen Kometenlandung.

»Was für eine verschenkte Gelegenheit, Mädchen zur Wissenschaft zu ermutigen«, schrieb die Programmiererin Fernanda Foertter vom Oak Ridge National Laboratory in Tennessee. Andere kommentierten das etwas sarkastischer: »Nein, nein, Frauen sind wirklich toooootal willkommen in unserer Gemeinschaft, frag einfach den Typen in dem Hemd«, schrieb Rose Eveleth, die als Wissenschaftsjournalistin in New York arbeitet und ein »Nature«-Videointerview mit Taylor verlinkte.

Was mit tröpfelnden Tweets begann, wurde bald zu einer Sintflut. Bis zum 14. November, dem Tag, an dem sich Taylor öffentlich und tränenreich in einem weiteren Webcast entschuldigte, hatten Twitter-User bereits 3100 Nachrichten mit dem Hashtag #shirtstorm gepostet.

Äußerungen zum Thema Sexismus wie in #shirtstorm und anderen Twitter-Nachrichten sind gar nicht neu, lediglich der Ort hat sich geändert, erklärt die Geobiologin Hope Jahren von der University of Hawaii in Manoa, die selbst auf Twitter aktiv ist. »Typen haben schon immer diese Hemden mit Mädchenbildern getragen«, meint sie. »Die Frauen um sie herum haben dann die Augen gerollt, sind nach Hause gegangen und haben sich gesagt: Was für ein Idiot, so ein Dreck. Das haben sie auch auf der Damentoilette und im Aufenthaltsraum gesagt – und nun tun sie es eben auf Twitter«, sagt Jahren.

Das soziale Netzwerk Twitter ist wie ein riesiges Megafon, das jeden Monat nach Angaben des Portals 320 Millionen aktive Nutzer hat. Laut neuer Untersuchungen können Hashtag-Diskussionen über Twitter auch jenen mehr Gehör verschaffen, die sonst wenig Einfluss haben. So untersuchten Foucault Welles und ihren Kollegen einen Hashtag, der auftauchte, nachdem die Polizei in Ferguson in Missouri im August 2014 einen unbewaffneten afroamerikanischen Teenager erschossen hatte. Die Nachricht vom Tod des Jugendlichen verbreitete sich rasend schnell im Land, und der Hashtag #ferguson wurde in den USA Teil einer breiten Debatte über Polizeigewalt. Selbst mehr als ein Jahr später ist einer der am häufigsten zitierten Aktiven des #ferguson ein Teenager aus der Gegend von Ferguson. »So können auch bisher einflusslose Menschen zu Wort kommen und ihre Geschichten in einem neuen Rahmen vorbringen«, meint Foucault Welles.

Damit kann sich Twitter zu einem wichtigen Ventil für junge Wissenschaftlerinnen entwickeln, die oft nicht wissen, wie sie auf Sexismus oder sexuelle Belästigung reagieren sollen. In einer Umfrage aus dem Jahr 2014 unter Beteiligung von 666 Wissenschaftlern, einschließlich 516 Frauen, gaben 64 Prozent der Teilnehmer an, schon einmal sexuell belästigt worden zu sein. Allerdings wussten nur 20 Prozent davon, wie sie dieses Verhalten melden könnten, und die meisten waren zum Zeitpunkt der Belästigung Studenten oder Postdocs.

— Sarah Hörst (@PlanetDr) 9. Oktober 2015

»Wenn Wissenschaftler auf Twitter über Sexismus und Belästigung reden, merken Sie, wie Sie solchem Verhalten entgegentreten können. Sie erfahren, wie andere das erleben, und allein das Ansprechen des Themas hat schon einen positiven Effekt«, erklärt die Soziologin Zuleyka Zevallos, die das Science Australia Gender Equity Project an der Australian Academy of Science in Canberra leitet.

