News: Molekulare 'Gouvernanten' für Eiweiß-Rohlinge
Jede dieser vielfältigen Aufgaben verlangt ein gesondertes, in seiner Struktur genau auf die jeweilige Funktion zugeschnittenes Protein. Entsprechend reichhaltig ist der "Protein-Werkzeugkasten" lebender Zellen sortiert: Schon in einfachen Bakterienzellen findet man einige tausend, in Säugerzellen sogar bis zu 20 000 verschiedene, jeweils spezifisch gestaltete Proteine.
Die "Zweckform" jedes einzelnen Eiweiß-Moleküls ist genetisch vorgegeben. Proteine bestehen aus kettenförmig aneinandergereihten Grundbausteinen, sogenannten Aminosäuren, von denen zwanzig verschiedene zur Auswahl stehen. Entsprechend den Erbinformationen werden einige zehn bis zu mehrere tausend dieser Aminosäuren zur kettenförmigen Grundstruktur eines Proteins verknüpft – das jedoch in dieser Form, als eindimensionaler Strang, noch nicht arbeitsfähig ist. Erst durch Faltung der Aminosäure-Kette zu einer genau definierten räumlichen Struktur gewinnt das Eiweiß-Molekül seine Funktion als Werkzeug.
Bei manchen "Protein-Rohlingen" läuft diese Faltung spontan ab. Doch viele, vor allem große und komplex gebaute Eiweiße bedürfen besonderer Faltungshelfer, um "in Form" zu kommen. Diese Helfer, ebenfalls Proteine, nennt man Chaperone – gemäß dem englischen chaperon, das eine Anstandsdame oder Gouvernante bezeichnet.
Von der Arbeit dieser Chaperone hängt viel ab. Denn falsch gefaltete Proteine können ihre angestammten Funktionen nicht erfüllen, können sich mit anderen unfertigen Eiweiß-Fäden verknäueln und zu Klumpen verfilzen. Eine ganze Reihe chronisch-unheilbarer Leiden beruht auf solchen Fehlfaltungsreaktionen: so etwa Mukoviszidose, die Alzheimer-Krankheit oder Chorea-Huntington, im Volksmund "Veitstanz" genannt.
Vor diesem Hintergrund, also auch in ihrer möglichen Bedeutung für die Medizin, sind die Forschungen zur Funktion von Chaperonen zu sehen, die an der von Prof. Franz-Ulrich Hartl geleiteten Abteilung des Martinsrieder Max-Planck-Instituts für Biochemie laufen – und die inzwischen erste Einblicke in die molekularen Mechanismen der Proteinfaltung geliefert haben.
So konnten Hartl und seine Mitarbeiter schon vor einigen Jahren die grundsätzliche Arbeitsweise eines Chaperons aufdecken. Sie hatten dabei das sogenannte "GroEL"-Chaperon von Escherichia coli-Bakterien unter die Lupe genommen – einen großen, aus mehreren Untereinheiten gefügten Proteinkomplex, der als zylindrischer Mantel um einen Hohlraum liegt. In diesen Hohlraum, so fanden die Martinsrieder Forscher, wird jeweils ein einzelnes, noch ungefaltetes Protein "eingesogen" und über besondere Haftstellen an der Innenwand des Zylinders fixiert. Dann wird die Öffnung des Hohlraums durch ein weiteres Eiweiß, den Chaperon-Kofaktor "GroES", wie mit einem Deckel verschlossen. Das derart in "Einzelhaft" genommene Protein löst sich daraufhin von der Innenwand des Chaperons ab und kann sich, abgeschirmt von störenden Einflüssen seitens anderer, noch unfertiger Proteine, in aller Ruhe in seine Endstruktur falten. Anknüpfend an diese ersten Befunde konnten Hartl und seine Mitarbeiter jetzt einen weiteren Erfolg verbuchen und am 11. November 1999 in Nature veröffentlichen.
Es gelang ihnen, bildlich ausgedrückt, in den gefüllten "Reaktionstopf" des GroEL-Chaperons zu gucken: Sie konnten GroEL-Komplexe mit daran haftenden Eiweiß-Ketten isolieren und analysieren – also Chaperone gewissermaßen auf frischer Tat ertappen. Dabei stellte sich heraus, daß das GroEL-Chaperon nur etwa 300 von den insgesamt mehr als 4000 funktionellen Proteinen des Coli-Bakteriums "verarbeitet" – daß es also nur bestimmte Eiweiß-Moleküle unter seine Fittiche nimmt.
Diese Auswahl, und das war überraschend, richtete sich nicht nach der Funktion der Proteine. Vielmehr bevorzugte das GroEL-Chaperon Proteine, die sich durch ähnliche Faltungsmuster auszeichneten. Dazu muß man wissen, daß Proteine ungeachtet aller Spezifität in strukturellen Details jeweils aus größeren Faltungseinheiten bestehen, sogenannten Domänen. Und für diese Domänen gibt es nur eine begrenzte Zahl von grundsätzlichen Faltungsmöglichkeiten – weshalb man Proteine in Klassen einteilen kann, die sich jeweils durch eine ähnliche Grundarchitektur auszeichnen.
Nach diesen Grundmustern, dafür sprechen die Befunde der Martinsrieder Wissenschaftler, wählen die molekularen Gouvernanten ihre "Protein-Zöglinge". Dafür spricht weiter, daß die Bindungsflächen an den Innenwänden des GroEL-Chaperons ebenfalls ein bestimmtes Faltungsmuster aufweisen, das mit dem seiner Protein-Werkstücke korrespondiert.
Ob diese Hypothese stimmt, ob also Chaperone eine "Faltspezifität" aufweisen und danach ihre Klientel wählen, soll jetzt experimentell geprüft werden. Sollte sich der Verdacht bestätigen, könnte das für die Biotechnik wichtig werden. Denn wenn man Bakterien als Synthese-Maschinen für medizinisch interessante Proteine heranzieht, genügt es nicht, ihnen das entsprechende Gen einzupflanzen: Das Bakterium muß auch über ein Chaperon verfügen, das in der Lage ist, den Eiweiß-Faden korrekt zu falten. Und so wird auch die Frage, ob man die Chaperon-Maschinerie eines Bakteriums an diejenige höherer Zellen anpassen kann, zu den künftigen Themen am Martinsrieder Max-Planck-Institut gehören.
Siehe auch
- Spektrum Ticker vom 14.5.1999
"Molekulare Chiropraktiker"
(nur für Ticker-Abonnenten zugänglich) - Spektrum der Wissenschaft 4/95, Seite 16
"Chaperonin-60: ein Faß mit Fenstern"
(nur für Heft-Abonnenten online zugänglich)
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