Verhaltensforschung: Mörder von nebenan
Das Leben in einer Kolonie bietet Vögeln viele Vorteile: Wärme, Schutz vor Feinden, mehr Auswahl bei der Partnerwahl. In Zeiten des Mangels kann sich zu große Nähe aber auch als katastrophal entpuppen - und zu mörderischem Verhalten verleiten.
Die Zeiten sind hart für die Seevögel der Nordsee: Tausende Küken von Eissturmvögeln, Dreizehenmöwen und Trottellummen verhungerten 2004 auf den schottischen Nordseeinseln der Orkneys und Shetlands. Selbst erwachsene Vögel starben entkräftet und wurden in Massen an die Küsten geschwemmt. Danach traf es Raubmöwen, Seeschwalben oder Gryllteisten von Island bis Norwegen. Und 2008 versagten die Papageitaucher am Nest – sofern sie dort überhaupt lebend ankamen: Jeweils ein Drittel weniger Tiere als üblich zählten Mike Harris vom Centre for Ecology in Edinburgh auf der Isle of May und der Vogelwart David Steel auf den Farne-Inseln.
Für Doug Gilbert von der britischen Royal Society for the Protection of Birds ist das große Sterben jedenfalls ein deutliches Zeichen: "Seevögel sind wie Kanarienvögel in einer Kohlemine. Sie zeigen, wie es um die Meere bestellt ist." Dem Nordostatlantik und der Nordsee scheint es daher offensichtlich schlecht zu gehen, was wohl auch Kate Ashbrook von der University of Leeds und ihre Kollegen bestätigen dürften. Schließlich müssen sie auf der englischen Isle of May immer öfter ein abartiges Verhalten der dort brütenden Trottellummen (Uria aalge) beobachten.
Doch diese scheinen nach den Beobachtungen von Ashbrooks Team zunehmend um die Isle of May zu fehlen, was die Seevögel zu einer fatalen Verhaltensänderung treibt: Mehr als die Hälfte aller Küken wurde während der Brutzeit 2007 von Vater und Mutter verlassen, die damals weit hinaus auf das Meer fliegen mussten, um Nahrung zu erbeuten – ihr Nachwuchs blieb ungeschützt zurück. In der Folge schnellte die Todesrate unter den Küken extrem in die Höhe: Zwei Drittel aller Nestlinge im Untersuchungsgebiet starben während der Saison und damit deutlich mehr als im langjährigen Durchschnitt, der bei zehn Prozent liegt.
Getötet wurden sie allerdings nicht durch marodierende Möwen, denn die an der Klippe verbliebenen Erwachsenen vertrieben diese Eindringlinge meist erfolgreich. Das Massaker richteten vielmehr die eigenen Artgenossen an: Fast 70 Prozent der verendeten Küken starben, weil sie von benachbarten Trottellummen mit Schnabelhieben schwer verletzt oder von den Klippen gestoßen wurden – eine Reaktion, die zuvor in den knapp 30 Jahren, in denen die Kolonie unter Beobachtung steht, nur extrem selten registriert wurde. Bisweilen steigerte sich das Verhalten der Menge zu einem rasenden Mob: "Die Attacken waren brutal und wurden meist nicht nur von einem Erwachsenen ausgeführt. Fliehende Küken wurden auch von anderen Nachbarn angegriffen", beschreibt Ashbrook das Drama am Felsen.
Den Trottellummen stellt sich damit die schwierige Frage, welches Risiko für ihre Sprösslinge größer ist: zehrender Futtermangel oder missgünstige Artgenossen? Eines zeige ihre Studie jedenfalls genau, meint Kate Ashbrook: "Der soziale Friede in einer Kolonie ist sehr zerbrechlich, wenn gestresste und hungrige Nachbarn auf unbewachte Küken treffen." Keine guten Aussichten für die Seevögel: Klimawandel und fortgesetzte Fischerei dürften die Nahrung auch zukünftig knapp halten.
Vielerorts befinden sich die Bestände im freien Fall, in Großbritannien sind Rückgänge um bis zu 80 Prozent keine Seltenheit. Schuld an dieser katastrophalen Entwicklung ist vor allem der Mangel an geeigneter Nahrung wie Sandaale oder Sprotten – darin sind sich die Wissenschaftler nahezu vollständig einig, auch wenn sie noch nicht genau festlegen können, was die Knappheit auslöst: der Klimawandel, der die wichtigen Speisefische nach Norden oder in unerreichbare Tiefen treibt, oder die Überfischung, die das Meer leer räumt.