Für Ingleby hat es sich gelohnt, über den sexistischen Review ihres Manuskripts zu twittern. Sie und ihre Koautorin, beide Postdoc, erfuhren nach drei Wochen von der Entscheidung der Zeitschrift »PLoS One«, ihrem Einspruch stattzugeben und das Manuskript erneut zu reviewen. Weil Ingleby das Ganze öffentlich machte, bekam sie auch die Unterstützung vieler anderer; privat erhielt sie unbezahlbare Ratschläge von erfahreneren Forschern zum Umgang mit der Zeitschrift. »Ich bekam schon auch einige Nachrichten, in denen ich als Emanze und Ähnliches beschimpft wurde«, erzählt sie, »aber das waren die wenigsten.« Für all diejenigen, die in ihre Fußstapfen treten wollen, hat sie einen wertwollen Ratschlag: »Seid gut darauf vorbereitet, dass sich so etwas rasend schnell verbreitet. Ihr solltet dafür ein paar ruhige Tage aussuchen.«

Im Zentrum des Orkans

Welche Faktoren ein paar einfache Nachrichten in einen regelrechten Internetsturm verwandeln oder was einem bestimmten Hashtag Einfluss verleiht, ist schwer zu sagen. Laut einer im Jahr 2012 von Forschern der University of Pennsylvania in Philadelphia veröffentlichten Studie verbreiten sich Inhalte im Internet immer dann rasend schnell, wenn sie eine starke emotionale Komponente haben. Der Marktforscher Jonah Berger und die Entscheidungstheoretikerin Katherine Milkman untersuchten die Popularität von 6956 Nachrichten, die auf der Homepage der »New York Times« zwischen dem 30. August und dem 30. November 2008 gepostet wurden. Demnach verbreiteten sich Berichte sehr schnell, wenn sie positive Emotionen wie Ehrfurcht oder Freude hervorriefen; Ärger, Sorge oder stark negative Gefühle wurden ebenfalls von einer breiten Leserschaft angenommen. Dagegen reduzierte eine traurige Komponente eher die Wahrscheinlichkeit, dass andere die Nachricht teilten. Zu diesen Annahmen passen auch die jüngsten Entrüstungswellen auf Twitter, die oft von einer Kombination aus Frustration, Wut und schwarzem Humor über den Wissenschaftsbetrieb angetrieben wurden.

Aber auch das Element des Zufalls spielt eine wichtige Rolle. Der Kommunikationswissenschaftler Joseph Reagle von der Northeastern University führt als Beispiel den Fall des Löwen Cecil an, der im Juli 2015 von einem amerikanischen Touristen im Hwange National Park in Simbabwe getötet wurde. Der Tod des Tiers erlangte international traurige Berühmtheit und inspirierte den Hashtag #CeciltheLion, der 1,2 Millionen Tweets in einem Monat erzielte – und das, obwohl Jäger jedes Jahr Dutzende von Löwen in Simbabwe töten. Wie Cecils Geschichte zeigt, wird der Hashtag-Aktivismus auch in Zukunft von Bedeutung sein: »Hier entsteht gerade ein neues Genre«, erklärt Reagle. »Und so wird es nun häufiger laufen.«

Die durch populäre Hashtags entzündeten Diskussionen verschieben den Fokus der medialen Berichterstattung und weiten die öffentliche Diskussion aus. Der Hashtag #YesAllWomen begann im Mai 2014 als Reaktion auf einen Amoklauf in Kalifornien, bei dem der Mörder seinen Hass auf Frauen als Motiv angab. Die Frauen nutzten den Hashtag, um diese brutale Frauenfeindlichkeit mit Beispielen von täglichem Sexismus und Belästigungen in Zusammenhang zu bringen, was wiederum zu einer neuen Welle medialer Berichterstattung führte. »Es ist wirklich interessant, wie sich ein paar Hashtags verselbstständigen«, sagt Samantha Thrift, die als feministische Medienwissenschaftlerin an der University of Calgary in Kanada arbeitet.

Belästigung am Arbeitsplatz | Viele Frauen haben mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz zu kämpfen.

Am 8. Juni lernte Hunt den immer stärker werdenden Einfluss sozialer Medien auf die harte Tour kennen. »Man verliebt sich in sie (die Frauen), sie verlieben sich in einen, aber wenn man sie kritisiert, dann weinen sie«, hatte er in einer Rede bei der World Conference of Science Journalists in Seoul gesagt. Sein Kommentar wurde gleich von einigen Zuhörern getwittert, machte im Internet Furore und verbreitete sich rasend schnell in der Presse. Am 10. Juni erklärte Hunt dem BBC Radio 4, wie leid es ihm täte. In späteren Kommentaren im »The Observer« erklärte er dann, wie viele sich von ihm distanzierten und dass er seine Honorarstelle am University College London aufgeben musste. »Das hat mir nachhaltig geschadet«, meint er. »Was sie gemacht haben, ist nicht hinnehmbar.«

Für Menschen in einflussreicher Position wie Hunt kann es sehr unangenehm werden, wenn sie sich im Zentrum eines Shitstorms befinden: Die Medien haben nämlich Möglichkeiten, auch traditionelle Hierarchien zu kippen. Frauen, die online über Sexismus, Feminismus und Genderprobleme reden, sehen sich oftmals schroffen Bemerkungen ausgesetzt, von beleidigenden Kommentaren bis hin zu Gewaltandrohung. Als Eveleth ihre Kritik an Taylors Hemd twitterte, erhielt sie sogar Todesdrohungen. Andere, wie die Paläoökologin Jacquelyn Gill von der University of Maine in Orono, schalteten sich in die Auseinandersetzungen ein und wurden ebenfalls zur Zielscheibe. »Ich halte zu @roseveleth und allen anderen, die Sexismus trotz der Onlineschikane anprangern«, twitterte sie. »Wenn möglich, melde ich beleidigende Tweets.« Und sie fügte noch hinzu: »Freie Meinungsäußerung gilt offensichtlich nur für Typen, die Frauen mit ihrer Meinung Gewalt androhen, und nicht für Frauen mit eigener Meinung. #shirtstorm.«

Die Reaktion auf ihren Kommentar kam schnell und hart. »Während der nächsten 72 Stunden erhielt ich Todes- und Vergewaltigungsdrohungen«, berichtet Gill. »Es war ein nicht enden wollendes Bombardement von Leuten, die solche Hashtags zumüllen.« Als der Zornesstrom überhandnahm, schrieben Gills Kollegen ein Computerprogramm, das Twitter auf Drohnachrichten mit ihrem Benutzernamen scannte. Das ersparte ihr, ununterbrochen ihren Account auf ernsthafte Drohungen hin zu kontrollieren. Aber kein Programm konnte ihr das peinliche Gespräch mit der Verwaltung der University of Maine ersparen, nachdem ein paar ihrer Peiniger auf Twitter diskutiert hatten, ob sie als Vergeltung für ihren Shirtgate-Aktivismus gefeuert werden könnte. »Ich hatte mit Konsequenzen in der realen Welt zu kämpfen, weil ich im Internet als Frau gesprochen hatte«, sagt sie.

»Ich hatte mit Konsequenzen in der realen Welt zu kämpfen, weil ich im Internet als Frau gesprochen hatte«
Jacquelyn Gill

Das ist nicht nur ein Problem der Wissenschaft. Laut einer Studie des Pew Research Center in Washington D. C. mit 2849 Internetnutzern wurden 40 Prozent der Befragten schon einmal im Internet gemobbt. Männer werden häufig beleidigt oder absichtlich bloßgestellt, Frauen dagegen werden eher gestalkt oder sexuell belästigt. Die Untersuchung zeigte auch, dass Frauen in den sozialen Medien am verwundbarsten gegenüber Belästigungen aller Art sind, von Stalking bis hin zu Androhung körperlicher Gewalt.