Für Doug Gilbert von der britischen Royal Society for the Protection of Birds ist das große Sterben jedenfalls ein deutliches Zeichen: "Seevögel sind wie Kanarienvögel in einer Kohlemine. Sie zeigen, wie es um die Meere bestellt ist." Dem Nordostatlantik und der Nordsee scheint es daher offensichtlich schlecht zu gehen, was wohl auch Kate Ashbrook von der University of Leeds und ihre Kollegen bestätigen dürften. Schließlich müssen sie auf der englischen Isle of May immer öfter ein abartiges Verhalten der dort brütenden Trottellummen (Uria aalge) beobachten.
"Seevögel sind wie Kanarienvögel in einer Kohlemine"
(Doug Gilbert)
Der schwarz-weiße, zu den Alken zählende Seevogel brütet in großen Kolonien rund um den Nordostatlantik an steilen Klippen und Felsen im Meer – ein Verhalten, das zu normalen Zeiten sehr vorteilhaft für die einzelnen Tiere ist: Feinde können sich nur schwer auf ein Individuum konzentrieren, Nesträuber werden konzertiert vertrieben, und im Schwarm stößt es sich leichter auf ergiebige Fischschulen, da mehr Augen auch mehr erblicken. Bis zu 30 Brutpaare teilen sich mancherorts nur einen Quadratmeter Felsvorsprung, um dort ihre Jungen großzuziehen. Wegen dieses dichten Gedränges, der Gefahr, von der Klippe zu stürzen, und der Bedrohung durch Nahrung suchende Raubmöwen, verbleibt abwechselnd ein Elternteil am Nest, um das Küken zu schützen, während der Partner auf Fischfang geht. (Doug Gilbert)
Eine Arbeitsteilung, die in guten Zeiten perfekt funktioniert, bei Nahrungsmangel jedoch zum Problem wird. Denn Trottellummen bringen immer nur einen einzigen Fisch zum Nest und nicht mehrere wie Papageitaucher oder einen nahrhaften Brei wie Albatrosse, die ihren Mageninhalt in den Kükenschlund würgen können. Die Lummen sind also darauf angewiesen, dass gute Jagdgründe in der Nähe zum Felsen liegen, die sie in raschem Wechsel schnell anfliegen können.
Doch diese scheinen nach den Beobachtungen von Ashbrooks Team zunehmend um die Isle of May zu fehlen, was die Seevögel zu einer fatalen Verhaltensänderung treibt: Mehr als die Hälfte aller Küken wurde während der Brutzeit 2007 von Vater und Mutter verlassen, die damals weit hinaus auf das Meer fliegen mussten, um Nahrung zu erbeuten – ihr Nachwuchs blieb ungeschützt zurück. In der Folge schnellte die Todesrate unter den Küken extrem in die Höhe: Zwei Drittel aller Nestlinge im Untersuchungsgebiet starben während der Saison und damit deutlich mehr als im langjährigen Durchschnitt, der bei zehn Prozent liegt.
Getötet wurden sie allerdings nicht durch marodierende Möwen, denn die an der Klippe verbliebenen Erwachsenen vertrieben diese Eindringlinge meist erfolgreich. Das Massaker richteten vielmehr die eigenen Artgenossen an: Fast 70 Prozent der verendeten Küken starben, weil sie von benachbarten Trottellummen mit Schnabelhieben schwer verletzt oder von den Klippen gestoßen wurden – eine Reaktion, die zuvor in den knapp 30 Jahren, in denen die Kolonie unter Beobachtung steht, nur extrem selten registriert wurde. Bisweilen steigerte sich das Verhalten der Menge zu einem rasenden Mob: "Die Attacken waren brutal und wurden meist nicht nur von einem Erwachsenen ausgeführt. Fliehende Küken wurden auch von anderen Nachbarn angegriffen", beschreibt Ashbrook das Drama am Felsen.
"Der soziale Friede in einer Kolonie ist sehr zerbrechlich"
(Kate Ashbrook)
Hunger trieb die Vögel allerdings nicht zur Kindstötung, obwohl viele Trottellummen und gerade auch die brütenden Tiere stark an Untergewicht litten, wie begleitende Messungen zeigten: Nie verzehrten die Angreifer ihre Opfer. Vielmehr wollten sie damit wohl ihren eigenen Nachwuchs schützen und verhindern, dass fremde Küken Nahrung stibitzen, vermuten die Forscher. (Kate Ashbrook)
Den Trottellummen stellt sich damit die schwierige Frage, welches Risiko für ihre Sprösslinge größer ist: zehrender Futtermangel oder missgünstige Artgenossen? Eines zeige ihre Studie jedenfalls genau, meint Kate Ashbrook: "Der soziale Friede in einer Kolonie ist sehr zerbrechlich, wenn gestresste und hungrige Nachbarn auf unbewachte Küken treffen." Keine guten Aussichten für die Seevögel: Klimawandel und fortgesetzte Fischerei dürften die Nahrung auch zukünftig knapp halten.
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