Angesichts solcher Angriffe machen sich etliche Wissenschaftlerinnen inzwischen darüber Gedanken, wie sie sich in Onlinediskussionen über Sexismus überhaupt einbringen. Manche ziehen sich völlig zurück. Wer fürchten muss, durch Missbrauch ruhiggestellt zu werden, sucht nach sichereren Wegen für ein Online-Engagement. Eine der im Internet belästigten Forscherinnen twittert nun unter einem Pseudonym über feministische Themen, während sie weiterhin einen aktiven Twitter-Account unter ihrem richtigen Namen hat. »Ich fühle mich so sicherer«, erklärt sie, die anonym bleiben möchte. »Wenn einer dich aber finden will, dann schafft er das auch.«

Veränderungen verstehen

Der Aufstieg der sozialen Medien wird von Forschern beobachtet, die herausfinden wollen, ob die intensiven Onlinediskussionen Veränderungen in der realen Welt bewirken. Die Schwierigkeit liegt im Nachweis der Effekte. Ein Ansatz ist die Netzwerkanalyse. So verfolgte ein Team von Computerwissenschaftlern der Carnegie Mellon University in Pittsburgh in Pennsylvania zwischen 2011 und 2014 die Interaktionen von Twitter-Usern jeweils vor, während und nach einem Shitstorm. Die 20 Fälle bezogen sich meist auf Themen von allgemeinem Interesse, wie beispielsweise den US-amerikanischen Late-Show-Moderator Stephen Colbert oder die Fastfood-Kette McDonald's. Die Wissenschaftler beobachteten, wem die User auf Twitter folgten oder Nachrichten sendeten. Dabei scheinen sich keine längerfristigen Bindungen zwischen den Teilnehmern zu bilden und Auseinandersetzungen im Internet eher nicht zu langfristigen Diskussionen oder einem stärkeren Bewusstsein für ein bestimmtes Thema zu führen.

Laut anderen Studien scheinen intensive Diskussionen auf Twitter die Beteiligten aber doch zu beeinflussen, wenn auch auf eine schwer messbare Weise. Die Sozialpsychologin Mindi Foster von der Wilfrid Laurier University in Waterloo in Kanada beschloss, die psychologischen Effekte des Twitterns anhand ihrer eigenen Erfahrungen mit den sozialen Medien zu untersuchen. Nachdem sie eines Nachts eine antisemitische Bemerkung in einem Fernsehprogramm gehört hatte, ließ sie ihrem Ärger auf Twitter freien Lauf – und das fühlte sich gut an.

Wie ein Shitstorm sich entwickelt

Fosters Versuch scheint ihre Vermutung zu bestätigen: Wenn Frauen über Sexismus twittern, steigert das ihr Wohlbefinden. An ihrer Studie waren 93 Studentinnen beteiligt, die über Sexismus im akademischen und politischen Bereich sowie in den Medien informiert wurden. Eine Gruppe der Studienteilnehmerinnen sollte öffentlich darüber twittern, die zweite Gruppe sollte dies privat tun, die dritte Gruppe sollte über das Wetter twittern, und eine vierte Gruppe sollte gar nichts unternehmen. Während der dreitägigen Studie füllte jede der Teilnehmerinnen täglich einen Fragebogen über ihren emotionalen Zustand aus. Im Schnitt fühlten sich die öffentlich Twitternden am Ende des Experiments besser, wohingegen sich bei den anderen Teilnehmerinnen kein Unterschied zeigte. Dieses wenn auch nur vorläufige Ergebnis stimmt mit einer früheren Untersuchung überein, nach der ausgiebiges Schreiben, wie beim Führen eines Tagebuches, einen ähnlichen Nutzen haben kann. Foster glaubt, dass öffentliches Twittern noch zusätzlich Schub gibt, weil es die Autoren auch dazu bringt, genauer darüber nachzudenken, was sie in der Öffentlichkeit von sich geben.

Wenn Wissenschaftler verschiedener Disziplinen mit Sexismus und sexueller Belästigung konfrontiert werden, kann Twitter auch zu einem Gemeinschaftsgefühl führen. Manchmal liegt den Kontakten nur schwarzer Humor zu Grunde, wie zum Beispiel beim Hashtag #distractinglysexy, der aus der Reaktion auf Hunts Kommentar geboren wurde. Tausende Forscherinnen posteten Bilder von sich im Labor und im Gelände, in unförmigen Schutzanzügen oder bis zu den Knien im Schlamm steckend. »Die Filtermaske schützt mich vor gefährlichen Chemikalien und dämpft mein Geheule«, schrieb die Biochemikerin Amelia Cervera von der Universität Valencia in Spanien, die ein Foto von sich in einer Kluft mit verdecktem Gesicht teilte.

Die Paläoökologin Gil berichtet, wie sie sich unter anderem mit Forschern aus der Astronomie, Anthropologie, dem Ingenieurwesen und den Computerwissenschaften vernetzte. Durch solche Links können die Forscher auch von den Erlebnissen der anderen lernen. »In einigen Gebieten ist die Gleichstellung der Geschlechter schon weiter vorangeschritten als in anderen«, merkt sie an. »Manche von uns führen diese Diskussionen schon ewig.«

Doch die andauernde Sexismusdebatte auf Twitter stößt in mancherlei Hinsicht an ihre Grenzen. Sie ignoriert oft die Angst derjenigen Frauen, die sich auch mit Diskriminierung wegen ihrer Rasse, ihrer sexuellen Orientierung oder einer Behinderung auseinandersetzen müssen. Zum Beispiel zeigte eine US-amerikanische Umfrage bei 557 Wissenschaftlerinnen aus ethnischen Minderheiten, dass zwei Drittel meinen, sich immer wieder von Neuem beweisen zu müssen, weit mehr als ihre weißen Kolleginnen. Außerdem gaben 48 Prozent der afroamerikanischen Befragten an, dass sie an ihrem Arbeitsplatz schon versehentlich für Putzfrauen oder Verwaltungspersonal gehalten wurden. »Wenn man einer Minderheit innerhalb einer Minderheit angehört, hat man mit noch mehr Problemen zu kämpfen«, weiß Zevallos. Das trifft sowohl auf Twitter als auch auf das Labor oder Büro zu.

Wenn Frauen mehrere Formen der Diskriminierung erleben, könnten sie sich von Diskussionen ausgeschlossen fühlen, wenn diese nur auf Sexismus oder sexuelle Belästigung beschränkt sind. Solche Vorbehalte zeigten sich kürzlich im Zusammenhang mit dem Fall von sexueller Belästigung durch Geoffrey Marcy, der zu einer lebhaften Onlinedebatte unter dem Hashtag #astroSH führte. »Wenn man nicht mit der gleichen Wachsamkeit über Rassismus spricht wie über Sexismus, dann kann man genauso gut ein Schild mit der Aufschrift ›Schwarze unerwünscht‹ aufhängen«, twitterte die Astrophysikerin Chanda Prescod-Weinstein vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge. »Und ich sage das als Opfer von sexuellen Übergriffen und sexueller Belästigung.« Ihre Kollegin, ebenfalls Astrophysikerin am MIT, Sarah Ballard stimmt ihr zu: »Wir können uns nicht darauf verlassen, dass die Masse für Gerechtigkeit sorgt. Die Menge der meist Weißen wird sich für weiße Frauen stark machen, unter den anderen herrscht völliges Schweigen.«

Mit Hilfe der sozialen Medien lassen sich gemeinsame Diskussionen über Sexismus und andere Formen der Diskriminierung anfachen. Trotzdem bedarf es im Kampf um Gleichberechtigung der Kooperation von Universitäten, Regierung und anderen Institutionen der realen Welt. Einige von ihnen haben auf sexistische Vorfälle bereits reagiert und Maßnahmen ergriffen, als diese durch Onlinediskussionen größere Aufmerksamkeit erlangt hatten. Doch auch wenn Twitter nur schwer zu ignorieren ist, fehlt ihm doch die Autorität, um den Erwartungen einer fairen Behandlung Genüge zu tun. Trotz aller Vorbehalte hält Thrift die Diskussionen der Wissenschaftler in den sozialen Medien für sinnvoll; sie sieht sie als eine Art öffentliche Meinungsbildung und als ersten Schritt in Richtung konkrete Veränderungen. »Das ist extrem wichtig«, findet sie. »Wenn wir ein solches Verhalten nicht als sexistisch, als Belästigung oder als frauenfeindlich bezeichnen, dann wird es einfach so weitergehen.«

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